Bunte Herzen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ja, es war so, Herr Pastor«, begann er. »Weil die Hasen jetzt so fest liegen, sind die Wilddiebe hinter ihnen her in letzter Zeit, die Racker. Nun denk’ ich, ich werd’ mal nachsehen. Ich steh’ auf und geh’ ins Revier. So nach eins kann es gewesen sein. Gefroren hatte es ein bißchen, das Moos krachte so beim Gehen. Heute werden die Hasen nicht festliegen, denk’ ich. Und wie ich zur Galgenbrücke komme, denk’ ich, ich setz’ mich hin und rauche eine Pfeife. Und wie ich sitz’ und rauch’, da seh’ ich vor mich hin, und da seh’ ich, über die Brücke geht eine Spur – eine frische Schlittenspur. Die Bretter waren weiß vom Reif und – eine Spur. Da ist einer gefahren, siehst du mal an! Von der Sielenschen Seit’ nach der Dumalaschen. Das kann nur der Teufel sein. Ich sitz’ und denk’: der muß Eile gehabt haben, auf dem kürzesten Wege nach Dumala zu kommen. Und richtig, da kommt was von der Dumalaschen Seite, den kleinen Weg hinauf. Kommt still, still, ohne Schellen, ein großes, schwarzes Pferd und ein Schlitten, und drin sitzt der Sielensche Baron, der Bart weht nur so. Neben ihm der kleine Diener, die kleine Kröte, der schläft fest. So kommen sie, gerade auf die Brücke los und rauf und auf das Pferd losgeschlagen und hinüber, wie ein Blitz und fort, den kleinen Weg nach Schloß Sielen. Ist’s nu der Baron gewesen oder ist’s der Teufel gewesen. Fährt der über die Galgenbrücke!«

»Betrunkener Kerl«, sagte Werner heiser, »was du gesehen hast!«

»Ganz gut, Herr Pastor«, erzählte Erman weiter. »Das sagt’ ich mir auch den anderen Morgen. Na, und die nächste Nacht geh’ ich um dieselbe Zeit und sitz’ dort und rauch’ und warte. ja, und da kommt es wieder den kleinen Weg nach Dumala herauf. Das schwarze Pferd, und der schwarze Herr sitzt im Schlitten, der Bart weht, und der kleine Diener schläft. Ich sah alles hübsch deutlich. Und wieder über die Galgenbrücke herüber. Der Diener wacht nicht auf, und die Bretter knacken, ganz schwindlig wird mir’s, nun und da sind sie hinüber und fort. Mit dem ist’s nicht richtig, mit dem schwarzen Baron. Über die Galgenbrücke – Gottchen!«

»Nach ein Uhr?« fragte Werner.

»Ja, so was wird’s wohl gewesen sein«, meinte Erman.

Werner stand einen Augenblick schweigend da, sehr bleich und nagte an seiner Unterlippe.

»So über die verfaulten Bretter«, erzählte Erman weiter, »unten gurgelt das Wasser. Ist das ein Gespenst, denk’ ich! Du gehst, denk’ ich mir, und schaust dir die Spur an. Gespenster haben keine Spur. Und richtig, eine gute Schlittenspur. Sie geht, – geht den kleinen Weg nach Dumala runter, bis an die hintere Pforte des Gartengitters – und da hinein. Die Pforte war zu, aber nun wußt’ ich, wo er war. Was er da zu tun hat, das ist nicht meine Sache. Aber der hat Eile. Über die verfaulten Bretter!«

Werner hatte ganz still zugehört.

»Über die verfaulten Bretter«, wiederholte Erman unsicher. Es war ihm unheimlich, daß der Pastor so stumm und bleich dasaß.

»Du verdammter, besoffener Kerl«, donnerte Werner plötzlich los. Er war aufgesprungen, packte den erschrockenen Erman an die Brust, schüttelte ihn, als sei er ein Bündel Lumpen. »Was schwatzest du hier? Bin ich dein Narr, daß du mir deine besoffenen Geschichten, deine verdammten Schnapsgeschichten vorerzählst?« Und er schüttelte ihn, hob ihn in die Höhe, am liebsten hätte er ihn gegen die Wand geworfen, daß ihm alle Knochen brachen … dann plötzlich ließ er ihn los, wandte sich ab. »Geh!« – sagte er.

