Jeder des anderen Feind

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Jeder des anderen Feind
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adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Richard-Wagner-Platz 1, 04109 Leipzig

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2020

Coverfoto: Collage des Autors

1. Auflage, Oktober 2020

ISBN 978-3-941935-71-6

ISBN 978-3-941935-80-8 (EPUB)

ISBN 978-3-941935-81-5 (MOBI)

Der Familie Klammer gewidmet.

Frieden.

Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern.

Grundgesetz der Bundesrepublik, Artikel 35

Was immer die Folgen eines Krieges sein mögen, in dem jeder des anderen Feind ist, die gleichen Folgen werden auftreten, wenn Menschen in keiner anderen Sicherheit leben als der, die ihr eigener Körper und Verstand ihnen verschafft.

In einem solchen Zustand gibt es keinen Fleiß, denn seine Früchte werden ungewiss sein, keine Bebauung des Bodens, keine Schifffahrt, keinerlei Einfuhr von überseeischen Gütern, kein behagliches Heim, keine Fahrzeuge zur Beförderung von schweren Gütern, keine geographischen Kenntnisse, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine Gesellschaft.

Stattdessen: Ständige Furcht und die drohende Gefahr eines gewaltsamen Todes. Das Leben der Menschen: einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz.

Thomas Hobbes: Leviathan

Carrington-Ereignis

Am 1. September des Jahres 1859 gegen elf Uhr vormittags befasst sich der britische Amateur-Astronom Richard Carrington in seinem privaten Observatorium gerade mit dem Abzeichnen von Sonnenflecken, als plötzlich zwei gleißende Lichtpunkte auf dem Papier erscheinen. Sie nehmen schnell an Größe und Helligkeit zu und verschmelzen schließlich zu einem einzigen Objekt. Sofort verlässt er den Platz, um seine Entdeckung einem befreundeten Wissenschaftler zu zeigen. Als beide eine Minute später zurückkehren, ist die Erscheinung jedoch bereits wieder verschwunden.

Genau achtzehn Stunden später strahlt der gesamte Nachthimmel der nördlichen Erdhalbkugel von grünen und lilafarbenen Polarlichtern. So hell sind sie, dass Menschen und Gebäude Schatten werfen. In den Rocky Mountains halten zeltende Männer das Licht für den Sonnenaufgang und bereiten sich Stunden zu früh ihr Frühstück zu. Über die Telegrafenleitungen wandern knisternde Sankt-Elms-Feuer. Obwohl die Angestellten sofort den Strom abschalten, bleiben die Leitungen weiter unter Spannung. Aus den Geräten sprühen Funken, die schmerzhafte elektrische Schläge austeilen und stark genug sind, das Papier der Telegrafen in Brand zu setzen.

Die rätselhaften Phänomene dauern eine ganze Woche an, bis sie allmählich schwächer werden. Die letzten Polarlichter werden am 6. September gesichtet.

Da Mitte des 19. Jahrhunderts die Welt noch vergleichsweise wenig technisiert ist, halten sich die Folgen des Ereignisses in Grenzen. Das nach seinem Entdecker benannte Carrington-Event wird zu einer kuriosen Fußnote in den Geschichtsbüchern.

Seitdem werden auf der Erde zahlreiche weitere solare Ausbrüche registriert. 1967 blendet ein Sonnensturm das Raketen-Frühwarnsystem der NATO und löst beinahe den 3. Weltkrieg aus. Während des Vietnamkrieges lässt ein Magnetsturm an der Küste von Hon La Seeminen explodieren, 1989 bricht in Teilen Kanadas die Stromversorgung zusammen und 2003 trifft eine Partikelwolke, dreizehnmal so groß wie die Erde, auf den Planeten, stört den Funkverkehr und führt im schwedischen Malmö zum Zusammenbruch des Stromnetzes.

Keines dieser Ereignisse erreicht jedoch die Stärke des Sturms von 1859.

Außer im Jahr 2012. Mitte Juli lösen sich nacheinander zwei riesige Plasmawolken von der Sonne und vereinigen sich zu einem Supersturm, dessen Magnetfeld um ein Drittel stärker ist als das des Carrington-Events. Er verfehlt die Erdbahn nur um wenige Tage.

Niemand kann sagen, welche Auswirkungen er auf eine ohnehin angespannte Gesellschaft gehabt hätte. Das US-Militär jedenfalls vergleicht sie in einer Studie mit denen eines militärischen Konflikts.

