Bunte Herzen

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Wenn Werner abends bei der Lampe Lene gegenübersaß und zuhörte, wie Lene über friedliche, kleine Dinge plauderte, dann geschah es wohl, daß sie plötzlich ausrief »Was ist dir?«

»Mir? Nichts – warum?«

»Du machst ein Gesicht, als schmerzte dich was.«

Werner lachte: »Was du nicht siehst!«

Allein, wenn es still im Hause wurde, wenn er in seinem Arbeitszimmer saß, dann kam er – der andere – unabänderlich, ein Gast, der nie ausblieb.

Werner hörte auf den Schlag der Uhr, wartete in dumpfer Ergebung.

Es schlug zwölf.

Werner erhob sich, zog seinen Pelz an, nahm seinen Stock und ging hinaus, pünktlich, wie zu einem gewohnten Geschäft. Und während er leise durch das Haus zur Haustür schlich, mußte er an das Wort des Johannisevangeliums denken, das von Judas sagt:

»Da er nun den Bissen genommen hatte, ging er sobald hinaus. Und es war Nacht.«

Die nächtliche Welt um diese Stunde war ihm jetzt vertraut. Zuweilen war der Himmel klar und voller Sterne, oder der Nordwind fuhr in die Bäume, rauschte wild, als riefe er in die alten Föhren eine aufregende Nachricht hinein. Oder dichter Nebel verhängte das Land, tropfte und flüsterte in den Zweigen. Werner kannte jede dunkle Baumgestalt, an der er vorüber mußte. Er kannte die leisen Schritte des Wildes im Dickicht. Er gehörte zu ihnen allen, die ihn umstanden, sie waren seine Mitwisser.

Durch die Tannenschonung ging er in den Wald hinein, bis er den schmalen weißen Strich über dem Abgrunde sah. Dort setzte er sich auf einen Baumstumpf im Gebüsch und wartete.

Wenn es in seiner Nähe raschelte, dann wußte er, es war der Fuchs, der auf die Jagd ging. Die regungslose Gestalt auf dem Baumstumpf schreckte den Fuchs nicht. Er war an sie gewöhnt. Er mochte gemerkt haben, daß dieses Raubtier, das so still auf der Lauer lag, ihm nicht ins Gehege kam.

Werner wartete geduldig, bis sie herankamen: der Schlitten – das schwarze Pferd – eilig, lautlos. Sie glitten über den weißen Strich – schwebten über dem Abgrunde – und waren hinüber und verschwunden. Werner steckte sich eine Zigarette an, rauchte und wartete, bis der Schlitten wiederkam, einen Augenblick über dem Abgrund schwebte und verschwand.

Um das zu sehen, dieses Schweben über dem Abgrund, kam er Nacht für Nacht. Das war ein Augenblick furchtbarer Spannung. jetzt – jetzt mußte die zierliche, schwarze Vision auf dem weißen Strich im Abgrund verschwinden!

Die Bibel war so voller Wunder. Was wirkten die Leute da nicht alles mit ihrem Willen! Sie machten Tote auferstehen und Lebende tot zur Erde fallen. Konnte er denn nicht mit der Gewalt seines Willens eines dieser morschen Bretter zum Brechen bringen? Nur ein Brett und – -

Oft, wenn der Schlitten an ihm vorüber war, stand Werner von seinem Baumstumpf auf, ging auf die Brücke hinauf, vorsichtig und aufmerksam. Er betrachtete sorgsam jedes Brett, prüfte es mit der Hand. Dieses war ganz morsch, dieses lag nur lose auf – hier war ein Spalt. Es mußte einmal geschehen. Wenn einer eines dieser Bretter zufällig mit dem Fuß oder mit der Hand verschob – – ein leichter Schwindel faßte ihn. Er mußte für einen Moment die Augen schließen. Dann ging er wieder an seinen Platz zurück.

»Wenn einer zufällig mit dem Fuß oder mit der Hand eines dieser Bretter verschiebt« – klang es in ihm wider, eintönig, eigensinnig, wie ein sinnloser Refrain. Und um ihn flüsterten die kleinen Tannen »– ver – schiebt – ver – schiebt«, und oben fielen die alten Föhren laut und majestätisch ein »versch – – iebt – ver – schiebt« – Der ganze Wald dachte nur daran.

War es vorüber, war der Schlitten zurückgefahren, dann ging Werner nach Hause – die Glieder schlaff – das Herz müde und leer.

Er warf sich auf sein Bett und schlief einen schweren Schlaf, wie nach harter, freudloser Arbeit.

