Feiertagskinder

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Feiertagskinder
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LUNATA

Feiertagskinder

Feiertagskinder

Roman

© 1919 Eduard von Keyserling

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Feiertagskinder

Baronin Marie v. d. Osten-Sacken

geb. Baronesse Behr

gewidmet

In dem Buchowschen Landhause Lalaiken standen an diesem Novemberabend die Schatten besonders groß und schwarz an den weißen Wänden des Kinderzimmers. Eine einzige Kerze brannte auf dem niedrigen Kindertisch und die Wärterin, Frau Müller, hatte sie nahe zu sich herangezogen; dann, die Hornbrille auf der Nase, nähte sie. Die beiden Kinder saßen auf den Kinderstühlchen. Der siebenjährige Uli war schläfrig, er legte seinen Arm auf den Tisch, stützte den Kopf, der mit den ungeordneten blonden Locken ganz groß erschien, auf den Arm und blinzelte mißmutig in das Licht. Die zwei Jahre ältere Isa spielte mit Holzpüppchen. Die grauen Augen schauten wach und aufmerksam vor sich hin, und die schmalen Lippen bewegten sich tonlos.

»Jetzt ist Schlafenszeit,« sagte Frau Müller und ließ ihre Arbeit sinken. »Geht jetzt euern Eltern gute Nacht wünschen.«

Uli jedoch verzog weinerlich sein Gesicht. »Heute geh ich nicht,« sagte er, »heute geh ich nicht durch die dunklen Zimmer. Heute stehen sie alle in den dunklen Ecken und es ruft an den Fenstern.« Frau Müller zuckte die Achsel. »Du weißt, was dein Vater sagt, wenn du dich fürchtest.« Jetzt weinte Uli. »Nein, heute geh ich nicht,« wiederholte er. Erschrocken sah Isa auf, sie zog die Augenbrauen zusammen, als fühlte sie einen Schmerz, und die Mundwinkel bogen sich nach unten, was ihr einen ältlichen kummervollen Ausdruck verlieh. Sie konnte es nicht ertragen, daß Uli weinte. Sie stand auf. »Gut, dann gehe ich allein,« meinte sie. Auf der Türschwelle zögerte sie einen Augenblick, dann lief sie in die dunkle Zimmerflucht hinein. Auch sie fürchtete sich. Aber sie ertrug es mit der Resignation des Kindes, dessen Leben nun einmal ganz von Unheimlichkeiten umstellt ist. Am Ende der Zimmerflucht schimmerte ein Licht, dort waren die Eltern.

Ulrich von Buchow hatte vorgelesen, jetzt lehnte er sich im Sessel zurück und rauchte. Ihm gegenüber in der Sofaecke saß seine Frau. Wie frierend drückte die schmale Gestalt sich wie in sich selbst zusammen; den blonden Kopf hatte sie zurückgelehnt und das junge Gesicht schien vor Müdigkeit wie erloschen. Als jedoch Isa auf der Schwelle erschien, ging ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau, das es wunderbar erhellte. »Meine Tochter,« sagte sie. »Wo ist Uli?« fragte Buchow streng. »Uli kommt heute nicht,« beichtete Isa, »er fürchtet sich.« »Ach ja,« sagte Irma von Buchow, »heute ist es auch zum Fürchten, ich gehe zu ihm.« Buchow zog unwillig die Augenbrauen zusammen, schwieg jedoch. Isa ging jetzt zu ihrem Vater und bot ihm ihre Kinderstirn dar, dann zu ihrer Mutter, und endlich ging sie in die Ecke des Zimmers, wo im großen Lehnsessel der Großvater, der Graf Pax, saß und schlief. Vorsichtig küßte sie ihn auf die weiße Perücke, dann ballte sie in einem festen Entschluß ihre Hände und lief wieder in das Dunkel hinein.

»Wenn wir dem Jungen das durchlassen,« versetzte Buchow, »dann werden wir keinen Helden erziehen.« »Ach Gott,« meinte Irma und zog die Augenbrauen empor, »wozu Helden? Heute ist auch ein Tag zum Fürchten. Uli kam schon heute nachmittag zu mir und sagte: ›Ich weiß heute nicht, was ich spielen soll,‹ und wirklich, ich hätte auch sagen können: ›Ich weiß auch nicht, was ich spielen soll.‹«

»Ja, spielen!« bemerkte Buchow.