Erman wimmerte leise:

»Ach Gottchen, Gottchen. Was kann ich dafür! Meinetwegen kann der schwarze Baron sich auf der Galgenbrücke den Hals brechen. Ein armer Mann trinkt Schnaps. Das ist Sünde, sagt der Herr Pastor. Herrschaften haben wieder ihre Sachen. Na, wenn einer Augen hat, sieht er mal was. Da kann ich nichts dafür.«

So vor sich hinbrummend, schob er sich langsam zur Tür hinaus.

Werner saß regungslos auf dem Sessel am Schreibtisch die langen Nachmittagsstunden hindurch. Vor ihm lag ein Kontobuch aufgeschlagen. Die Sonne ging unter. Rote Abendlichter zogen über die Wand. Die Blätter des Kontobuches wurden rot. Werners Bart flammte rotgolden auf. Dann verblaßten und erloschen die Lichter. Die Dämmerung fiel wie feiner Aschenregen auf die Gegenstände. Lene ging draußen ab und zu. Es roch nach Kaffee. Lene steckte den Kopf durch die Türe:

»Kommst du?« fragte sie.

»Nein, trink nur allein den Kaffee«, erwiderte Werner, »ich will die Arbeit hier beenden.«

Und die ganze Zeit über war es ein einziger Gedanke, der in ihm arbeitete, eintönig und eigensinnig sich wiederholte: »Gewißheit – wie kannst du Gewißheit haben?« Dieser Gedanke schmerzte, als sei die Gewißheit schon da, ein zorniger, dumpfer Schmerz, an dem sein ganzer, großer Körper teil hatte, als sei etwas, das zu ihm gehörte, gewaltsam von ihm losgerissen worden.

Seine Abendbesuche in Dumala hatte Rast in letzter Zeit eingestellt. Karola schien ihn auch nicht zu erwarten, sie horchte nicht hinaus nach dem Schellengeklingel. Das sagte sich Werner jetzt. Also – über die Galgenbrücke – den geraden Weg nach dem Park von Dumala – zu der hinteren Pforte und dann – dann –

»Du bist ja im Finstern, du Armer.« Es war wieder Lene, die in das Zimmer schaute.

Werner fuhr aus seinen Gedanken auf. »Ja – ich – ich -hab’ über etwas nachgedacht.«

»Soll ich die Lampe bringen?«

»Nein – nein – ich komme an den Kamin.«

Er sehnte sich jetzt nach Licht, nach Traulichkeit, nach Lenes Geplauder, dann würde es vielleicht nachlassen, dieses angestrengte, ermüdende Denken des einen Gedankens.

Er saß am Kamin, müde wie nach einem langen Gange.

»Sprich – erzähl«, sagte er zu Lene. »Du warst bei Doktors?«

Ja, Lene war bei Doktors gewesen. Die Kinder waren krank. Das Mädchen hatte eine Halsentzündung, das Kleine zahnte.

»So – wirklich.« – Werner versuchte es, sich dafür zu interessieren.

Der Doktor Braun war aus Debschen gekommen. Die Baronin hatte einen Gichtanfall.

»Ja – das geht so weiter«, murmelte Werner. Er war mit seinen Gedanken wieder auf dem Wege von der Galgenbrücke nach dem Park von Dumala – und dort – geschah ihm ein großes Unrecht.

»Was hast du denn jetzt soviel zu tun?« hörte er Lene fragen.

»Ich? – ja – du weißt – am Ende des Kirchenjahres ist’s so«, antwortete Werner. »Ich werde ein gutes Stück der Nacht zu Hilfe nehmen müssen.«

»Die dummen Rechnungen!« seufzte Lene.

Der Abend verging für Werner traumhaft genug. Lene war heiter und gesprächig, daraus schloß er, daß auch er einen gemütlichen Eindruck machte. Lene freute sich beim Abendessen, daß es ihm schmeckte, also schien es, daß er mit Appetit aß.

Später zog er sich wieder in sein Zimmer zurück, uni zu arbeiten.

Er stützte den Kopf in die Hand und schaute in das Kontobuch.

Jetzt wußte er es, er mußte hinaus, er mußte dort an der Brücke und am Parkgitter stehen.

Nun wartete er, daß die Stunde kam. Er horchte hinaus, wie es stiller im Hause wurde, wie die Uhren schlugen. Lene kam und ließ sich auf die Stirne küssen.

»Hast du noch viel zu tun, du Armer?« fragte sie.