Warum ist dieser Rasende zu dir gekommen? Thomas Hobbes, Leviathan

Prolog
Warten auf die Dunkelheit

Der Himmel vor dem Fenster unseres Schlafzimmers war von einem makellosen Blau. Kein Wolkenschleier zeigte sich. Auf der Bettdecke lag die Sonntagszeitung. In Brasilien raste ein Airbus beim Landeanflug in eine Tankstelle und tötete zweihundert Menschen, in Süd- und Südosteuropa kamen bei einer Hitzewelle Hunderte ums Leben, in Italien wüteten Waldbrände und in England wurde wegen einer Jahrhundertflut der Notstand ausgerufen. Ferne Dramen, die ich zur Kenntnis nahm.

Penny und ich hatten gerade einen harmlosen Streit über die Folgen des Klimawandels und die Verantwortung der Politik beendet, als das Telefon klingelte. Penny ging ran. Ich angelte nach einer Brötchenhälfte und bestrich sie mit Butter.

Warum ich aufblickte, weiß ich nicht mehr. Hatte ich eine Bemerkung gemacht, ohne dass meine Frau darauf antwortete? War es die plötzliche Stille?

Pennys Hand krampfte sich um den Telefonhörer. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor.

»Maja …«

Ich verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust, als sie den Namen unserer Tochter flüsterte; ein Gefühl der Besorgnis, das sich zu aufschießender Angst steigerte.

Es kostete mich eine übermenschliche Willensanstrengung, auf der Stadtautobahn das Geschwindigkeitslimit einzuhalten. Die Fahrt zur Spielhalle, wo Maja an den Wochenenden arbeitete, schien nicht enden zu wollen. Als wir endlich dort waren, stritt ich mich mit dem Polizisten an der Absperrung, um durchgelassen zu werden, während Penny nah an einem Nervenzusammenbruch war.

Hinter dem Absperrband stand ein Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein Notarztwagen parkte daneben. Die Heckklappe stand offen.

Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl unendlicher Erleichterung, das mich in diesem Augenblick erfasste. Ein Krankenwagen! Ärzte! Dem Himmel sei Dank! Alles würde gut werden!

Die Straßen waren still. Die Morgensonne lachte. Vögel zwitscherten. Schmetterlinge umtanzten eine Baum-Insel auf dem Parkplatz. Dann öffnete sich die Tür und sie fuhren die Trage mit der verhüllten Gestalt heraus. Der Reißverschluss war zugezogen, und einen Augenblick konnte ich mich der Illusion hingeben, es wäre nicht unsere Tochter, die dort lag, nicht Maja, sondern jemand anderes, ein fremder Mensch, mit dem mich nichts verband.

Jemand trat an mich heran und redete auf mich ein.

Die Worte drangen nicht zu mir durch. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Fahrstuhl stehen, dessen Halteseile gerissen sind und der nun in die Tiefe rast. Als Penny neben mir zu schreien anfing, verkrampfte sich in mir alles – die Fäuste, die Kiefermuskeln, die Eingeweide. Ein fürchterlicher Schmerz wühlte in meinem Brustkorb. Ich biss in meine Hand und presste die Kiefer aufeinander. Statt des Schreis drang nur ein unartikulierter Laut aus meiner Kehle: »Ggggghhhhh …«

Danach war nichts mehr wie vorher.

Penny machte von dem Angebot des Beamten Gebrauch und ging raus, bevor dieser mit den Einzelheiten des Berichtes rausrückte.

Ich wünschte, ich hätte es ihr gleichgetan.

Ich wünschte, ich hätte nie erfahren, was in dieser Nacht passiert war. Was unserer Tochter angetan wurde.

Der Mörder hatte Maja gefesselt und geknebelt, bevor er sich über die Kasse hermachte. Als er fertig war, kehrte er dorthin zurück, wo er unser Mädchen zurückgelassen hatte. Er benutzte alles, was er in die Finger kriegen konnte: einen Besen, einen Hocker, eine herausgetretene Strebe aus dem Treppengeländer, den Feuerlöscher. Im Obduktionsbericht stand, in Majas Gesicht waren Abdrücke von Schuhen zu sehen.

Meine Finger krallten sich um das Papier.

Penny machte Überstunden, um nicht nach Hause zu müssen, wo der leere Esstisch wartete und das Jugendzimmer mit den Postern von den Rockstars an den Wänden, den alten Puppen und Kuscheltieren, mit denen Maja gespielt hatte, als sie noch klein war. Wo die Stille lauerte und das Schweigen und all die schlimmen Erinnerungen.