Werner war in der kleinen Schule dort hinter dem Walde gewesen, jetzt ging er langsam heim. Es war um die Mittagszeit. In der Nacht hatte es geschneit. Nun ließ die Sonne den Schnee von den Zweigen tropfen. Der Wald war voller Flügelrauschen und Vogelrufe. Die Meisen tollten wie kleine, graue Bälle an den Zweigen entlang. In einem verschneiten Haselnußstrauch saß eine Gesellschaft Dompfaffen wie große, rote Früchte.

Das war heiter. Werner klangen noch die Lieder im Ohr, die er eben von den Kindern gehört hatte.

»So viel Licht, daß man nichts mehr unterscheidet«, hatte Karola gesagt. So dachte sie sich das Jenseits. Das war es. So mußte die Religion für die Armen und Gedrückten sein, – Licht, nicht das zeigt und aufdeckt, nein, Licht, das verhüllt, das wie ein leuchtender Schleier sich über das graue Leben breitet.

Von dem engen Waldpfade bog er in die kleine Waldlichtung ein und – trat leise zurück.

Wie eine Vision stand es vor ihm.

Die Lichtung war weiß verschneit, ringsum weiße Wälle und darüber der Sonnenschein, ein gelber Lichtnebel über den Wipfeln. Mitten auf dem Platz hielt der Schlitten mit dem schwarzen Pferde. Rast stand in dem Schlitten, hoch aufgerichtet, sein Bart flimmerte vor Tropfen, und vor ihm stand Karola. Sie bog den Kopf zurück, sah zu ihm auf, lachte über das ganze Gesicht. Sie streckte die Arme aus.

»Heb mich« – sagte sie.

Er beugte sich zu ihr nieder, faßte sie und hob sie hoch in die Höhe, in den Sonnenschein hinauf Karola stieß einen leisen Schrei aus und bewegte die Arme wie Flügel.

»Ja – so – so«, rief sie.

Ein Eichelhäher antwortete mit seinem lauten, aufdringlichen Ruf, als hätte er es dem ganzen Walde mitzuteilen.

Werner sah Karola in dem gelben Lichtnebel schweben, sah ihr Gesicht ernst werden, die Lippen sich öffnen, die Augen sich schließen – wie überwältigt von einem starken Gefühl.

Rast ließ die Arme langsam sinken, legte die schwebende Gestalt auf seine breite Brust – beugte sich auf sie nieder und küßte das Gesicht mit den geschlossenen Augen.

Dann setzte er Karola in den Schlitten.

»Jetzt fahren wir los«, sagte er.

»Jetzt fahren wir los«, wiederholte Karola lustig.

Sie ließ sich zurechtsetzen, einhüllen, willenlos wie eine Sache, wie seine Sache.

»Hü!«rief Rast dem Pferde zu, und sie fuhren in all das Weiß der Büsche hinein.

Laut – leichtsinnig und schamlos erfüllten die Schellen den Wald mit ihrem Geklingel.

Warum – sagte sich Werner, warum mußte dieses Weib so furchtbar tief in sein Fleisch hineingeschrieben sein? Was war sie ihm? Was durfte sie ihm sein? Und doch jede Faser, jeder Nerv seines Körpers fieberte. Betrogen und bestohlen fühlte sich dieser Körper. Da stand er, versteckt hinter den Büschen und hungerte nach diesem Weibe, hungerte, wie er noch nie nach etwas gehungert hatte. Und dieser große, brutale Mann durfte im Sonnenschein stehen und sie nehmen wie sein Eigentum, wie seine Sache. Wozu war solch ein flacher Lebensvergeuder da? Um mit seinen unreinen Händen zu nehmen, zu stehlen, was anderen heilig, was für andere der tiefste Kampf der Seele war? Ein schädliches, unnützes Raubtier, dem man Fallen stellen sollte wie dem Fuchs, das ist dieser Rast.

Zu Hause war Werner heiter, er scherzte mit Lene, mit Tija, er war fast ausgelassen oder versuchte es zu sein. Ihm war, als müßte er unter dieser Heiterkeit etwas verbergen – vor Lene, vor Tija –, vor sich selber. Er wußte selbst nicht, was es war.

Am Nachmittag kam der Doktor Braun. Er saß am Kamin und erzählte:

Mit dem Baron in Dumala war es so – so. Er machte dem Doktor Sorge. Das Herz matt und die Schmerzen. »Sie sollen doch herüberkommen, Pastor, läßt er Ihnen sagen. Er schimpft schon. Ein Doktor und ein Pastor würden dafür bezahlt, daß sie die Kranken besuchen – sagt er, ›von einem Bankdirektor verlang’ ich das nicht. Was denkt sich der Werner eigentlich!‹ Ja, die Laune ist nicht die beste. Und die arme Frau. Die sitzt bei ihm, erträgt jede Laune. Eine Heilige.«

»Ja – eine Heilige«, wiederholte Werner.