»Es geht«, antwortete er freundlich. »Gute Nacht.«

Werner wurde unruhig. Er trat an das Fenster. Die Nacht war sternhell. Ein scharfer Nordwind fegte über die Ebene.

Jetzt litt es Werner nicht mehr in dem Zimmer, bei der Lampe. Es war ihm, als könnte er etwas Wichtiges versäumen.

Leise zog er sich seinen Pelz an, stülpte die Mütze auf den Kopf und schlich vorsichtig zum Hause hinaus.

Draußen blieb er einen Augenblick stehen und bedachte sich. Er war ganz ruhig. Ein sicheres Wollen erfüllte ihn. Er machte seinen Plan, wie der Jäger, der ein Wild einkreist.

Durch die Tannenschonung mußte der Schlitten kommen. Dort konnte er auch, durch die kleinen Tannen verborgen, den Weg nach der Galgenbrücke bis zum Parkgitter gehn.

Er trat seinen Weg an, sah zum Sternhimmel auf, bewunderte das Flimmern. Wie geschäftig solch ein Sternlicht ist, keinen Augenblick ruhig. Über den ganzen Himmel dieses eifrige, goldene Sichregen. Die jungen Tannen dufteten erfrischend bitter und strichen mit ihren vom Reif überglasten Nadeln, wie mit kleinen, kalten Krallen, über Werners Wange.

Ein Fuchs kam des Weges daher, den Kopf am Boden suchte er wohl eine Spur, die ihm verlorengegangen sein mochte. Furchtlos ging er an Werner vorüber.

Werner mußte lachen.

»Raubtiere, die sich im Revier begegnen«, ging es ihm durch den Kopf. Im Gehen hatte er fast vergessen, warum er hier war. Es tat wohl unter dem Sternhimmel, mitten unter den stillen Bäumen und Tieren zu stehen, sich wie einer der Ihren zu fühlen, verantwortungslos und gedankenlos.

Jetzt sah er die Galgenbrücke vor sich – sehr hoch über der finstern Kluft hingen die beschneiten Bretter, ein heller Streif in all dem Schwarz. »Ja – hier hinüber, das ist der allernächste Weg nach Dumala« – dachte Werner.

Und wirklich, über den weißen Strich glitt etwas, ein dunkler Schatten, dann wie ein zierliches, schwarzes Spielzeug – ein Pferd – ein Schlitten. Lautlos huschte er über den Abgrund hin. – Nun war er mitten auf der Brücke – schwebte wie frei in dem Dunkel – jetzt mußte – mußte er versinken. Werner schien es, als könnte er mit seinem Wunsch, mit seinem Willen das zierliche, schwarze Spielzeug versinken machen. Sein Wunsch zerrte an den morschen Brettern, um sie zu brechen.

Der Schlitten war herüber.

Etwas wie eine große Enttäuschung machte Werner das Herz schwer.

Der Schlitten näherte sich ihm, er hörte den Hufschlag im weichen Schnee.

Von einer dichten Hecke junger Tannen verborgen, spähte er hinaus, wie das Gefährt an ihm vorübereilte. Er sah deutlich Rast, mit wehendem tintenschwarzem Bart. Er kutschte und hatte eine Zigarre im Munde. Neben ihm Damkewitz, der Groom, dieses seltsame Geschöpf, groß wie ein zehnjähriger Knabe, mit dem verwitterten Kindergesicht, das voller Falten war, wie gedörrt. Rast schnalzte mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben, und der große, schwarze Traber griff mächtig aus. – Nun waren sie vorüber. Der Duft der Zigarre mischte sich mit dem herben Geruch der Tannen.

 

Werner ging den Weg, den der Schlitten gefahren war, hinab, ohne deutlichen Gedanken, mechanisch, ein wenig müde, wie wir es sind, wenn eine starke Spannung plötzlich nachgelassen hat, er ging, um das Programm, das er sich gemacht hatte, zu erfüllen. Da war die Tannenschonung, – der Baumgarten – die Eichenpflanzung und hier das Parkgitter.

Er versuchte es, die Pforte zu öffnen. Sie gab nach. Hinter den Bäumen, wie hinter einem dichten weißen Gitterwerk, lag das Schloß, eine große, schwarze Masse.