In den Nächten lag ich wach und lauschte den fernen Geräuschen des Verkehrs und den Atemzügen meiner Frau. Wenn ich mich umdrehte, schaute ich in ihre geöffneten Augen.

Penny hatte nicht gewollt, dass unsere Tochter in Berlin aufwächst. Zu laut, meinte sie, zu gewalttätig, zu gefährlich. Ich hatte ihr widersprochen und mich am Ende durchgesetzt. Maja sollte früh genug das Leben kennenlernen. Beziehungsweise das, was ich für »das Leben« hielt. Die Stadt war laut, ja. Aber sie war auch bunt, aufregend und bot viel Inspiration für einen gerade flügge gewordenen Schriftsteller wie mich. Auf jeden Fall war sie anders als der provinzielle Mief der Kleinstadt, in dem ich aufgewachsen war. Berlin zog Schicksale an wie ein Schwamm, erzählte Geschichten, die nur auf einen Chronisten wie mich warteten. Hier konnte man erfolgreich sein oder aber in Würde scheitern.

 

»Berlin verzeiht alle Fehler«, hatte ein Freund behauptet.

Penny machte mir keine Vorwürfe. Trotzdem glaubte ich, die stumme Anklage in ihren Augen zu lesen.

Wenn ich nicht schlafen konnte, stand ich auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Unter mir entfaltete sich ein architektonischer Alptraum aus Betonklötzen, zwischen denen sich kilometerlange Flüsse aus Asphalt ergossen. Dort draußen lebten Menschen, die miteinander redeten, stritten, sich liebten, träumten. Die nichts von der dünnen Mauer ahnten, die sie vor dem Einbruch völliger Barbarei trennte.

Es gab Zeiten, da hasste ich sie mit einer Verbitterung, die mich erschreckte. Ich hasste ihre satte Zufriedenheit, ihr Glück. Sie konnten schlafen, ich nicht.

Vor Majas Tod schrieb ich Bücher: Gedichte, Märchen, Gute-Nacht-Geschichten für Kinder, die ich ihr vorlas, als sie noch klein war. Nach ihrem Tod konnte ich es nicht mehr. Ich versuchte es, aber es wurden keine guten Geschichten. Das Wenige, was ich zu Papier brachte, war miserabel geschrieben. Ich fand keinen roten Faden, mir fielen keine Happy Ends ein.

Es war, als hätte ich vierzig Jahre meines Lebens im Innern einer Seifenblase zugebracht. Nun war sie zerplatzt. Ich war in der harten Realität angekommen. Irgendwann gab ich das Schreiben auf. Ich packte den Stapel unfertiger Manuskripte in einen Karton und trug ihn runter in den Keller, wo es bis heute liegt und verstaubt.

Vor Majas Tod verschlang ich Kriminalromane. Der ewige Einheitsbrei aus zwei gegensätzlichen Ermittlern machte mir nichts aus. Rätsel-Krimis – ich liebte sie. Die Taten waren ausgeklügelt, die Täter gingen raffiniert vor und hatten immer irgendein besonderes Motiv: Rache, eine Erbschaft, verschmähte Liebe, die Vertuschung von irgendwas. Während ich in der Therapiegruppe für die Angehörigen von Gewaltopfern saß und mir ihre Geschichten anhörte, wurde mir klar: die Meisten trifft es in Wirklichkeit zufällig. Es geht um Nichts, um einen Blick, ein falsches Wort, eine Geste, ein paar Euro. Die Erkenntnis, dass unser Leben nicht unserer Kontrolle unterliegt, sondern der Willkür anderer, traf mich wie ein Faustschlag.

Abend für Abend stemmte ich in meinem Arbeitszimmer Gewichte. Ich lieferte mir zwölf Runden mit einem zusammengerollten Teppich, bis unser Nachbar an die Wand hämmerte und brüllte, ich solle endlich aufhören. Ich schrie zurück, er könne seinen Arsch rüberschieben und es mir ins Gesicht sagen.

Maja war Anfang zwanzig gewesen, in einem Alter, wo du als Vater glaubst, dein Kind hätte das Gröbste hinter sich: die Pubertät, das Rasen mit dem Motorrad, den ersten Liebeskummer, den ersten Alkoholrausch, Kontakt mit Drogen.

Und nun das.