»Und denken Sie sich!« Der Doktor wurde ganz rot vor Aufregung. »Die Alte in Debschen sagt mir – es ist unglaublich – sie habe von Gerüchten – von Gerede gehört – die Trine – sagt – oder der Schweinejunge – was weiß ich – von dieser Frau und dem Rast – von Zusammenkünften hat sie gehört. Getratsch – Gestänker! Ich hab’s der Alten gesagt: wer diese Frau angreift, der hat es mit mir zu tun. Mit uns beiden – nicht, Pastor? Na – ich werd es der Alten in Debschen schon anstreichen.« Der Doktor lachte drohend, den Mund weit offen.

»Ja – Doktor – Sie haben recht«, stimmte Werner ihm zu. Das befriedigte den Doktor. »Na – also! jetzt geh’ ich heim. Um neun Uhr leg’ ich mich in die Klappe. Meine Frau liest mir die Zeitung vor, dabei schläft’s sich gut ein. Ein Sybarit – was? Aber zwei Nächte hab’ ich hintereinander Kinder zur Welt bringen helfen. Die Rangen kommen jetzt immer bei Nacht zur Welt. Auch eine Unsitte – Unsolidität.« Er lachte sehr laut über seine Bemerkung.

Werner schaute ihn nachdenklich an. Der war glücklich! Der war mit sich zufrieden, tat seine Arbeit und genoß sein Bett. Nichts Dunkles quälte ihn, keine schwere – unbegreifliche Aufgabe.

Und Werner empfand diese ruhige Zufriedenheit als klein, er verachtete sie fast seiner eigenen Qual gegenüber.

Der Abend verging still und gemütlich.

In der Nacht machte Werner sich pünktlich zu seinem Posten auf den Weg. Er überlegte sich das nicht mehr. Wozu? Er wußte es ja doch, zu der bestimmten Stunde würde er unten im Walde sein.

Die Nacht war windstill. Es schneite. Dieses weiße Niederrinnen legte eine bleiche Helligkeit in die Nacht. Alle nächtlichen Kameraden Werners im Walde schwiegen heute. Sie standen regungslos da und ließen sich von den weißen Flocken zudecken.

Auch Werner saß regungslos auf seinem Baumstumpf und ließ sich zudecken. Die stetige Bewegung des niederfallenden Schnees machte ihn schläfrig, wiegte ihn in einen wachen Traum. Ganz ferne Bilder aus der Kindheit kamen: das Stübchen der Witwe Werner. Der kleine Erwin lag im Bett. Die Lampe stand am Fenster. In ihrem Lichte konnte das Kind sehen, wie draußen große Schneeflocken an der Fensterscheibe vorüberzogen. Die Mutter erzählte mit klagender Stimme der Nachbarin von den schweren Zeiten. Es war immer von Mark und Pfennigen die Rede. Das Kind hörte dem wie einem Wiegenliede zu. Mark und Pfennige schienen ihm etwas Trauriges zu sein, von dem sich endlose Geschichten erzählen ließen. Und die Schneeflocken kamen aus dem Dunkel und gingen in das Dunkel, einen Augenblick im Strahl der Lampe durch die Scheibe in das Zimmer sehend. Der kleine Erwin versuchte es, die endlose Geschichte von den Mark und Pfennigen zu verstehen, versuchte es, die Flocken zu zählen, die am Fenster vorüberzogen, bis ihm die Augen zufielen.

 

Ein leises Geräusch ließ ihn aufschauen. Rasts Schlitten war schon mitten auf der Brücke. Rast sagte etwas, und der Zwerg antwortete mit seiner gedrückten Altweiberstimme, schläfrig, als fahre er auf sicherer Landstraße hin. Nun waren sie – hinüber – wirklich hinüber und fort.

Werner schaute auf die Brücke – erstaunt. Es war ihm gewesen, als müßte es heute sein. Er hatte das so fest erwartet, daß es ihn ruhig gemacht hatte – heute würde er es sehen, daß der Schlitten mitten auf der Brücke verschwand – und nun – -

Werner sann vor sich hin. Es war kein Nachdenken, es war ein gespanntes aufmerksames Insichhineinhorchen.

Was wird geschehen?

Auf die Brücke wollte – mußte er hinauf.

Gut! Er ging auf die Brücke hinauf.

