Der Nihilist

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Der Nihilist
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Elena Landauer

Der Nihilist

Ein Bericht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

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Impressum neobooks

Vorwort

Im Frühjahr 2001 meldete sich in meiner Praxis ein 59jähriger Mann und fragte, ob ich Zeit für ihn hätte. Ich fragte zurück, was sein Anliegen sei. Er wolle reden, sagte er. Ich gab ihm einen Termin für ein Erstgespräch.

Er erschien pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt. Er war ein groß gewachsener, sportlich schlanker Mann, der unter Berücksichtigung seines fortgeschrittenen Alters attraktiv aussah. Man konnte vermuten, dass er in jüngeren Jahren auf Frauen Eindruck gemacht hatte. Ich fragte ihn, wie ich ihm helfen könne. Er fragte zurück, ob ich bereit sei zuzuhören. Ich bin es gewohnt, dass meine Patienten mit ihrem Problem herausplatzen, mit ihrer Klaustrophobie, ihren Schwierigkeiten in der Partnerschaft, ihrer Entscheidungsunfähigkeit oder was auch immer. Sein entschiedener Wille, nichts dergleichen zu nennen, reizte mich. Ich wollte ihn ein wenig provozieren und sagte, ich wäre bereit, ihm zuzuhören, wenn er bereit wäre, gut zu zahlen. Das war für ihn kein Problem.

Er sagte, er habe viel zu erzählen, er wolle sein Leben auskotzen und es im Grab eines professionellen Zuhörers versenken. Hilfe erwarte er nicht. Ich nahm ihn als Patienten an. Die Gespräche fanden einmal wöchentlich statt und zogen sich über ein halbes Jahr hin. Es herrschte durchweg eine entspannte Atmosphäre. Es waren eher freundschaftliche Unterhaltungen als Therapiesitzungen.

Ich fragte ihn, ob ich ein Band mitlaufen lassen und mir Notizen machen dürfe. Er hatte keine Einwände. Gegen Ende unserer Begegnungen im Herbst 2001 fragte ich ihn, ob ich bei Veröffentlichungen auch auf seinen Fall Bezug nehmen könne, natürlich unter Abänderung der Namen und Örtlichkeiten. Er sagte, ich könne sein ganzes Leben veröffentlichen, wenn ich es für mitteilenswert hielte, allerdings erst posthum. Es sei ihm sogar ein Trost, in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift als Fall weiterexistieren zu können.

Er, ich nenne ihn Bertold, starb im Sommer 2007 durch Selbstmord. Er schoss sich in die Schläfe. Obwohl aus seinem Abschiedsbrief das Motiv klar hervorging - bei Bertold war Alzheimer diagnostiziert worden -, stellte die Polizei doch Nachforschungen an und kam so auf mich.

Bertolds Lebensgeschichte ist für mich ein Zeitdokument. Sie zeigt die Probleme von Menschen, die keine moralischen Normen außer den selbstgesetzten gelten lassen. Bei aller Sympathie für Bertold will ich sein Leben nicht glorifizieren noch will ich sein Verhalten verurteilen. Ich enthalte mich einer Wertung. Ich gebe nur möglichst genau wieder, was er mir erzählt hat, mit den Schwerpunkten, die er gesetzt, und mit den Wertungen, die er vorgenommen hat.

Elena Landauer

1

„Ich bin Nihilist“, waren die ersten Worte Bertolds nach der Begrüßung. Er sage dies, begründete er, um mich zu warnen. Falls ich also Angst um meinen Seelenfrieden hätte, könne ich auch die Therapie verweigern. Ich sagte ihm, Nihilisten seien mir immer noch lieber als Mörder, und auch die säßen mir gelegentlich gegenüber. Nein, Mörder sei er nicht, beruhigte mich Bertold, jedenfalls nicht im juristischen Sinne. Er könne wortwörtlich sogar keiner Fliege was zuleide tun und öffne das Fenster, wenn eine vergeblich versuche durch die Scheibe ins Freie zu kommen. Um so weniger könne er einen Menschen leiden sehen, und wenn er Tierfilme anschaue, was er gerne tue, schalte er schnell um, wenn ein Raubtier sich über seine Beute hermache. Er sei also ausgesprochen sentimental, was wahrscheinlich ein kümmerliches Relikt seiner religiösen Erziehung sei.