Als Werner darauf zuging, hörte er irgendwo den Ton eines aufschlagenden Pferdehufes. Er schaute sich um. ja, dort in dem kleinen Schuppen, der im Sommer dazu diente, allerhand Gartengeräte aufzubewahren, stand der Schlitten mit dem schwarzen Pferde. In dem Schlitten, ganz in Pelzdecken gehüllt, saß Damkewitz und schlief.

»Wie das alles stimmt«, dachte Werner. Er fühlte einen Augenblick die Befriedigung eines Rechners, dem sein Exempel überraschend gut ausgekommen ist.

Er ging bis zu der großen Fliederhecke, dem alten Flügel und dem Turm gegenüber, stand dort und sah das dunkle Gebäude an. Nirgends ein Lichtschein. Der wahrte sein Geheimnis, dieser »Sündenflügel«, wie Werland sagte. Kein Zeichen von Leben. Aber wie Werner dastand in den weißen Zweigen der Fliederhecke und hinüberstarrte, da war es ihm, als sehe er, was da drin vorging, sehe es mit unerträglicher Deutlichkeit – wie sie sich ganz schlank und weiß – mit flimmernden Augen zurückbiegt in seine Arme, die Lippen fieberrot und halb geöffnet. –

Werner tauchte seine Hand in die beschneiten Zweige, um sie zu fühlen, er faßte sie und knickte sie, ließ sie knirschen. Er mußte fühlen, wie er etwas zerbrach und zerstörte. – Das Dunkel des schweigenden Hauses war unendlich qualvoll. Wo sind sie? Wenn er nur einen Lichtschimmer sehen könnte! »Dort links im Turm. Ein Vorhang ist vorgezogen«, hörte er es neben sich flüstern.

Er schaute sich um.

Pichwit stand neben ihm. Im Sternschein schienen Sein Gesicht, die Augen, die Lippen – alles von der gleichen fahlen Blässe. Er zitterte vor Kälte und steckte die Hände tief in die Hosentaschen.

»Wo?« fragte Werner.

Er wunderte sich nicht, Pichwit neben sich zu sehen. Es war, als habe er das erwartet.

»Links, Herr Pastor«, sagte Pichwit höflich. »Sehen Sie scharf auf das linke Fenster am Turm. Am Rande des Vorhanges werden Sie einen schwachen Lichtstreif bemerken.«

»Ja – ja – ich seh’ es.«

»Das ist das Turmzimmer, in dem das alte, goldene Bett steht«, berichtete Pichwit.

Dann schwiegen beide. Sie standen nebeneinander und schauten zu dem schwachen Lichtstreifen am Turmfenster empor. Der eine hörte den beklommenen Atem des anderen und daneben einen leisen, dumpfen Ton, als ginge jemand sachte durch weichen Schnee. Das war das Pochen des eignen Herzens.

Die Schloßuhr schnarrte, als räuspere sie sich, und schlug zwei.

»Jetzt«, flüsterte Pichwit.

Im unteren Fenster des Turmes erwachte ein Lichtschein, verschwand, erschien tiefer unten.

»Sie steigen die Treppe herunter«, erklärte Pichwit.

Leises Knarren. Das Licht erschien in der Turmtüre. Frau Wandel, die alte Kammerfrau, hielt es und schützte es mit der Hand. Ihr geduldiges Pensionsvorsteheringesicht unter der schwarzen Spitzenhaube wurde einen Augenblick hell beleuchtet. Hinter ihr standen zwei. Die Schatten zweier Köpfe, sehr nahe beieinander, fielen auf die Wand. Endlich drängte sich Rasts breite Gestalt durch die Türe.

»Gute Nacht:«, sagte Frau Wandel feierlich.

»Schlafen Sie gut, Mutter Wandel«, antwortete Rast.

Die Türe schloß sich. Das Licht stieg wieder den Turm hinan.

Rast ging nahe an der Fliederhecke vorüber. Er pfiff leise vor sich hin, zündete sich eine Zigarette an. Das Zündholz beleuchtete grell sein Gesicht, den glänzenden Bart, die großen, braunen Samtaugen. Er ging vorüber. Pichwit und Werner lauschten. Das Knarren einer Fehmerstange drang zu ihnen, das Gleiten eines Schlittens, das vorsichtige Zuklappen eines Tores.

»Er ist fort«, flüsterte Pichwit. Da stand Werner nun mit seiner Gewißheit, nach der er sich gesehnt hatte, stand da und fühlte sich ganz ohnmächtig, ganz schwach, ganz elend. Er hätte heulen können wie ein Schuljunge.