Der feuchte Schnee machte die Bretter schlüpfrig. Er hatte sich in acht zu nehmen. jetzt stand er über dem Abgrund. Das Wasser unten war heute stumm. Eine leichte Eiskruste mochte darüber liegen. Werner bückte sich und befühlte die Bretter. Dieses lag ganz lose auf und war morsch. Werner rüttelte daran. Es saß doch fester, als er gedacht. Er spannte seine Kraft in. ja – nun gab es nach, ließ sich schieben, schwenken und fiel. Unten krachte die dünne Eisdecke, das Wasser gurgelte.

Jetzt brauchte einer die anderen Bretter nur mit dem Fuß zu stoßen und sie fielen auch.

Werner stieß sie mit dem Fuß, und wieder krachte unten das Eis und plätscherte das Wasser, unerträglich laut in all der Stille, erschien es Werner.

Vor ihm gähnte ein großes, schwarzes Loch. Er stand am Rande und schaute hinein. Eine schwere Mattigkeit machte ihm die Glieder weich, nahm ihm alle Kraft. Am liebsten hätte er sich auch in das schwarze Loch hinabgleiten lassen. Ein Aufschlagen des Wassers, ein Gurgeln und die tiefe Stille hätte sich auch über ihn gelegt, kühl und wohltuend.

Vorsichtig trat er den Rückweg an und setzte sich wieder auf den Baumstumpf. Er zündete sich eine Zigarette an, sah beim Schein des Zündholzes nach der Uhr. Es ging ihm durch den Kopf, daß der niederfallende Schnee jede Spur verwischte. Er dachte an seinen Gang heute morgen. Wie fern, wie fremd schien ihm der Werner, der in der Schulstube väterlich die Hand auf die blonden Kinderköpfe gelegt und mit den Kindern »Vom Himmel hoch« gesungen hatte. Ja, so ein friedlicher Pastor hat es gut!

Unendlich langsam verrannen die Stunden heute, und die gespannte Wachsamkeit des Ohres war ermüdend. jeder Ton, das Herabgleiten des Schnees von den Zweigen, der Fall eines Tannenzapfens, das Knacken der Eiskruste unten auf dem Wasser, alles hallte so erschreckend in ihm wider.

Da war es aber wirklich, das dumpfe Aufschlagen des Pferdehufes auf den Schnee.

Werner erhob sich. Alles in ihm war furchtbar angestrengte Aufmerksamkeit. Er versuchte es, durch die niederfallenden Flocken zu sehen, versuchte es, mit dem Ohr die Entfernung zu messen, die der herannahende Schlitten durchmaß. – Jetzt war er an der alten Tanne. – Jetzt sah er den Kopf des Pferdes, er mußte dicht vor der Brücke sein – – Werner trat vor.

»Halt!« rief es aus ihm heraus.

Rast riß das Pferd zurück und hielt.

»Wer ist da?« fragte er.

»Fahren Sie nicht weiter«, sagte Werner.

»Ja – warum?«

»Weil die Brücke eingestürzt ist, – da – in der Mitte.«

»So.«

Rast ließ das Pferd einige Schritte zurückgehen, stieg dann aus.

»Gebrochen, sagen Sie«, meinte er, »wie wissen Sie das?«

»Ich weiß es«, entgegnete Werner ungeduldig.

»Hm – danke.« Rast stapfte durch den Schnee zu Werner hin: »Ah! Der Herr Pastor! Ich glaubte schon Ihre Stimme zu erkennen.«

»Die Brücke ist in der Mitte eingebrochen«, erklärte Werner in geschäftsmäßigem Ton, »Sie wären unbedingt hinuntergefallen.«

»Na –, da hab’ ich wieder einmal Glück gehabt«, sagte Rast und lachte.

»Und Sie – sind Sie deshalb hier?«

»Ich – ich war hier«

»Wollen wir den Schaden mal ansehen«, meinte Rast.

Er ging auf die Brücke hinauf, stand an dem Loch. Werner schaute ihm nach. Er hätte fortgehen können. Er hatte ja hier nichts mehr zu tun. Aber er blieb, stand da, träge und gedankenlos. Rast kam zurück.

»Seltsam!« sagte er, »wie das geschehen konnte! Sie wissen das natürlich nicht? Nein, wie sollten Sie.«

Rast bog seinen Kopf sehr nah an Werners Gesicht heran. Werner sah zwischen dem schwarzen Bart die weißen Zähne blitzen. Lachte Rast?

»Aber kommen Sie, Pastor«, sagte Rast besorgt, »setzen Sie sich in den Schlitten. Sie müssen gefroren haben. Nein, nein, keine Einwendungen. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie sind, was man so nennt, mein Lebensretter.«

Er drängte Werner in den Schlitten hinein, deckte ihn sorgsam zu.