Das aber bedeute nicht, dass er nicht doch alles für sinnlos halte. Immer wenn er höre, dass irgendetwas von ewigem Wert sei, sträubten sich ihm die Haare, egal ob es um Goethes Faust oder Mozarts Kleine Nachtmusik gehe, oder, was noch lächerlicher sei, um einen Geschwindigkeitsweltrekord, der doch einige Zeit später sowieso übertroffen werde, oder gar um ein Fußballtor, das manche Reporter sich nicht scheuten als ein Tor für die Ewigkeit zu bezeichnen, an das sich aber drei Monate später kaum noch jemand erinnern könne, und das alles, wo doch Astronomen inzwischen recht genau vorhersagen könnten, wann die Erde von der Sonne verschluckt und alles Leben vernichtet werde, sogar das der Insekten, woraufhin dann definitiv sich niemand mehr an ein schönes Tor und noch nicht einmal an Goethe und Mozart erinnern werde. Aber wahrscheinlich müsse man gar nicht so lange warten, bis die Sonne alles in heißer Glut verschlungen habe. Wahrscheinlicher sei, dass irgendein riesiger Meteorit, von dessen Existenz wir noch gar nichts wüssten, weil er Lichtjahre entfernt sei, sich mit an Lichtgeschwindigkeit grenzender Eile der Erde nähere und sie zertrümmere, oder dass ein Vulkanausbruch wie in der Vergangenheit die Erde in schwarze Wolken hülle, unter der alles Leben zugrunde gehe, mal abgesehen davon, dass die Menschen vielleicht vorher schon selbst die Erde unbewohnbar gemacht hätten. Es sei eben alles vergänglich und nichts ewig außer den Gesetzen der Mathematik, von denen aber niemand leben könne. Und selbst, wenn man den Blick nicht so weit schweifen lasse und nur ein paar Jahrzehnte ins Auge fasse, sei die Vergeblichkeit allen Bemühens unübersehbar. Da rackere sich einer sein Leben lang ab oder zeige Mut, Tapferkeit und Nächstenliebe; der Tod aber überantworte ihn trotzdem dem Vergessen. Da kümmerten sich Eltern liebevoll um ihre Kinder, die wenige Jahre später nur auf das Erbe schielten und sich gegenseitig mit Prozessen überzögen, und kaum habe eine schöne Frau die Blüte ihrer Jahre erreicht, zeigten sich schon die ersten Falten und wenige Jahre später schleppe sie sich als krumme Alte durch die Straßen, wenn sie sich nicht schon vorher umbringe.

Vielleicht hatte Berthold gedacht, ich würde mich auf eine Diskussion über seine nihilistische Weltanschauung einlassen und den Versuch machen, ihm das Leben als sinnvoll darzustellen. Es hätte ihm sicher Spaß gemacht, mir zu beweisen, dass ich mit diesem Versuch bei ihm scheitern würde. Mich interessierte an seiner Tirade aber nur, warum er das Bedürfnis hatte, sie mir sozusagen ins Gesicht zu klatschen. Welchen Schmerz und welches Schuldgefühl übererdeckte er mit seiner langen Rede? Ich nutzte sein momentanes Schweigen, ihn zu fragen, wer sich denn umgebracht habe. Bertold schaute mich einen Moment verblüfft an und erzählte dann von seiner Freundin Mona, deren Selbstmord ihn geschockt habe, und von seinen Schuldgefühlen. Warum hatte er nicht die Zeichen der Verzweiflung in ihrem Verhalten erkannt? Natürlich hatte er gewusst, dass sie litt, obwohl sie es zu verstecken versuchte. Sie litt darunter, dass er nur verliebt war in sie, sie aber ihrer Meinung nach nicht liebte. Liebe bedeute abhängig werden, und er sei nicht abhängig gewesen, jedenfalls nicht, solange sie gelebt habe. Jetzt, wo sie nicht mehr lebte, wo sie sich sogar seinetwegen umgebracht habe, war er maßlos traurig. Er trauerte mehr, als sie sich hätte vorstellen können. Er fühlte sich allein gelassen. Schließlich war sie seine beste und einzige Freundin gewesen, eine kluge, stolze und schöne Frau, die ihn liebte, wie er war. Er war gerne mit ihr zusammen gewesen, seit sie vor fünf Jahren zu Hause ausgezogen war und sich eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel genommen hatte. Sie waren regelmäßig zusammen essen gegangen, hatten nächtelang diskutiert, sie waren zusammen ins Kino, in die Oper, ins Theater gegangen, sie hatten zusammen Freunde besucht, sie waren auch meist zusammen in Urlaub gefahren.