»Gehn wir, Herr Pastor«, sagte Pichwit und berührte Werners Arm. Sie gingen durch die Parkwege, wo die Statuen in ihren hölzernen Winterhäuschen schliefen und die Rosen, dicht in Moos verpackt, auf den Beeten lagen.

Pichwit berichtete halblaut, mit einer klagenden Stimme, die zuweilen wunderlich umschlug, als mache ein Lachen oder ein Schluchzen sie unsicher.

»Das ist so vielleicht seit acht Tagen. Sie wissen, er kam des Abends nicht mehr. Sie rieb dem Baron wieder das Bein. Er war ruhig geworden. Ich wußte gleich, es geschieht etwas. Ich fühlte das. Sie sang jetzt zuweilen, wenn sie allein war, vor sich hin. Am Tage lag sie gern im großen Stuhl, die Arme hinter dem Nacken und lächelte. Sie wartete am Abend auch nicht mehr auf ihn. Ich suchte und suchte. Da – eines Nachts, ich konnte nicht schlafen – kam ich hier in den Park. Da wußte ich.« Er hielt einen Augenblick inne, dann fragte er: »Was werden Sie tun, Herr Pastor?«

»Ich?« erwiderte Werner. »Was kann ich tun?«

»Doch! Sie werden etwas tun«, sagte Pichwit. »Ich – ich kann nichts. Ich wollte zu ihm gehn und ihn zum Duell fordern. Ich glaube, ich könnte ihn erschießen, ich glaube, das würde mir gegeben werden. Aber – wer bin ich! Er würde mich auslachen. Über Pichwit lacht man ja. Das wäre für ihn nur eine Anekdote mehr. Und dann – ich – ich kann nicht. Sie hat es verboten.«

»Sie hat es verboten?« wiederholte Werner erstaunt.

»Ja – ja« – sagte Pichwit. »Ich sagte ihr gute Nacht. Da reichte sie mir die Hand und sagte – sagte leise, so daß die anderen es nicht hörten: ›Herr Pichwit ist mein treuer Page. Auf den kann ich mich verlassen.‹ Und da verstehn Sie, Herr Pastor, ich kann nichts tun. Wenn sie wollte, ich soll hier Wache stehn, während er oben ist, damit keiner sie stört, ich müßte es tun. Aber Sie – Herr Pastor, Sie!«

»Ach – ich!« sagte Werner matt.

Aber Pichwit wurde eindringlich. »Sie sind groß, Sie sind stark, Sie sind schön. Ach! Ich war so eifersüchtig auf Sie. Ich sah es, wie sie sich freute, wenn Sie kamen, und ich sah, wie Sie sich einander in die Augen sahen – ja, das hab’ ich gesehen. Ich war sehr unglücklich darüber. Aber jetzt – jetzt müssen Sie sie retten. Er darf sie nicht haben. Er ist schlecht und gemein, ich weiß das, ich fühl’ das. Was werden Sie tun, Herr Pastor?«

Werner rüttelte sich aus der schweren, traumhaften Müdigkeit auf, die ihn bedrückte.

»Pichwit«, sagte er streng, »was sprechen Sie da? Sie sind ja krank. Sie sprechen wie im Fieber. Gehn Sie, legen Sie sich zu Bett. Sie müssen ja krank werden, wenn Sie hier im Frost stehn.«

»Daran hab’ ich auch schon gedacht«, erwiderte Pichwit.

»Woran?«

»An das Krankwerden. Wenn ich krank werde, zum Sterben krank, wissen Sie, dann kommt sie zu nur, das wird sie wohl tun. Und dann sag’ ich ihr alles. Wenn man stirbt, dann wird man ernst genommen, dann steigt man in der Achtung. Nicht wahr? Ein Sterbender ist nicht lächerlich. Was er sagt, das wird gehört. Es ist schon vorgekommen, daß das Wort eines Sterbenden einen Lebenden gerettet hat … «

»Kind, Sie träumen«, unterbrach ihn Werner. »Gehn Sie, legen Sie sich nieder, decken Sie sich gut zu – und – keine Unvorsichtigkeiten.«

Werner hatte die Hand auf Pichwits Schulter gelegt. So redete er ihm väterlich zu.

Pichwit stützte den Kopf gegen Werners Arm und weinte.