Werner ließ es geschehen. Willenlosigkeit lag lähmend auf ihm, wie wir sie in einem schweren Traum empfinden, wenn wir die düsteren Traumereignisse widerstandslos über uns ergehen lassen müssen.

Rast ergriff die Zügel, wandte den Schlitten und fuhr in den Wald hinein.

Im Fahren unterhielt er Werner liebenswürdig.

»Verfault war das Ding genug, ich hätte längst erwartet, daß es einstürzt. Jedesmal, wenn ich da hinüberfuhr, gab es eine angenehme kleine Spannung. Ich bin Spieler und bin gewohnt, Glück zu haben. Da hier keine Bank ist, sollte die Brücke sie ersetzen. Sie wissen, wenn man gewohnt ist, Glück zu haben, vergrößert man gern den Einsatz. – Immerhin, merkwürdig, daß sie so in der Mitte brechen konnte. Als ob jemand die Bretter aufgerissen hätte. Merkwürdig.«

So plauderte er fort. Er fragte nicht, wie Werner denn in den Wald kam, wie er von dem Loch in der Brücke wußte. Er sprach vom Wetter. Dieser verdammte feuchte Schnee, der kroch einem in die Kleider hinein. Man fror bis auf die Knochen.

Der Schlitten hielt. Das war ja der Moorkrug.

»Steigen sie aus, Herr Pastor«, sagte Rast. »Wir müssen uns ein wenig erwärmen, sonst haben wir beide die Erkältung weg. Auf die Lebensrettung müssen wir eins trinken. He – Jost – Karl.«

Der Krüger erschien eilfertig. Sein mürrisches Gesicht grinste unterwürfig.

»Ah, der Herr Baron.«

»Ja – ja! Damkewitz, trocknen Sie den Gaul ab. Lassen Sie sich einen Grog geben, so!«

Werner folgte Rast in den Krug mit der traumhaften Willenlosigkeit, die er nicht abschütteln konnte. Alle Aufregung in ihm hatte sich gelegt, nur etwas wie Neugierde lebte in ihm, Neugierde, wie dieser entsetzliche Traum weitergehen würde.

Die Lampe wurde im Herrenzimmer angesteckt, Feuer im Ofen angemacht.

»Und nun Ihren Sündersekt«, befahlt Rast: »Ein armer Jude hat nämlich Sekt hier bei dem Jost einmal versteckt, um ihn bei Gelegenheit über die Grenze zu schaffen. Na, den Juden haben die Grenzreiter wohl geholt, und unser Jost verkauft den Sekt an zuverlässige Kunden. So geht es im Leben. Aber Pastor, Sie haben gefroren, Sie sind ja ganz weiß im Gesicht. Setzen Sie sich nah an das Feuer. So! Nun wird’s noch ganz gemütlich werden.«

Der Wirt brachte den Wein. Rast schenkte die Gläser voll.

»Ja, das wird besser sein, als unten im schwarzen Loch liegen«, meinte er: »Ein eigentümliches Gefühl ist es doch, so nah an dem schwarzen Loch gestanden zu haben. Nur wenige Schritt und dann die große, kalte Angelegenheit. Brr! Statt dessen sitzt man hier in angenehmer Gesellschaft, wärmt sich und trinkt Josts Sündersekt.«

Er hob sein Glas: »Prosit! Stoßen Sie an, Pastor. Auf Ihre Gesundheit, mein Lebensretter.«

»Prosit«, sagte Werner und trank sein Glas schnell aus. »Er ist gut, der Wein«, bemerkte er und hielt das leere Glas Rast hin. »Ja, der tut gut«, meinte Rast. »So ist’s recht«, fügte er hinzu, als er sah, daß Werner auch dieses Glas auf einen Zug leerte. Seine schönen Samtaugen ruhten freundlich und wohlgefällig auf Werner.

»Geschmeckt? jetzt wird’s besser?« fragte er besorgt.

»Das wärmt«, erwiderte Werner und lächelte müde.

»Also!« Rast schien wesentlich erleichtert zu sein, als er Werner lächeln sah: »Wissen Sie, Pastor, Sie sind ein famoser Mensch. Das hab’ ich gleich gewußt, als ich Sie sah. Ich sagte noch zu – zu einer Dame: ›Der Pastor Werner muß Glück bei Frauen haben, wenn ich ein Weib wäre … ‹«

Werner zuckte die Achseln.