Treu war er nicht gewesen. Das war auch nicht vereinbart. Sie ließen einander jede Freiheit. Er hatte seine Affären: Schauspielerinnen, Studentinnen, Verkäuferinnen und so weiter. Sie hatte ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht. Beklagt hatte sie sich lediglich darüber, dass er mit ihr nicht die „Schweinereien“ - sie nannte es tatsächlich so - machte, die sie ihm bei anderen Frauen unterstellte. Zwar war es für ihn immer von besonderem Reiz gewesen, eine Frau zum Objekt seiner sexuellen Lust zu machen, bei ihr aber tat er es nicht. Er versuchte immer so etwas wie Förmlichkeit in ihrer Beziehung zu wahren, nicht zuletzt aus Selbstschutz. Er war immer in Gefahr, sich an diese Frau zu verlieren.

Dass seine Affären meist deutlich jünger waren als sie, nahm sie als natürlichen Vorzug der Jugend hin. Ihm vorzuhalten, dass er sich an jüngeren Frauen vergreife, weil er sich an erfahrenere Frauen nicht herantraue, kam ihr nicht in den Sinn. Sie war zu klug, um an diesen albernen Vorhalt älterer Frauen zu glauben. Sie wusste, dass ältere Frauen ihm nachliefen und dass er um die jüngeren Frauen, die sich ihrer Attraktivität bewusst waren, eher kämpfen musste, je mehr er in die Jahre kam.

 

Von ihrem Selbstmord war er überrascht. Selbstmord war eigentlich zu pathetisch für sie, die alles Pathetische hasste. In den Worten ihres Abschiedsbriefes erkannte er aber eine gestische Angewohnheit, die sie in der letzten Zeit gekennzeichnet hatte: ein plötzliches Emporreißen des Kopfes, wenn sie nach und nach in sich zusammengesunken war oder leicht gebeugt daherkam. Dann leuchtete er wieder auf, der Stolz in ihrer Haltung und ihrem Blick. Nach außen hin hatte sie bis zuletzt funktioniert. Ihre schulischen Verpflichtungen als Oberstudienrätin für Deutsch und Kunst hatte sie mit Leichtigkeit erledigt. Offenbar war sie sehr beliebt gewesen. Seit Jahren war sie Vertrauenslehrerin an ihrer Schule. In den Abibüchern, die doch manchmal von Gehässigkeiten strotzten, wurde ihr immer ein liebevolles und anerkennendes Abschiedslied gesungen.

Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Es war auf einer Vernissage in Ottensen. Die Galeristin hatte ihn eingeladen. Die Ausstellung war nicht weit von seinem Haus entfernt, so ging er hin. Der Künstler, der da präsentiert wurde, beantwortete Fragen, die ihm gestellt oder auch nicht gestellt wurden. Er litt unter verbaler Diarrhö; so sahen auch seine großformatigen Bilder aus: Als hätte er sein Mittagessen hingekotzt oder auf andere Art ausgeschieden. Anorganisches und Organisches durcheinander gerührt unter dem Obertitel „The day after“. Sollte es wirklich so aussehen an diesem Tag, war es besser, ihn nicht zu erleben. Schockierend oder gar aufrüttelnd fand Bertold die Bilder aber nicht, nur hässlich und unappetitlich. Wahrscheinlich fehlte dem Künstler die Fähigkeit, den „Day before“ zu malen. Trotzdem tat Bertold so, als wolle er die Botschaft der Bilder verstehen, näherte sich ihnen auf Riechweite und ging dann zurück, um vielleicht doch etwas zu erkennen. Es war nichts zu erkennen außer Kotze.

Da stieß er sie an, als er einen zu schnellen Rückwärtsschritt machte. Er entschuldigte sich. Es war aber nichts passiert. Sie hielt das Sektglas noch in der Hand, ihr himmelblaues Kleid hatte offenbar nichts abbekommen und es gab keine Pfütze auf dem Boden.

„Haben Sie die Botschaft verstanden? Sie geben sich ja sichtbar Mühe,“ fragte sie.

„Vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin etwas begriffsstutzig.“

„Was ich Ihnen sagen könnte, würde Sie nur enttäuschen.“

„Und das wäre.“

„The day after.“

„Es sieht nicht schön aus.“

„Darauf soll es ja nicht ankommen.“

„Bevor wir uns weiter in die Geheimnisse der modernen Kunst vertiefen – darf ich mich vorstellen?“

„Nicht nötig, Sie sind mir bekannt. Ich habe Sie in Ihrer Rolle als Präsident in „Kabale und Liebe“ gesehen. Ich bin Mona Mehrkens. Aber wollen Sie nicht auch ein Glas Sekt trinken? Sie haben es sich doch nach Ihren intensiven Studien verdient.“

Er nahm sich ein Glas vom Tisch. Sie folgte ihm. Man prostete sich zu und nahm auf einem der Sofas Platz.

„Was führt Sie hierher?“

„Ich bin mit der Galeristin befreundet. Und Sie?“, fragte sie.

„Ich bin eingeladen.“

„Sie werden sicher des Öfteren eingeladen.“

„Nun ja.“

„Gehen Sie immer hin, wenn Sie eingeladen werden?“

„Unser Gespräch entwickelt sich zu einem Verhör.“

„Das war meine Absicht, als ich mich hinter sie gestellt habe, um von Ihnen angerempelt zu werden.“

Die Frechheit imponierte ihm.

„Und was machen Sie, wenn Sie mal nicht im Weg stehen?“

„Jetzt soll also das Verhör in die entgegengesetzte Richtung laufen? Ich unterrichte an einem Gymnasium Deutsch und Kunst.“

„Dann sind Sie also vom Fach und können mir sicher etwas über diese Kunstwerke hier sagen.“

„Ich finde sie ekelhaft und in der Aussage so plump und banal, dass es schon peinlich ist.“

„Wenn Sie das als Fachfrau sagen, dann freue ich mich über mein eigenes Urteil. Wussten Sie, was Sie hier erwartet?“

„Nein, dann wäre ich nicht gekommen, und das wäre natürlich schade.“

„Wieso?“

„Sie sind ganz schön eitel. Was soll ich wohl darauf sagen?“

„Dasselbe wie ich. Man geht hin auf gut Glück, vielleicht gibt es ja was Interessantes zu sehen und vielleicht lernt man auch einen interessanten Menschen kennen.“

„Darum gehen Sie also auf Vernissagen?“

„Natürlich auch wegen des Sekts und der Appetithäppchen. Und man lernt dabei immer wieder schöne und kluge Frauen kennen.“

„Danke für das Kompliment. Ist Kommissar Brandsen Ihr alter Ego?“

„Sie kennen meine Krimis?“

„Einige. Ihre Rolle als Präsident hätte mich nicht dazu verleitet, mich Ihnen in den Weg zu stellen.

Der Schriftsteller interessiert mich mehr. Also, ist Brandsen Ihr alter Ego?“

Susi, die Galeristin, kam hinzu, machte einige freundliche und anzügliche Bemerkungen, wobei sie nicht vergaß zu erwähnen, dass Mona glücklich verheiratet und Bertold ein notorischer Verführer sei, fragte nach, was sie von den ausgestellten Kunstwerken hielten, woraufhin ihr bestätigt wurde, dass sie bemerkenswert seien, und beendete das traute Zwiegespräch, weil sie die beiden unbedingt einigen weiteren Personen vorstellen musste.

Aber man traf sich wieder. „Ich würde gerne mal in Ruhe mit Ihnen einen Kaffee trinken, sagte sie im Vorbeigehen.“ Drei Tage später rief er sie an.

Jetzt war sie tot. Warum konnte er sich nicht verlieben, richtig verlieben? Den Boden unter den Füßen verlieren? Haus und Hof und alles andere, was er hatte und nicht hatte, dieser Frau zu Füßen werfen? Als die Schuldgefühle und die Trauer ihm den Magen zuschnürten, hatte er sich im Telefonbuch eine Psychotherapeutin gesucht, mich. Er wollte einfach nur erzählen. Befreiung von den Schuldgefühlen erhoffte er sich angeblich nicht.