Eine leichte Röte stieg in Irmas schmales Gesicht. »Ja, spielen; ich weiß, du denkst, das Leben ist ernst, und man hat seinen Pflichtenkreis. Ach ja, natürlich, aber man will doch auch seine kleinen Freuden haben, denn die großen kommen ja doch nicht. So, und jetzt gehe ich zu meinem Sohn.« Sie stand auf, reckte einen Augenblick die Arme in die Höhe, wie um der schwankende Gestalt Haltung zu geben, und verschwand dann in der Dunkelheit.

Buchow lehnte seinen Kopf in den Sessel zurück. Das Gesicht mit der vorgewölbten Stirn, den tiefliegenden grauen Augen, dem starken Kinn, schien wie von einer inneren Energie zusammengedrückt, der Mund schloß sich so fest, daß die schmalen Lippen weiß wurden.

Die großen Freuden, dachte er – sie wartet auf die großen Freuden, woher sollten die kommen? Er hatte das Leben stets als etwas betrachtet, das bezwungen werden mußte, damit es uns nicht in den Rücken fällt. Diese Novembertage mit ihrem Nebel und ihrem Sturm, sie spannten etwas in ihm an, sie erhöhten seine Lust am Tun und Schaffen. Er war nun einmal solch eine Nebelkrähe, und von ihm erwartete dieses lichte und kostbare Geschöpf die großen Freuden. Woher sollte er sie nehmen?

Der Großvater war in seinem Lehnsessel erwacht; er richtete sich auf und schaute noch ein wenig traumverloren um sich, dann lächelte er, und das kleine Gesicht unter der weißen Perücke wurde ganz kraus von Falten. »Ich habe geschlafen,« sagte er. »Ja, du hast geschlafen, Vater,« bestätigte Buchow. »Ich habe aber auch geträumt,« fuhr der Großvater fort. »Mir träumte, ich ging, ich weiß nicht mit wem, die Hauptallee des Bois de Boulogne entlang, da waren Menschen und Wagen und Pferde, sehr lustig. Eine Equipage sah ich mit gelben Pferden, eine Dame saß darin, na, lassen wir das. Die Hauptsache war das Gehen. Ich sag dir, meine Beine waren so gelenkig, so leicht, es war ein Genuß das Gehen, das Gehen, wie ich's in jungen Jahren konnte. Ja, das war famos, nun will ich schlafen gehen – vielleicht kann ich weiter träumen.« Er erhob sich und ging mit tänzelnden Schritten, welche die Schwäche seiner Beine verdecken sagten, hinaus.

Es war schon spät am Nachmittage, als Buchow hinausging, seine Äcker zu übersehen. Der Wind wühlte in den Hängebirken, warf ihre dünnen Zweige durcheinander wie Peitschenschnüre, er riß Löcher in den dichten Nebel, so daß dieser wie große, graue Fetzen über dem Erdboden hing. Die Natur macht uns heute nichts vor, sagte sich Buchow und steckte die Hände tiefer in die Taschen seines Überziehers. Am Rande eines Feldes blieb Buchow stehen. Dort pflügte ein Mann. Der lange Mensch ging langsam und verdrossen hinter dem Pfluge her. Der Wind zerrte an seinem Kittel und dem roten Bart, er warf die Mähnen des vor Feuchtigkeit struppigen Pferdes bald nach vorn, bald zurück. Die aufgeworfenen Schollen hatten einen matten Metallglanz, und nasse, aufgeblasene Krähen gingen auf ihnen hin und her. Der Mann blieb stehen, sah zum westlichen Horizont hinüber, wo ein welker, rosenfarbiger Streif die grauen Wolken säumte, dann stellte er die Pflugschar hoch und fuhr auf dem Wege hinauf. Er grüßte seinen Herrn. »Andre,« fügte Buchow, »du weißt, deine Frau ist bei mir gewesen, um über dich zu klagen, weil du sie schlägst.«

»Ich weiß,« erwiderte Andre verdrossen, »würde sie Ruhe geben, so würde ich sie nicht schlagen.«

»Sie will nicht, daß du das Geld in den Krug trägst,« meinte Buchow. Andre zuckte die Achsel. »Wenn man am Sonnabend nicht in den Krug gehen soll, was hat man dann, das ist doch noch das einzige.« Damit trieb er sein Pferd an, ging auf der nassen Straße ein wenig steifbeinig weiter, verschwand, eine graue Gestalt im grauen Nebel.