»Bei einer Frau.«

»Natürlich«, fiel Rast ein, »die Frau Gemahlin. Habe das Vergnügen gehabt. Scharmante Dame. Nein, wirklich, Pastor, Sie waren sozusagen meine unglückliche Liebe, denn ich bin Ihnen leider nicht sympathisch, das sagten Sie vorigen Abend. Nichts zu machen! Aber es freut mich doch, daß gerade Sie mein Lebensretter sind. Prosit – Lebensretter.«

»Ach, lassen Sie doch den Lebensretter«, sagte Werner ärgerlich.

»Warum«, fragte Rast, »für Sie bedeutet das vielleicht wenig, aber für mich ist das wichtig. Wo wäre ich jetzt ohne Sie! Gar nicht auszudenken! Wenn ich daran denke, kommt so ›n Schwindel über mich. Prosit! Sie – Jost – eine Flasche.«

Sie hatten schnell getrunken. Werner fühlte es, wie der Wein ihm zu Kopf stieg, wie die Gegenstände und Ereignisse ihre Sachlichkeit und Wirklichkeit verloren. Er und Rast und das Zimmer mit den roten Vorhängen an dem kleinen Fenster, das große Ofenfeuer, Marri, die halb nackt in ihrer lasterhaften Üppigkeit ab und zu ging, all das war wie eine Erscheinung, die gleich verschwinden würde.

»Seltsam ist es immerhin«, hörte er Rast nachdenklich sagen, »gerade in der Mitte. Ich bin doch vor wenig Stunden hinübergefahren. Ob es so von selbst … ?«

»Morsch genug war es«, hörte Werner sich sagen.

»Allerdings«, gab Rast zu. »Sagen Sie, Pastor – ob da vielleicht einer hinübergefahren ist – und – –«

»Ach nein!« meinte Werner. »So – nicht.« Rast dachte nach, dann rückte er näher an Werner heran mit einer vertraulichen Mitteilung. »Hören Sie, Pastor – Lebensretter –, ich kann Ihnen sagen, oft, wenn ich da hinüberfuhr, ist mir der Gedanke gekommen, das wär’ so ’ne Gelegenheit für einen, dem ich unbequem wäre. Ein paar Bretter heraus, die anderen so auf der Kippe, die reine Mausefalle. Ich bin unten. Kein Mensch wundert sich darüber. Jeder hat es erwartet, daß ich einmal den Hals breche. Ja, das wäre eine Gelegenheit – was?«

»Und wer konnte das sein?« fragte Werner und sah Rast aufmerksam an. – »Wie er heranschleicht«, dachte Werner. Es unterhielt ihn zu sehen, wie der Mann vorsichtig ihn einkreiste.

»Ich meine nur so«, fuhr Rast fort. »Die Aufgabe muß nicht leicht gewesen sein. Denken Sie sich, auf den verdammt schlüpfrigen Brettern zu stehen und zu arbeiten. Das muß nicht leicht gewesen sein.«

»Schwindelfrei muß einer dazu schon sein«, warf Werner hin.

»Schwindelfrei, auch das«, gab Rast zu, »und dann, ein oder der andere Nagel steckte wohl noch unten in den Latten – und dann, das große Brett –«

»Sehr morsch« – wandte Werner ein.

»Immerhin«, sagte Rast, »ein hübsches Stück Arbeit. Alle Achtung. Ob der da wo im Gebüsch gestanden hat und gewartet, daß ich in die Falle gehe? Was denken Sie? An seiner Stelle hätte ich gewartet – bis – bis es unten aufklatscht. Das hätte mich gefreut – wenn ich das gewollt hätte. Ob er da war? Sie haben nichts bemerkt?«

Rast nahm sein Glas, trank langsam daraus und sah über den Rand des Glases hinweg Werner mit seinen sentimentalen Augen sinnend an.

»Sie haben ihn nicht gesehen?« wiederholte er leise.

»Wen?« fragte Werner leise zurück.

»Nun – ihn –, der’s getan«, sagte Rast.

Werner schwieg einen Augenblick, stützte beide Arme auf den Tisch und schaute in das Feuer.

 

»Doch –« sprach er dann langsam in das Feuer hinein – »er war da.«

»Oh! Wirklich« – Rast zog ein wenig die Augenbrauen in die Höhe, wie in leichtem Erstaunen.

»Ja, er wartete«, fuhr Werner fort, »er wartete. – Ich wartete.«

Etwas wie Spott klang aus der Stimme, die das sagte, Spott über den anderen, der durchschaut war.