Warum hatte sie auch diesen beschissenen Job annehmen müssen? Warum die Nachtschichten? Was hatten wir bloß falsch gemacht? Maja behauptete, sie hätte nachts ihre Ruhe. Könnte lernen und nebenbei Geld verdienen. Hätten wir ihr mehr Geld fürs Studium geben müssen? An welcher Stelle war das Leben umgekippt von etwas, was man plant, zu etwas, was passiert, was über einen hereinbricht wie eine Naturkatastrophe?

Es waren unfruchtbare Fragen. Es war zu viel für einen Menschen, erst recht zu viel für zwei. Dieser Belastung hatte unsere Ehe nicht standgehalten.

Mein Hausarzt verschrieb mir Beruhigungstabletten; ich sollte sie nach Bedarf nehmen. An einem dieser stillen Abende, als ich allein zu Hause saß und der Schmerz und die Verzweiflung unerträglich wurden, schluckte ich sie wie Bonbons.

Als meine Frau von der Arbeit kam, fand sie mich im Flur auf dem Boden sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt, die leere Packung Tabletten daneben.

Penny rief sofort den Rettungswagen.

Ich kam zu mir, als mich zwei Gestalten untergehakt durch das Treppenhaus zum Fahrstuhl führten. Dem Kerl rechts von mir rammte ich den Ellenbogen ins Gesicht. Was ich mit dem anderen machte, weiß ich nicht mehr. Der Boden stürzte auf mich zu, als sie mich losließen.

Irgendwann erwachte ich auf einem Bett, an einen Tropf angeschlossen. Vor dem Fenster war Nacht. Sie hatten mir nicht den Magen ausgepumpt. Sie ließen mich einfach ausschlafen.

Ich schleppte mich zum diensthabenden Arzt und unterschrieb ein Formular, dass ich auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlasse. Erst als ich vor der Haustür nach dem Schlüssel tastete, bemerkte ich die Kanüle, die immer noch in meinem Handrücken steckte.

Eines Tages lud mich ein früherer Arbeitskollege, mit dem ich mich hin und wieder traf, in den Schützenverein ein. Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal, an das Gewicht der Pistole, den Geruch von Öl und Verbrennungsrückständen, den Widerstand des Abzugs und an den Rückschlag danach. Ich fühlte die Energie, die vom Griff der Waffe in meine Arme strömte. Nur widerwillig trennte ich mich von ihr, als die Zeit rum war.

Ich kam auch beim nächsten Mal mit. Und auch beim übernächsten.

An einem dieser Wochenenden trat Milton in mein Leben.

Ich wurde auf ihn aufmerksam durch die Art wie er schoss. Anders als ich, anders als die anderen, feuerte er stets Doppelschüsse ab. Und immer schoss er, sobald er die Waffe in Anschlag gebracht hatte. Es gab kein Zögern, kein langes Aufnehmen des Ziels. Peng-Peng, drang es, gedämpft durch den Gehörschutz, an mein Ohr. Und wieder: Peng-Peng.

Er schoss gut. Er schoss besser als die meisten von uns. Manchmal verdächtigte ich ihn, er platzierte absichtlich einen Treffer daneben, um die übrigen Schützen, mich eingeschlossen, nicht all zu schlecht aussehen zu lassen.

Im Vereinsraum setzte er sich so, dass er den Eingang und jeden, der kam oder ging, sofort im Auge hatte. Bei einem Kaffee kamen wir ins Gespräch.

Er sagte Sätze wie diesen: »Die Menschen, die ihre Schwerter zu Pflugscharen schmiedeten, wurden umgebracht durch Menschen, die das nicht taten.«

Es hätte pathetisch klingen können, doch Milton hatte nichts Pathetisches an sich. Seine Sätze fielen hart wie Knüppelhiebe. Sie trugen eine brutale Wahrheit in sich, die mir bis dahin entgangen war.

In meinem ganzen Leben habe ich keinen Menschen getroffen, der einerseits so ruhig und bestimmt sprach und dessen Augen gleichzeitig immerfort in Bewegung waren. Ständig scannten sie die Umgebung, erfassten Dinge, die mir verborgen blieben. Nie habe ich erlebt, wie sein Blick verträumt in die Ferne ging. Er war wie ein Kundschafter, der sich im Land eines Feindes aufhält, neugierig und gleichzeitig wachsam.