»Die kleinen Freuden,« klang Irmas Stimme Buchow in den Ohren. Wenn dieser Knecht in seine dunkle Häuslichkeit zurückkehrte, waren die Kleider naß, die Glieder steif, die Frau weinte, die Kinder schrien, nun, dann ging er zu den kleinen Freuden.

Buchow war auf der Landstraße weitergeschritten, bis er an eine Brücke gelangte, auf der er haltmachte. Die Brücke führte über eine sumpfige Schlucht zu dem Marktflecken Drixen. Im Sommer standen hier grellgrüne Tümpel beieinander, Kiebitze liefen zwischen ihnen auf und ab, einzelne Kühe weideten hier, die Füße tief im Sumpfboden eingesunken. Jetzt waren die Tümpel schwarz, und dunkle Wasserlachen breiteten sich zwischen ihnen aus. Buchow stand auf der Brücke und schaute hinab. Wie er diesen Sumpf haßte! O, er würde ihm schon beikommen; wenn man den kleinen See über dem Ort niedriger legen könnte, dann würde auch dieses unnütze, giftige Sumpfland verschwinden. Nächsten Sommer wollte er ihm zuleibe gehen. In Drixen wurden die Lichter in den Häusern bereits angesteckt, zitternde, gelbe Flecken im Nebel. Buchow fror. Er ging durch die Dunkelheit nach Hause, und die nasse Landstraße hatte noch einen matten, blinden Glanz.

Vor seinem Hause angekommen, bemerkte er, daß die Fenster des großen Saales erleuchtet waren. Im Flur hörte er, daß auf dem Klavier ein Walzer gespielt wurde. »So, so,« sagte er und lächelte. Im Saal fand er den Großvater am Klavier, einen Walzer spielend. Irma tanzte mit Uli, Isa stand, die Hände in den Seiten, still da. »Tanz doch,« rief Irma ihr zu, dann begann sie sich langsam zu drehen. Als Irma an Buchow vorüberkam, nickte sie ihm zu und sagte: »Wir tanzen, es war sonst zu traurig.«

»Gut, gut,« meinte Buchow und ging in das Wohnzimmer. Er setzte sich an den Kamin; er war müde, die Wärme tat ihm gut, es war angenehm, die Beine vor sich hinzustrecken; aus dem Saal kamen die durch den schwachen Anschlag des Großvaters matten Töne des Walzers und das leise Geräusch der tanzenden Füße. Buchow schloß die Augen, ein tiefes Behagen erwärmte ihn. Ja, dachte er, solche Augenblicke gibt es eben auch.

Der Wind hatte sich gelegt; es fror, und ein wenig Schnee war gefallen. Er lag auf den Dächern, in den Ackerfurchen und legte grellweiße Flecken in die fahle Landschaft. Es dämmerte bereits, als Buchow nach Drixen hinüberging, um seinen Anwalt, Dr. Viervogel, zu sprechen.

Viervogel war Buchows Schulkamerad gewesen, hatte sich dann als Anwalt im Flecken niedergelassen, und da er jede Gelegenheit versäumte, weiterzukommen, saß er noch heute dort. Mit seinem Schimmel und Jagdwagen fuhr er in die Stadt, um seine Injurien- und Hausmieteprozesse zu führen, wohnte bei der Witwe Weidemann, von der er sich beköstigen ließ. Er saß oft stundenlang in der reinlichen Wohnung und sah der stattlichen Frau mit den schönen Armen, wie sie eifrig schaffend hin und her ging, zu. Die wenigen Laternen im Marktflecken wurden schon angesteckt, im ersten Hause war Licht in den Fenstern, es war das Anwesen des Gärtners Kappelmeier, und dort war immer Bewegung und Lärm, denn die großen, blonden Töchter schafften unermüdlich. Die eine wusch den Flur, die andere sah Buchow durch das Fenster am Backtrog stehen; sie riefen einander zu mit hellen Stimmen und lachten. Der alte Kappelmeier aber, der Wiedertäufer, ein großer Greis, ging im dämmerigen Garten zwischen den mit Tannenreisig bedeckten Beeten hin und her. Buchow kannte sie alle. Da war jetzt der Kramladen, vor dem es nach Fellen und Pfeffergurken roch, und durch die Glastüre konnte man die Krämerin sehen, mit ihrem großen, blassen Gesicht, geduldig und böse; endlich die Apotheke, hell und sauber. Der Apotheker mit dem langen, grauen Bart, stand wie ein Priester zwischen den weißen Büchsen und bauchigen Flaschen. Der schöne Provisor Glaiksner war nicht zu Hause. Ihn fand Buchow an der Hausecke mit dem Postfräulein zusammenstehen, das ihn liebte. Sie stritten miteinander. »Aber Glaiksner,« sagte das Mädchen, »das ist doch keine Mühe, zum Fenster hinaufzusehen, wenn du vorübergehst; ich habe so darauf gewartet.«