Rast blieb in seiner sinnenden Stellung, er sagte nur:

»Ja, natürlich wußt’ ich’s.«

Beide Männer schwiegen, stützten sich mit den Armen schwer auf den Tisch, wie Leute, die müde sind, und sahen dem Ofenfeuer zu.

Plötzlich richtete sich Rast auf, griff nach seinem Glase:

»Prosit, Pastor, prosit, Lebensretter! Natürlich wußt’ ich’s. Auf Ihr Wohl! Hier in der Gegend sind Sie der einzige, der so was kann. Teufel noch einmal, so was! Eine Falle wie für einen Wolf. Herr, Sie müssen ordentlich hassen können. Aber gekonnt, bis zu Ende gekonnt haben Sie’s auch nicht.«

»Nein«, sagte Werner wie in Gedanken, »das sollte nicht sein. Sie waren nicht in meine Hand gegeben.«

Rast lächelte sein liebenswürdiges Lächeln.

»Schade, theoretisch schade. Nicht in Ihre Hand gegeben, das ist Altes Testament, nicht wahr? Wirklich, die Sache hat was Alttestamentarisches. – Einen Jüngling für meine Wunde, und eine Jungfrau für meine Schwären – so ungefähr sagt auch einer der alten Helden. Nicht? Aber verzeihen Sie noch eine Frage, tut es Ihnen jetzt leid, daß Sie es nicht bis zu Ende gekonnt? Sie möchten lieber, daß ich dort in dem Loch liege, als daß ich hier sitze und Sekt trinke? Nicht?«

Werner erhob sich von seinem Stuhl und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken, wie er es gewohnt war. Die seltsame Traumschlaffheit wollte er von sich abschütteln. Dann blieb er vor Rast stehen und sagte ruhig und laut:

»Baron. Mit dem, was ich Ihnen gesagt habe, können Sie tun, was Ihnen beliebt. Vielleicht gibt es Ihnen irgendein Recht auf mich. Aber ich bestreite Ihnen das Recht, mich auszufragen, sich da einzumischen, was ich und meine Tat miteinander auszumachen haben – – – «

»Aber lieber Pastor«, unterbrach ihn Rast, »ich hoffe, ich habe Sie nicht verletzt. Sie haben recht, es war taktlos von mir, diese Frage zu stellen. Sie können ruhig sein, das wird nicht mehr vorkommen, keine Frage. Für eine Unterhaltung in Fragen sind wir beide zu gut erzogen. Und dann, Sie sprechen von einer Tat. Hier gibt es keine Tat, kaum das Gespenst einer Tat. Und Rechte, welche Rechte soll ich haben? Ich bin für Ihre Mitteilung dankbar, sie hat mich sehr interessiert. Wenn ich Ihnen einen Gegendienst leisten kann, wird es mich freuen.«

Werner stand noch immer und sah auf Rast hinab. Plötzlich ging ein merkwürdig hochmütiges Lächeln über sein Gesicht.

»Sie sind witzig, Baron«, sagte er, »und Sie fühlen sich mir jetzt sehr überlegen. Aber sehen Sie, was auch geschehen ist, mir steht meine Tat, trotz allein, doch höher als Ihre Taten. Überlegen sind Sie mir nicht.«

Rast war aufgesprungen.

»Ihre Tat, die Sie nicht tun konnten«, rief er höhnisch.

»Das ist meine Sache«, erwiderte Werner.

Rast machte eine leichte, bedauernde Handbewegung.

»Lassen wir das. Schade. Man hätte herzlicher auseinandergehen können. Also, leben Sie wohl, Herr Pastor, besten Dank für die Lebensrettung und den interessanten Abend. Wie gesagt, schade, daß der Pastor dazwischen kommt, wenn es anfängt, gemütlich zu werden-«

Werner verbeugte sich in seiner feierlichen, befangenen Art und ging hinaus.

Draußen hing schon ein blaßgelbes Lichtband am östlichen Horizont. Über dem frischgefallenen Schnee kam der Tag sehr weiß und rein herauf.

»Bist du heute mit den dummen Rechnungen fertig?« fragte Lene. »Du schläfst ja keine Nacht mehr.«

»Ja – fertig«, antwortete Werner und drückte sich fester in den Sessel am Kamin hinein.

»So sing’ wieder«, bat Lene.

»Nein – ich kann nicht singen. «

»So erzähl’ was.«

»Nein«, sagte Werner. »Erzähl’ du was, Kind, etwas, das ich kenne, wie ihr als Kinder zum Großvater kamt und in dem alten Garten unter den Johannisbeerbüschen lagt und die sonnenwarmen Trauben aßt.«

»Die alten Geschichten!« meinte Lene.