»Die Welt ist am Arsch, Outis«, behauptete er. »Aber das war sie schon immer. In dreieinhalb Jahrtausenden Menschheitsgeschichte herrschten 3250 Jahre Krieg und nur 250 Jahre Frieden.«

Er lachte laut und unbekümmert. An einem entfernten Tisch begannen sich bereits Leute nach uns umzudrehen.

Ich wollte von ihm wissen, ob er schon mal auf einen Menschen geschossen hatte.

»Nein«, erwiderte er.

»Aber du könntest es?«, hakte ich nach.

»Ja«, sagte er, »es ist mehr eine Kopfsache als alles andere. Du musst den Schalter bei dir umlegen können, den Gegner in der Eskalation überholen, rücksichtsloser sein als er.«

Seine grauen Augen sahen mich an und in mich hinein. Einen Augenblick später war der kalte Ausdruck verschwunden und er lächelte wieder warm und gewinnend. Irgendwann erzählte ich ihm von Maja. Er war interessiert, fragte mich geradezu aus: wie ich mich fühlte an dem Tag, als sie gefunden wurde, wollte die Einzelheiten des Obduktionsberichtes wissen, ob ich Fotos vom Tatort gesehen hatte und ob es ein Überwachungsvideo des Mordes gab. Kein anderer Mensch hatte mir zuvor solche Fragen gestellt. Er war nicht befangen wie die Anderen, wenn sie davon hörten und die einen danach behandelten, als ob man aus Glas wäre.

Wir wurden Kameraden und später wurden wir Freunde. Seine unsentimentale Weltsicht faszinierte mich. Er zeigte mir, wie verwundbar ich über all die Jahre hinweg gewesen war. Nie wieder wollte ich dieser Mensch sein. Nie wieder sollte jemand, den ich liebte, sterben oder in Angst leben müssen.

Milton war schlagfertig, selbstbewusst, unkompliziert, optimistisch und konzentriert bei allem, was er anpackte, sei es nun Joggen, Krafttraining, Kampfsport oder eben Schießen. Manchmal fragte ich mich, ob er vielleicht ein Zen-Anhänger war. Er schien selten über vier Wochen hinaus zu planen, lebte in der unmittelbaren Gegenwart.

Milton war einer von der Sorte Mensch, den du dir nie alt, krank, verletzt oder als Opfer vorstellen kannst. Er war einfach nicht der Typ aus den Filmen, von dem du schon nach fünf Minuten weißt, dass er nur ein Statist ist, der die erste Viertelstunde nicht überlebt. Kurz gesagt: Milton war genau der Kerl, den du an deiner Seite wissen willst, wenn es Stress gibt.

Obwohl er wenig von sich erzählte, hatte ich das Gefühl, ihn schon seit Ewigkeiten zu kennen. Später wurde mir klar, warum. Er erinnerte mich an den älteren Jungen aus der Straße, in der ich aufgewachsen war. Er zeigte mir all den Kram, auf den Jungen so abfahren. Wie man Karten spielt, schnitzt, Gürtel aus Stricken flechtet, das Taschenmesser so wirft, dass es mit der Spitze im Boden steckenbleibt und noch ’ne Menge anderes Zeug, was man prima fürs Leben gebrauchen konnte.

Milton hatte mich nie zu sich nach Hause eingeladen. Ich wusste nicht mal, wo er wohnte. Von seiner Vergangenheit erzählte er nichts, und ich stellte ihm keine Fragen.

Außer einmal. Ich fragte ihn, ob er Kinder hätte.

»Kinder bedeuten Schwäche«, winkte er ab. »Du musst sie beschützen. Du musst deine Ressourcen mit ihnen teilen. Jemand könnte sie als Druckmittel gegen dich einsetzen. Wenn ein Kerl behauptet, erst Kinder hätten seinem Leben einen Sinn gegeben, dann tut er mir ernsthaft leid. Es muss ein trauriges Leben sein, wenn man sich von der Existenz eines Anderen abhängig macht.«

Ich wollte ihm widersprechen. Wollte ihm sagen, die Jahre der Ehe, die Jahre mit meiner Tochter, wären die besten meines Lebens gewesen. Doch dann hatte ich wieder das Bild der verhüllten Gestalt auf der Trage vor meinen Augen und mein Brustkorb verengte sich schmerzhaft.