 

»Immer diese Dummheiten,« erwiderte Glaiksner, »ich habe auch an anderes zu denken; ob ich nun da hinaufsehe oder nicht.«

»Aber Glaiksner,« erklang die weinerliche Stimme des Mädchens, »ich warte den ganzen Vormittag darauf.«

Jetzt kam Fräulein Christa Hassel, die Lehrerin an der Volksschule, Buchow entgegen. Sie ging mit kleinen, harten Schritten über das knisternde Pflaster, drehte dabei ihre untersetzte, flache Gestalt hin und her; das runde Gesicht mit dem breiten Munde und den guten, braunen Hundeaugen war von der Kälte gerötet. »Ah, Herr von Buchow,« sagte sie. »Guten Abend,« erwiderte Buchow, »ich mache noch einen Geschäftsgang.« – »So,« meinte Fräulein Christa, »und wie geht's bei Ihnen zu Hause?«

»Ich danke, gut,« berichtete Buchow, »man feiert bei uns ein Fest, Sie wissen, man feiert bei uns immer Feste. Es ist, glaube ich, des ersten Schnees wegen. Man sitzt am Kamin, ißt Bratäpfel und erzählt sich Märchen.«

»Das ist hübsch,« sagte Fräulein Christa und bog den Kopf zurück, um Buchow anzuschauen.

»Gehen Sie doch hin, Fräulein Christa,« schlug dieser vor. »Hingehen,« versetzte das Fräulein nachdenklich, »das ist eine Versuchung. Denn ich habe zu Hause einen ganzen Stoß Hefte liegen, die ich korrigieren muß. Aber Gott, wozu ist die Nacht da, also ich gehe hin, auf Wiedersehen.« Damit ging sie weiter mit ihren kleinen, harten Schritten.

Jetzt war Buchow am Hause der Witwe Weidemann und stieg die dunkle Treppe hinauf. Auf sein Klopfen erscholl ein heiseres »Herein«. Er fand den Doktor am Schreibtisch über Akten gebeugt.

»Guten Abend,« sagte Buchow. Die kurzsichtigen Augen des Doktors erkannten ihn nicht sogleich, als jedoch Buchow näher kam, sprang der Anwalt auf. »Ah, du bist es,« rief er, »eine unerwartete Freude.« Die beiden waren stets sehr höflich miteinander. Viervogel half Buchow aus seinem Überzieher, stellte ihm einen Sessel zurecht, bot eine Zigarre an, holte eine Flasche Portwein hervor und Gläser, die er vollschenkte. »So,« sagte er, »bei dieser Kälte wird das gut tun; der Winter kommt.« Und als er Buchow gegenübersaß, sah er ihn erwartungsvoll an.

»Ich komme zu dir,« begann Buchow, »um dich zu bitten, mir wieder einen Kontrakt zu einem Holzverkauf zu machen. Du weißt, mein Bruder hat mich voriges Jahr ein wenig stark in Anspruch genommen, und so muß wieder verkauft werden. Die Bedingungen sind dieselben, nur bitte ich, den Kontrakt ein wenig schärfer zu fassen, denn Aronsohn erlaubte sich voriges Jahr allerhand Freiheiten. Besonders wollen wir ihn, was die Lagerplätze und die Zeit des Abführens betrifft, fester binden.«

»Wird gemacht,« erwiderte Viervogel, »wir wollen dem Knaben ordentlich die Hände binden; morgen schon mache ich den Entwurf und lege ihn dir dann vor.«

»Danke,« sagte Buchow und nippte vorsichtig am Portweinglase. »Guter Wein, wie geht es sonst?«