»Ja – alte, stille Geschichten.«

Lene erzählte gehorsam. Werner hörte dem Tonfall der angenehmen, hellen Stimme zu. Seine Gedanken gingen ihren Weg, einen gewohnten Weg. Er lebte die stillen Abende in Dumala durch. Er sah das Aufleuchten von Karolas Augen, das Zucken des Mundes. Er hörte die Worte, die sie gesprochen, den Ton der Stimme. Es war ein ruhevolles Gedenken, wie wir einer gedenken, die wir verloren. Alles andere schien ausgelöscht. Die Nacht im Walde, sie stand in keiner Verbindung mit seinem Leben. Sie gehörte zu ihm, sagte er sich, und doch vermochte er sie sich nicht zu eigen zu machen. Das Leben ging weiter, als wüßte es nichts von dieser Tat. Was ist eine Tat, die nicht gegen uns aufsteht und uns an sich erinnert?

Nur nachts zuweilen, im Traum, stand er auf der schmalen Brücke, und etwas fiel in das Wasser, und das Wasser spritzte auf, schwarz wie Tinte, und vor ihm gähnte das dunkle Loch. Dann erwachte er todmüde, wie gehetzt von dem Traum.

Mit Rast traf er eines Nachmittags in Debschen bei der Baronin Huhn zusammen.

Rast begrüßte ihn sehr herzlich, als seien sie alte Freunde. »Ach, Pastor! Angenehm, daß man sich wieder trifft.«

Beide hörten geduldig den Dienstbotengeschichten der Baronin zu. Als sie aufbrachen, ließ Rast seinen Schlitten ein wenig vorausfahren. Die Sonne ging so hübsch unter, er wollte einige Schritte gehen.

Werner ließ es schweigend geschehen, wie wir geduldig etwas Lästiges aus guter Erziehung ertragen.

Schulter an Schulter gingen die beiden Männer die Pappelallee entlang. Rast sprach von gleichgültigen Dingen.

»Gott sei Dank! Es friert, gut für die Jagd. – Schade, daß Sie nicht mehr jagen, Pastor. Die Jagd ist doch das einzige, wirkliche Vergnügen dieser Einöde. Es ist vielleicht kindlich, primitiv. Wir verstecken uns und freuen uns, daß wir klüger sind als ein Fuchs oder ein Reh. Nicht gerade ehrgeizig das! Aber Hinterhalte legen, das liegt uns allen im Blut, und da die Gelegenheit sonst immer seltener wird – – Unsere Urväter waren ja doch alle gewiegte Fallensteller, nicht wahr?«

Er ließ seine Zähne zwischen dem Bart in einem breiten Lachen blitzen.

Werner lachte höflich mit. »Ja – ja! Vielleicht.«

Sie trennten sich mit einem Händedruck.

Zu Hause fand Werner einen Brief vom Baron Werland vor. Werland machte ihm Vorwürfe wegen seines langen Ausbleibens. »Ein Beichtvater«, hieß es in dem Brief, »hat nicht das Recht, selbst das Beichtkind im Stich zu lassen, das ihm die langweiligsten Geschichten beichtet. Also kommen Sie.«

Werner wunderte sich, als hätte er es anders erwartet, Dumala ganz so zu finden, wie er es immer gesehen hatte – die tiefe Dämmerung in dem Zimmer, das diskrete, faltige Gesicht des alten Jakob, das Kammzimmer mit der grünen Lampe.

Werland, in die rote Decke gewickelt, saß am Kamin, und die Augen schauten flackernd aus den tiefen Höhlen.

»Nun, Seelsorger«, rief er, »Sie entkommen mir nicht! Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Nur keine Entschuldigung. Machen Sie, als ob Sie gestern hier gewesen wären.«

Karola saß auf ihrem Stühlchen und rieb das Bein ihres Gatten. Sie nickte Werner zu, als hätte sie ihn wirklich eben erst gesehen, und es begann eine ziemlich träge Unterhaltung, wie unter Leuten, die sich zu häufig sehen und sich wenig Neues mitzuteilen haben. Werland schloß zuweilen die Augen, verfiel in leichten Schlaf, ans dem er dann auffuhr, um etwas zu sagen.

»Wie steht es mit der Seelsorge, Pastor?«

»Oh – danke, es geht«, erwiderte Werner.

»So! Ein merkwürdiges Geschäft«, meinte Werland. »Muß schwer sein, die Buchführung, die Bilanz – soundso viel Seelen plus – so viel minus.«

Werner lachte. »Ja, das ist schwer bei einem Kapital, das noch zirkuliert. Die große Bank dort oben wird’s dann schon – –«

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