2

Bertold war in einem sehr kleinen und sehr katholischen Dorf im Rheinland aufgewachsen. An seine Kindheit konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern. Sie fiel in die Nachkriegszeit und war von Armut bestimmt. Hauptziel seiner Eltern war, die Familie satt zu bekommen. Er hatte vier Schwestern, zwei ältere und zwei jüngere. Sein Vater hatte die beiden älteren Schwestern mit in die Ehe gebracht. Deren Mutter war bei der Geburt ihres dritten Kindes zusammen mit diesem gestorben. Als Bertold zehn war, bekam er noch einen kleinen Bruder, der allerdings nur ein halbes Jahr lebte. Woran er gestorben war, wusste Bertold nicht. Er erinnerte sich aber genau an die zwiespältigen Gefühle, die er bei der Beerdigung hatte: Einerseits war es traurig, als der kleine weiße Sarg mit seinem Bruder aus dem Haus getragen wurde, andererseits war Bertold auch erleichtert, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte. Denn der Kleine hatte seiner Mutter nicht nur viel Arbeit und Sorgen gemacht, er hatte auch dauernd geschrien. Das Schlimmste aber war, dass seine Mutter ihn Kunibert genannt hatte. So hieß doch keiner im Dorf, außer einem der Dorfdeppen, der zwar offensichtlich fromm war, weil er jeden Sonntag mit schief gelegtem Kopf durch die Kirche zur Kommunion eilte, ansonsten aber ein Depp war. Damit war der Name eine Schande für die Familie, jedenfalls für Bertold, dessen Freunde ihn wegen des Namens seines Bruders aufzogen. Außerdem wohnten im Haus noch seine Oma, die Mutter seiner Mutter, die unter Rheuma litt und, solange er denken konnte, immer in ihrem Zimmer in einem Sessel gesessen hatte, und eine Schwester seiner Oma, Tante Berta, die seit einem Unfall geistesgestört war und alljährlich mindestens einen Selbstmordversuch unternahm, für den sie sich nachher entschuldigte.

Wenn Bertold fünfzig Jahre später an seine Kindheit zurückdachte, kam es ihm vor, als sei er im Mittelalter aufgewachsen. Wenn er einen Film sah, der in alter Zeit auf dem Land spielte, stellte er fest, dass alles fast genau so aussah wie in seiner Kindheit. Die Atmosphäre und die Lebensumstände seiner Kindheit unterschieden sich kaum von den Verhältnissen fünfzig oder fünfhundert Jahre vorher, waren mit den Verhältnissen fünfzig Jahre später aber kaum zu vergleichen. Zwar gab es in seiner Kindheit elektrisches Licht, es gab einige Traktoren und zwei Autos im Dorf, der Rest aber war mittelalterlich. Die Dorfstraßen waren nicht asphaltiert, einige hatten Kopfsteinpflaster, die übrigen waren Schotterstraßen. Die alten Fachwerkhäuser waren so krumm, wie sie vor Jahrhunderten gebaut worden waren. Nur die Kirche und ein paar Häuser oberhalb des Dorfes waren neueren Datums und aus massivem Stein. Vor nahezu jedem Haus war ein Misthaufen mit einer Jauchegrube daneben. Die Jauche wurde im Herbst auf die Felder gebracht. Wenn die Grube vorher voll war, wurde die Jauche auf die Straße gekippt. Sie lief dann durch das Dorf hinunter zum Fluss. Wer keinen Streit mit den Nachbarn haben wollte, leerte die Grube bei Regen. Wenn jemand aber diese Gelegenheit verpasst hatte oder wenn es lange Zeit nicht geregnet hatte, lief die Jauche auch an sonnigen Tagen durch die Straßen und verbreitete, passend zur mittelalterlichen Architektur, mittelalterliches Aroma. Filme, die im Dreißigjährigen Krieg spielten, hätte man ohne künstliche Kulissen im Dorf drehen können.

Und jährlich kam der Fluss, meist im späten Winter zur Zeit der Schneeschmelze, aber auch schon mal im Herbst, wenn es stark regnete, und auch schon mal im Winter, wenn es starken Frost gegeben hatte und der Fluss zugefroren war und sich danach bei Tauwetter die Eisschollen an den Flussengen verkeilten und das Wasser aufstauten. Dann blieb kaum Zeit, Hab und Gut zu retten; sonst ging es ganz langsam, aber unaufhörlich. Das Wasser stieg zehn oder zwanzig Zentimeter die Stunde, aber das tat es ein, zwei oder drei Tage lang. Die Kinder standen in ihren grünen Stiefeln in den Dorfstraßen, markierten den jeweiligen Wasserstand mit Steinen und holten sie wieder aus dem Wasser, um den neuen Wasserstand zu markieren. Die Erwachsenen standen dahinter, schüttelten die Köpfe, erzählten von früheren Überschwemmungen und stellten ihre Mutmaßungen darüber an, wie weit das Wasser diesmal steigen würde. Man war es gewohnt, man nahm es ebenso gefasst wie hilflos. Man schützte, was zu schützen war. In den Kellern wurden die Weinfässer gegen die Kellerdecke abgestützt, damit sie nicht im Keller herumtreiben konnten. Die Lebensmittel, die im Keller gelagert waren, vor allem die Kartoffeln, wurden nach oben oder zu höher wohnenden Verwandten gebracht, ebenso alles, was so herumstand.