»Gott,« erwiderte Viervogel, »bei mir ist es immer das gleiche. Das ist das Charakteristische in meinem Leben, und so ist's mir recht. Siehst du, in diesen dunklen Tagen ist es seltsam, daß ich es fast körperlich fühle, wie die Zeit verrinnt; sie verrinnt ganz langsam und stetig und trägt mich mit. Ich fühle das.«

»Sie trägt dich?« fragte Buchow, »wohin?«

»Ans Ende,« erwiderte Viervogel, »einmal muß es ja doch zu Ende sein und dann kommt vielleicht etwas andres und das ist es, was mich zuweilen beunruhigt. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich vor dem Tode fürchte und nur aus Trägheit, weißt du. Es kommen vielleicht andre, ganz andre Verhältnisse, und ich bin an mein Hinstumpfen so gewöhnt, daß mir das unbequem erscheint. Das kommt davon, wenn man sich an solch ein zweckloses Leben gewöhnt hat; du natürlich wirst auch das jenseitige Leben frisch in die Hand nehmen. Du hattest schon als Knabe immer Ziele und Zwecke.«

»Nun ja,« versetzte Buchow nachdenklich, »es ist ein fatales Gefühl, wenn es uns plötzlich klar wird, daß, was wir treiben, keinen Zweck hat. Schon als Kind überkam es mich zuweilen, man spielte, man stand auf einem Brett, das auf einer Wiese lag, und das Brett war ein Schiff und die Wiese ein Meer. Doch plötzlich wurde man sich bewußt: es ist nur ein Brett, auf dem du stehst, und kein Schiff, und ringsum ist nur eine Wiese und kein Meer, und dann mußte man gewaltsam weiterspielen, um nicht jede Lust am Spiel zu verlieren. Solche Augenblicke habe ich auch heute noch.« Viervogel lachte. »Nun, ich weiß immer, daß ich auf einem Brett stehe, das auf einer Wiese liegt. Was ich tue, hat vielleicht keinen Zweck, aber ich bin zufrieden; ich wollte da einmal etwas Farbe in mein Leben bringen und fing an, der Agnes Kappelmeier nachzustellen, ich dachte mir, es würde so etwas wie eine Liebschaft herauskommen. Aber die Kappelmeierschen Mädchen sind ja hübsch, aber für mich zu laut, zu intensiv – so gehe ich denn lieber zu meiner Witwe Weidemann hinunter und sehe zu, wie sie Brot bäckt.«

»Aber du arbeitest doch?« wandte Buchow ein.

»Man muß eben leben,« versetzte Viervogel, »nun ja, zu etwas wird mein Leben vielleicht gut sein, und ich habe meine Stelle in der großen Welteinrichtung; aber eine Stelle wie das ›und‹ in einem Manuskript, es ist nicht zu entbehren, die Rolle aber, die es spielt, ist nicht sehr bedeutend.«

Sie schwiegen beide eine Weile. Buchow betrachtete nachdenklich das Gesicht seines Freundes, dieses ein wenig fette Gesicht mit der großen Adlernase, den blauen Augen, die hinter den blanken, runden Brillengläsern hervorschauten, und dem hübschen, weichlichen Munde. »Es ist eigentlich schade um dich,« sprach er vor sich hin.

Viervogel lächelte. »Meinst du – ja, vielleicht ist es schade um mich, aber mein Fall ist hoffnungslos, denn ich bin zufrieden. Ich hatte Zeiten der Unruhe, aber das ist vorüber. Ich schlafe jetzt sehr gut, das ist doch ein Zeichen inneren ›Friedens‹.«

»Ja, Schlaf ist eine gute Sache,« meinte Buchow und stand auf, »ich will dich aber nicht länger von deinem Stammtisch fernhalten.«

»Gott, der Stammtisch,« erwiderte Viervogel, »es ist wohl gleichgültig, ob ich früher oder später höre, wie der Doktor von der Camorra erzählt, er spricht am liebsten von der Camorra, oder was der Apotheker von den Streichen seines Provisors berichtet,« er half Buchow in den Überzieher. »Also auf morgen,« sagte er und leuchtete die dunkle Stiege hinab.

Buchow trat wieder in die Frostnacht hinaus, das Gespräch mit Viervogel hatte ihm die Brust eng gemacht, drum tat ihm die scharfe, kalte Luft wohl.