Ich fragte ihn weiter aus, begierig in seine Welt einzudringen, die Welt der Bewaffneten, der Vorbereiteten. Ich abonnierte ein Prepper-Magazin, las Survival-Bücher und bunkerte Lebensmittel und Medikamente. In einer Ecke meines Kleiderschrankes stand fertig gepackt ein Notfallrucksack. Wenn ich nicht einschlafen konnte, zog ich ihn hervor und breitete meine Ausrüstung auf dem Boden aus: Kochgeschirr, Schlafsack, Notfallrationen, das Erste-Hilfe-Set. Ich schob die Dinge hin und her und zählte sie, wie andere Schäfchen zählen. Der Anblick beruhigte mich.

Als ich die Sachkundeprüfung bestanden hatte und mein Schussbuch die erforderliche Zahl Termine aufwies, beantragte ich den Besitz einer eigenen Waffe. Die Produkte im Katalog trugen Namen, die sich wie die einer internationalen Klasse von Studenten anhörten: Beretta, Astra, Benelli, Heckler und Koch. Beim Bund hatten sie dagegen Buchstaben und Zahlen, wie Dinge aus einem Werkzeugkasten: AG36, P8, G36, MP-sonst was.

Milton riet mir zu einer Glock, aber ich entschied mich letztlich für eine Walther P22. Die Waffe war leicht, zielgenau und ihre Anschaffung verschlang kein halbes Monatsgehalt. Zudem war die Munition vergleichsweise billig.

»Kleinkaliber-Spielzeug«, urteilte Milton abfällig, »aber zum Üben reicht’s.«

»Sie brauchen ein Hobby, Ablenkung!«, beschwor mich die Leiterin der Therapiegruppe, zu der ich jeden Freitagabend ging. »Sie müssen loslassen!«

Ich nickte und dachte an die Walther, die zu Hause im Tresor auf mich wartete. Fast konnte ich ihr Gewicht spüren, wenn ich die Augen schloss und unter der Tischplatte meine Faust ballte.

Ich ging nicht mehr zu den Gruppensitzungen. Stattdessen verbrachte ich jeden vierten Samstag auf dem Schießstand, die Knie leicht gekrümmt, die Füße fest auf dem Boden, die Waffe im beidhändigen Griff. Meine Welt bestand aus Kimme und Korn und dem schwarzen Maul des Ziels.

Wenn ich hinterher nach Hause fuhr, fühlte ich mich seltsam leer, wie nach einem intensiven, berauschenden Erlebnis. Es war eine Leere, die mir gut tat. Es war, als ob das Dröhnen der Schüsse das Lärmen in meinem Kopf übertönt und zum Verstummen gebracht hätte.

 

Als Penny früher von der Arbeit nach Hause kam, fand sie mich am Küchentisch sitzend, wie ich mit einem Lappen die auseinandergebauten Teile der Pistole abwischte. Die Patronen waren auf der Tischdecke aufgebaut, akkurat wie eine Kompanie Soldaten beim Fahnenappell.

Schweigend ging sie an mir vorbei ins Schlafzimmer. Am nächsten Abend fand ich auf dem Wohnzimmertisch einen Brief, in dem stand, dass sie zu ihren Eltern gezogen war.

Danach verbrachte ich jedes Wochenende auf dem Schießstand.

An einem dieser Samstage drückte mir mein Freund eine Werbebroschüre der RSUKr – der Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskräfte – in die Hand, und es war darin dieses eine Wort gewesen, Heimatschutz, was sich in meinem Kopf einbrannte.

Heimat. Es klang nach Frieden, nach Zuhause. Und ich sehnte mich nach männlicher Kameradschaft, nach ihrem Schutz, nach Härte. Meine Grundausbildung war mehr als zwanzig Jahre her. Ich verspürte das Gefühl, das ein Schüler hat, wenn er nachsitzen muss – ein wenig trotzig, ein wenig schuldbewusst, aber mit der Stimme der Erwachsenen im Ohr, dass man den Stoff fürs Leben brauchen wird und man was verpasst, wenn man’s nicht aufholt. Die Trainingsroutine, die strikte Disziplin und Unterordnung bewahrten mich davor, wahnsinnig zu werden. Jedenfalls redete ich mir das ein.

Ich absolvierte die vorgeschriebenen Lehrgänge, nahm an den Wettbewerben der Reservisten teil, verbesserte meine Pfadfinder-Skills und trainierte das Arbeiten im Team bei Personenkontrollen.

Und ich wartete.

Ich wartete …

Auf den Tag, an dem der Rest der Welt dort angekommen sein würde, wo ich in meiner Dunkelheit ausharrte.