Die Keller liefen schon voll, bevor das Wasser die Häuser erreicht hatte. Es sickerte durch die mit Bruchstein gebauten Kellerwände. Es hatte seinen eigenen unterirdischen Weg. Man wusste, wie dieser Weg verlief. Wenn es Bauer A im Keller hatte, wusste Bauer B, dass ihm noch drei oder fünf Stunden blieben, bis das Wasser bei ihm war, und Bauer C konnte auch schon mit dem Aufräumen beginnen.

Aber das Wasser stieg weiter. Es erreichte die ersten Häuser des Dorfes. Sich dagegen mit Sandsäcken zu schützen, war sinnlos, denn das Wasser kam ja von unten aus dem bereits überfluteten Keller. Also zog man um in den ersten Stock, wo dann das Mobiliar zwischen den Betten herumstand. Wenn der Fluss besonders gnadenlos war, reichte das nicht, denn er erreichte in den tiefer gelegenen Häusern auch den ersten Stock. Dann mussten die Betroffenen mit Booten aus ihren Häusern gerettet werden.

Bertolds Elternhaus war das fünfte vom Fluss aus gesehen. Nur alle paar Jahre leckte der Fluss an der Haustür. Der Keller lief aber so gut wie immer voll, oft mehrmals im Jahr. Ein paarmal aber kam der Fluss auch ins Haus. Dann musste auch seine Familie nach oben ziehen. Bertold erinnerte sich, wie er auf der Treppe zum ersten Stock saß und im Wohnzimmer angelte. Es biss aber keiner an. Die Haustür war verschlossen.

Nach der Flut waren die unteren Räume lange Zeit nicht bewohnbar. Als erster Raum wurde die Küche wieder benutzt. Dort brannte dann ständig Feuer im Herd. Wenn das Wetter gut war, wurden alle Fenster und Türen geöffnet, um die Feuchtigkeit aus dem dicken Bruchsteinmauerwerk der Erdgeschossräume herauszubekommen. Neu tapeziert wurde nicht vor Mai, weil die Tapeten vorher von den feuchten Wänden heruntergefallen wären.

Trotzdem wünschte sich Bertold oft, dass die Flut noch höher steigen möge, ebenso wie er sich bei Schneefall wünschte, es möge nicht aufhören zu schneien. Er bewunderte die ungeheure Kraft und Willkür der Natur und war immer etwas enttäuscht, wenn Flut oder Schneefall nachließen.

 

In den Häusern wurde im Winter nur ein Zimmer beheizt, die „klaa Stuff“, die kleine Stube, zunächst mit einem Holz-, später einem Ölofen. Natürlich war auch die Küche meist warm, wenn dort das Feuer im Herd brannte. Die anderen Zimmer blieben kalt, sowohl die Schlafzimmer, auf deren Scheiben sich morgens, an sehr kalten Tag auch mittags, Eisblumen bildeten, als auch die „good Stuff“, die gute Stube, die nur an Weihnachten und Ostern und, wenn Besuch kam, was fast nur an Weihnachten und Ostern der Fall war, beheizt wurde.

Alle Leute im Dorf waren gleich gekleidet: Die Männer trugen werktags immer einen Blaumann und einen Hut oder eine Mütze, die Frauen lange Röcke und eine Kittelschürze, die Jungen kurze Lederhosen, im Winter darunter Wollstrümpfe, die Mädchen glockige Kleider, die von den älteren an die jüngeren Schwestern weitergegeben wurden. Am Sonntag wurde die Sonntagskleidung angelegt. Die Mädchen trugen bunte Kleider, die kleinen Jungen kurze Stoffhosen, nach der Erstkomunion den Komunionsanzug, der vom örtlichen Schneider immer so großzügig geschnitten wurde, dass er nach Möglichkeit zwei Jahre getragen werden konnte, die Frauen trugen dunkle Kleider, die Männer ihren Hochzeitsanzug, der vielen dreißig Jahre und mehr diente.