Es war in den Weihnachtsfeiertagen, als Achaz, Ulrichs Bruder, nach Lalaiken kam. Er war jünger als Ulrich und diente im Auswärtigen Amt. Mit klingenden Schellen fuhr sein Schlitten vor das Haus. Schon im Flur hörte man seine helle Stimme zu dem Diener Klaus sagen: »Guten Tag, Klaus, hier riecht es ja nach Familienweihnacht.«

Als er in das Zimmer trat, erwartete ihn die ganze Familie und lachte ihm entgegen, lachte, nur weil sein Erscheinen so jugendlich und heiter war. »Ah, die ganze Familie,« rief er, »wie hübsch ihr alle seid. Sie nicht am wenigsten, lieber Graf,« sagte er zum Großvater, »und Uli hat sich entwickelt, er zeigt Anlagen zum bel homme, und wie hell es hier ist und wie gut es nach Tannen und Lebkuchen riecht! Ich bin froh, bei euch zu sein. Irma ist noch immer schön wie die ewige Seligkeit.«

Irma lachte. »Wie er die Komplimente ausstreut, wie Weihnachtszuckerwerk.«

Daun saß man im Wohnzimmer, die Kinder standen neben Achaz und schauten ihn erwartungsvoll an, ob er etwas Lustiges sagen würde.

Der alte Graf hatte seinen Stuhl nahe zu Achaz herangezogen, legte die Hand ans Ohr, hörte mit Behagen die schönen Titel, die in Achaz Erzählungen vorkamen, die Namen der Theater und großen Restaurants, sog begierig die Großstadtluft ein, die von dem jungen Mann auszugehen schien. Auch Irma hatte sich vorgebeugt, ihre graublauen Augen glitzerten, und ihr Gesicht nahm den hübschen, strahlenden Ausdruck an, den es zu zeigen pflegte, wenn's um sie her hell und heiter war. Buchow in seiner Sofaecke sprach wenig, allein auch er lächelte zufrieden. Er bewunderte diesen Bruder, dessen bloßes Erscheinen die Menschen glücklich und fröhlich zu machen schien. Achaz war größer und schmäler als Ulrich, er glich ihm, aber sein Gesicht war klarer, die Augen weit auf, und der Mund lächelte ein ausgelassenes Knabenlächeln. Als Buchow aufstand und in sein Arbeitszimmer ging, flog ein Schatten über Achaz Züge, er zog schmerzlich die Augenbrauen zusammen, und ein hilfloser Ausdruck zeigte sich auf seinem eben noch so heitern Gesicht. »Ich muß mit Ulrich sprechen,« sagte er, stand auf und folgte dem Bruder.

Im Arbeitszimmer schloß er sorgfältig die Tür, und als er sich Ulrich zuwandte, war sein Gesicht bleich und trug noch immer den knabenhaft hilflosen Ausdruck. »Ulrich, ich muß mit dir sprechen,« sagte er, »es ist besser, es geschieht gleich, sonst verdirbt es mir die schöne Zeit hier.«

»Was gibt es denn?« fragte Ulrich und wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

Achaz ging nervös im Zimmer hin und her. »Da ist wieder so eine dumme Geschichte,« begann er, »ich weiß selbst, wie unverantwortlich das ist, aber es ist nun einmal geschehen. Ich habe mich da in einem Kasino wieder zum Spiel verleiten lassen; ich weiß nicht, was diese Nacht über mich gekommen war, aber ich spielte wie ein Wahnsinniger. Natürlich verlor ich.« Er schwieg einen Augenblick.

»Wieviel?« fragte Ulrich vom Fenster her.

»Fünfzehntausend!« erwiderte Achaz. Eine Pause entstand.

Endlich wandte sich Ulrich wieder dem Bruder zu. »Und du willst,« sagte er seltsam deutlich, die Worte vor sich hinzischend, »du willst, ich soll sie dir geben?«

»Natürlich war das meine Hoffnung!« erwiderte Achaz und errötete, »eine andere Hoffnung habe ich doch nicht.«

»Du überschätzt meinen Etat,« fuhr Ulrich fort, »ich habe eine Familie, ich kann mich nicht deiner Spielschulden wegen ruinieren. Voriges Jahr ging das ganze Geld für den Holzverkauf auf deine Schulden drauf und jetzt wieder.«

»Du hast ganz recht,« unterbrach ihn Achaz, »und ich wundere mich nicht, wenn du ungehalten bist, es ist unverantwortlich von mir, ich könnte mich schlagen; wie eine Verrücktheit ist es über mich gekommen; ich sage dir offen, ich verachte mich, verachte mich tief, aber nun es einmal geschehen ist … Der Ertrinkende greift nach allem, was ihn retten kann, und du weißt es ja, bezahle ich die Schuld nicht, dann ist es aus mit mir, ganz aus, dann bleibt mir nur die Kugel. Das ist nicht eine geschmacklose Drohung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Aber komme ich diesmal noch durch, dann spiele ich nie mehr, dann beginnt ein neues Leben.«

Ulrich hatte unbeweglich zugehört. Sein Gesicht schien kleiner geworden, wie zusammengedrückt, und seine Lippen waren wieder ganz fest geschlossen. Als er jetzt zu sprechen begann, war seine Stimme leise und ein wenig heiser.

»Es ist erst dann Aussicht, daß du deine guten Vorsätze verwirklichst, wenn du dir bewußt wirst, daß du allein für dein Leben verantwortlich bist, daß du, bei allem was du tust, dich und nur dich einsetzest. Jetzt hast du das Gefühl, ich stünde hinter dir und müßte für dich aufkommen, aber, mein Lieber, der Augenblick kommt, in dem ich das nicht mehr kann und nicht mehr will. Solange ein Mensch die Verantwortung für sich selbst nicht trägt, ist er ein Gespenst.«

 

»Du hast ja tausendmal recht,« rief Achaz, »ich sage mir das alles selbst, aber jetzt soll es anders werden, du wirst sehen. Natürlich ist das Geld, das du mir gibst, nur geliehen, ich erstatte es dir zurück, sobald ich kann. Meine Aussichten sind gut, ich stehe mich mit meinen Vorgesetzten ausgezeichnet und ich habe Talent zum Diplomaten, ich fühle es, ich bin der geborene Diplomat. Ich denke, ich lasse mich nach Rom versetzen; von den Italienern kann man viel lernen, und du wirst sehen, ich gehe wie ein Licht in die Höhe. O, darum ist mir nicht bange, und an jenem Morgen nach der Spielnacht fühlte ich, daß es wie eine Krankheit von mir abfiel, mein ganzes, dummes Leben. Ich bin kein Spieler, aber es kommt zuweilen wie ein Rausch über mich, aber das ist vorbei.«

»Gut,« sagte Ulrich, trat an den Tisch und klopfte mit dem Finger hart auf die Tischplatte, »wie dem auch sei, du wirst dich künftig daran gewöhnen müssen, deinen Rausch selbst zu bezahlen. Wenn ich dir diesmal noch helfe, so bin ich damit an die Grenze der Möglichkeit, dir zu helfen, gekommen.«

»Ich danke dir, mein Alter, du bist mein Retter. Du bist wie ein Vater für mich, aber du wirst sehen, mit dem unsoliden Leben ist es jetzt aus, ich werde ein ernster Mensch, das Buchowsche in mir kommt heraus, du wirst noch Freude an mir erleben. Und weißt du, was du mit den wenigen Worten: ›Ich werde dir diesmal helfen!‹ tust? Du rettest einen Menschen vor dem Tode, ganz einfach, du rettest einen Menschen vor dem Tode.«

Ulrich erwiderte nichts. Er setzte sich müde ans das Sofa und schaute mit den tiefliegenden, grauen Augen sinnend vor sich hin.

»Du sagst, sich selbst einsetzen,« fuhr Achaz fort, »das ist gut gesagt, aber das ist es eben. Wenn ich etwas Verwegenes tue, eine Dummheit meinetwegen, etwas, wobei es sich um die Existenz handelt, eine Summe setze oder so etwas, dann ergreift mich ein angenehmer Schwindel, ich spüre deutlich, daß ich mich selbst einsetze, und es ist eine köstliche Spannung in mir, ob ich gewinne oder verliere. Ich muß da an unsre Knabenjahre denken. Erinnerst du dich noch, wie wir uns auf der Wippschaukel schaukelten: du saßest auf dem einen Ende, ich stand auf dem andern. Es war nicht leicht, dort zu stehen, aber es gab eine angenehme Spannung: werde ich fallen oder werde ich nicht fallen. Aber das ist jetzt vorüber, tempi passati, ich bin ein andrer Mensch geworden, wirklich, ich fühle die Exzellenz schon in mir keimen,« und er lachte ein offenes, frohes Lachen.

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