Geld gab es kaum. Alle Familien waren weitgehend autark. Die Bauern hatten Kühe für die Feldarbeit, die Milch und die Butter, Schweine für das Fleisch und die Wurst, Hühner für die Eier. In den kleinen Gärten wurde Gemüse angebaut, Obst kam von den Kirsch-, Pflaumen-, Apfel- und Birnbäumen, Getreide von den Feldern, das in der Mühle gegen einen Sack Getreide gemahlen wurde, Dünger lieferte der Misthaufen. Die Betten wurden mit Stroh gestopft. Das Brot backten die Dorfbewohner selbst im Gemeindebackhaus mit ihrem eigenen Mehl. Geld brauchte man nur für Kleidung, Schuhe, Salz, Zucker, Pfeffer und Hefe, Handwerkerrechnungen, Jungschweine und Kunstdünger. Geld kam ab und zu ins Haus, wenn Wein oder ein Stück Vieh verkauft wurde.

Bücher gab es nicht in Bertolds Familie, auch kein Radio und natürlich auch kein Fernsehen, will sagen: Es gab keine mediale Unterhaltung außer dem Bistumsblatt; die Tageszeitung wurde als zu teuer betrachtet. Alles, was man wissen musste, erfuhren die Männer auf der Gemeindeversammlung am Sonntag nach dem Hochamt, die Frauen beim Tratsch mit den Nachbarinnen. Natürlich gab es die Gebetbücher, die Schulbücher, die Heiligenlegende der Oma, aus der ihr jeden Tag die Geschichte des Tagesheiligen vorgelesen wurde, und das Gesundheitsbuch, das Bertold eines Tages tief versteckt im Wäscheschrank fand, als er nach Weihnachtsgebäck suchte. Warum dieses Buch versteckt wurde, war ihm bald klar, als er darin herumblätterte und Beschreibungen und Bilder des Geburtsvorgangs entdeckte. Ein Radio gab es 1954 zur Fußballweltmeisterschaft, ein Jahr bevor Bertold ins Internat ging, den Fernseher erst Anfang der 70er, als seine Eltern schon lange allein wohnten. Als Erwachsener konnte Bertold sich nicht mehr daran erinnern, wie er denn ohne alle Unterhaltungsmedien seine lange Kindheit verbracht hatte. Natürlich gab es morgens die Schule, nachmittags die Arbeit in den Weinbergen und auf den Feldern; aber was er abends getan hatte, besonders an den langen Winterabenden, wusste er nicht. In einigen Erinnerungsfetzen sah er sich zusammen mit dem Rest der Familie beim Splitten der Weidenruten beschäftigt. Diese Weidenruten wurden im Winter aufgespalten, je nach Dicke in zwei oder drei Teile, damit sie im Februar für das Aufbinden der Weinstöcke verwendet werden konnten. Oder er sah sich am Tisch in der kleinen Stube sitzen und Hausaufgaben machen, oder mit seinen Schwestern Mikado spielen oder „Ich seh´etwas, was du nicht siehst“. Nach dem Abendessen brauchte seine Mutter den Tisch zum Bügeln. Da wurde eine Wolldecke auf den Tisch gelegt und darauf dann die Wäsche geplättet. Bei der Bettwäsche durften er und seine Schwestern mithelfen. Die Mutter packte das Betttuch an zwei Spitzen, eines der Kinder an den beiden anderen. Dann wurde gezogen, gezerrt und geschüttelt, wobei sich die kleine Stube als so klein erwies, dass man das Betttuch nur spannen konnte, wenn man die Arme bis an den Körper zog oder einer halb ins nächste Zimmer ging.

Manchmal schauten auch ein Nachbar oder eine Nachbarin vorbei. Dann wurden die Dorfneuigkeiten mitgeteilt und kommentiert, wobei die Kinder nur dann das Wort ergreifen durften, wenn sie wirklich etwas mitzuteilen hatten. In seiner Erinnerung war seine Mutter immer tätig gewesen. Wenn die Wäsche gebügelt war, setzte sie sich zwar hin; aber sie stopfte dann Socken oder strickte Strümpfe oder Pullover. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals untätig sitzend gesehen zu haben außer am Sonntagnachmittag. In seiner Kindheit hielt er das für die natürlichste Sache der Welt.

Nachträglich wunderte sich Bertold, wie selbstverständlich sich seine Mutter die Fron ständiger Arbeit auferlegt hatte: Sie stand frühmorgens auf, machte das Feuer an, molk die Kühe, ging dann in die Kirche, machte das Frühstück, ging aufs Feld oder in den Weinberg, kam um elf nach Hause, kochte das Essen, ging wieder aufs Feld oder in den Garten, molk die Kühe, bereitete das Abendessen zu und machte dann ihre Bügel- und Strickarbeiten.

Im Sommer war es anders als an den kalten Wintertagen. Da lebte man draußen bis in den späten Abend. Die Eltern standen vor dem Haus und plauschten mit den Dorfbewohnern, die vorbeikamen oder schauten selbst bei Nachbarn vorbei, die ebenso vor ihrem Haus tätig waren. Bertold spielte Fußball. An freien Nachmittagen wurde auf der Wiese unterhalb des Dorfes gespielt, wenn die Zeit knapp war, dienten die Straßen als Spielplatz. Spielbälle waren Konservenbüchsen, mit Stroh ausgestopfte Kuhmägen und Gummibälle, die fast immer beim ersten Kick kaputt gingen. Als Bertold mit zwölf zu Weihnachten einen richtigen Fußball bekam, war er der einzige in der Nachbarschaft, der so etwas besaß. Er freute sich, dadurch im Mittelpunkt zu stehen, nutzte sein Monopol aber auch aus, um andere seine Arbeit machen zu lassen. Bertolds Vater war ein gutmütiger Mensch und ließ mit sich handeln. Wenn wieder einmal langweilige Arbeit anstand, die sich über den ganzen Nachmittag erstrecken sollte, wie Holz sägen oder Unkraut jäten, ließ sich sein Vater auf eine bestimmte Menge festlegen: Wenn dieser oder jener Holzstapel gesägt oder fünf oder sechs Rübenreihen gejätet waren, durfte Bertold Fußball spielen gehen. Wenn andere Jungen dann helfen wollten, um die vereinbarte Arbeit zu erledigen, damit sie endlich mit dem Lederball Fußball spielen konnten, ließ der Vater ihnen die nötigen Arbeitsgeräte zukommen. Gemeinsam erledigten dann die Jungen in einem Tempo, das der Vater nicht für möglich gehalten hatte, die geforderte Arbeit und verschwanden mit Bertold und dem geliebten Ball auf der Fußballwiese.

Nicht nur die Architektur des Dorfes und die Lebensgewohnheiten der Bewohner, auch die religiösen und moralischen Vorstellungen und das Standesdenken waren wie in früheren Jahrhunderten oder in Südeuropa. Alle Dorfbewohner gingen regelmäßig sonntags zur Kirche, viele auch an Werktagen. Alle Eheleute blieben lebenslang zusammen. Sex vor der Ehe war tabu. Wenn das erste Kind kam, wurde fleißig nachgerechnet, ob die Ehefrau vielleicht schon bei der Hochzeit schwanger war. Die Rollenzuteilung für Jungen und Mädchen, Männer und Frauen wurde streng eingehalten. Die Jungen halfen bei der Feldarbeit, die Mädchen in der Küche. Im Weinberg mussten die Jungen umgraben und Unkraut jäten, die Mädchen die Reben schneiden und binden. Die Jungen sprangen im Sommer in Badehose im Fluss herum, die Mädchen durften nur mit den Füßen ins Wasser, angekleidet. Wenn sie kühn waren, hoben sie dabei den Rock bis zu den Knien. Geheiratet wurde nach Besitzstand: Tausend Stock zu tausend Stock. Heiraten zwischen reich und arm, 2000 Stock und 500 Stock, galten als Mesalliance und wurden entsprechend kommentiert. Heiraten zwischen Katholiken und Protestanten, die gelegentlich durch Kontakte mit evangelischen Dörfern und den beginnenden Tourismus vorkamen, galten als Mischehen. Der Pfarrer führte die Trauung nur durch, wenn der evangelische Teil dem katholischen Zeremoniell zustimmte und versprach, die Kinder katholisch taufen zu lassen und zu erziehen.

Auch Bertolds ältere Schwestern hatten unter den strengen Normen zu leiden. Seine älteste Schwester, die in einem nicht weit entfernten Dorf als Haushaltshilfe arbeitete, hatte auf einer Kirmes einen jungen Mann aus der Kölner Gegend kennen gelernt, der stolzer Besitzer einer 125er DKW war. Mit diesem Motorrad kam er oft an den Wochenenden zu Besuch. Er ließ Bertold auch schon mal auf dem Rücksitz mitfahren und zeigte ihm, dass man damit mehr als hundert Sachen machen konnte. Mit Bertolds Schwester auf dem Sozius fuhr er im Sommerurlaub bis nach Italien.

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