»Nun, nun!« redete Werner ihm zu, wie einem Kinde. »Fassen Sie sich. Das hilft nichts. Gehn Sie. Gute Nacht.«

Pichwit richtete sich auf, wischte sich die Tränen aus den Augen, und plötzlich sah Werner ihn lächeln, sah auf dem bleichen Gesichte das hochmütige, überlegene Lächeln.

»Gute Nacht, Herr Pastor«, sagte er. »Ich weiß – Sie – Sie werden etwas tun.«

Damit verschwand er hinter den weißen Hecken.

Werner ging nach Hause. Schlafen wollte er, liegen und vergessen – nichts anderes.

Als Werner am nächsten Morgen erwachte, hatte er das Gefühl, als läge eine Aufgabe vor ihm, eine schwere Arbeit. Was war es?

»Sie werden etwas tun«, klang Karl Pichwits erregte Stimme ihm ins Ohr. Das war es!

Der Tag war hell, das Pastorat voll gelben Sonnenscheins. Lene war rosig und gesprächig. Während Werner seinen Morgentee trank, lachte er mit ihr über irgendwelche geringfügige Dinge.

Er ging an seine Amtsgeschäfte. Leute kamen. Er ermahnte und schalt sie, war väterlich und jovial. All das ging gut vonstatten, nur erschien es ihm alles so vorläufig. Eine Aufgabe wartete seiner, das andere war nur ein Hinbringen der Zeit bis dahin. Er dachte nicht weiter darüber nach, er hütete sich davor, sich selber Zeit zu lassen, um sich auf das zu besinnen, was vor ihm lag und lauerte.

Am Nachmittag ließ er den Schecken einspannen, um nach Schloß Sielen zu fahren. Das war’s, was er tun mußte, und der Pastor Werner tat es, der eine Pflicht erfüllte, nicht der törichte unbegreifliche Mann, der gestern im mächtigen Park von Dumala gestanden hatte, Stunde um Stunde, um zu dem Lichtstreifen oben am Turm emporzusehen, mit einem schmerzhaften Begehren.

Pastor Werner fuhr zu Behrent von Rast, um eine Pflicht zu erfüllen, eine Amtspflicht, und eine Freundschaftspflicht.

Während er durch das grelle Nachmittagslicht dahinfuhr, dachte er nicht darüber nach, was er sagen und was er tun wollte. Da es eine Amtspflicht war, mußte das von selbst kommen.

In Sielen wurde Werner vom Groom Damkewitz empfangen. Der Zwerg, sehr auffallend in die Rastschen Farben Gelb und Blau gekleidet, bedeckt mit großen Wappenknöpfen, sah wie ein abenteuerlicher kleiner Affe aus. Während er Werner durch die Zimmer geleitete, sprach er mit einer hohen, gedrückten Stimme, wie alte Frauen sie zuweilen haben.

»Der Herr Baron wird sich freuen. Der Herr Baron ist allein, und ihm wird die Zeit lang. Etwas Gesellschaft wird dem Herrn Baron angenehm sein.«

Werner fand Rast in einem großen Zimmer, das ein mächtiges Kaminfeuer stark überheizte. Überall lagen und hingen Teppiche. Rast hatte sich in einen Burnus aus weißem Tuch gehüllt, lag auf dem Diwan und rauchte.

»Der Pastor, das ist hübsch. Also Sie gedenken doch der Einsamen«, rief er Werner entgegen.

Werner war steif und befangen, wie meist am Anfang eines Besuches.

»Ja – ich habe mir erlaubt –«

»Famos«, unterbrach ihn Rast. »Setzen Sie sich, Herr Pastor. Was – das Feuer zu nah? Sehen Sie, ich friere hier immer. Diese alten Familienhäuser sind so gebaut, als sollten die Familien durch Kälte möglichst lange konserviert werden. Aber wenn die Familien sich dem Ende zuneigen, scheint es, als vertrügen sie diese Temperatur nicht mehr recht, sie schlagen dabei um wie guter Bordeaux.«

Rast lachte laut über seine eigene Bemerkung, und Werner lachte höflich mit.

»Ein Likör gefällig?« fragte Rast und goß aus einer vergoldeten Flasche einen rosenfarbenen Likör in ein Glas. »Nicht? Eine orientalische Erfindung, Rosenlikör aus wirklichen Rosen. Ein wenig süß – ja. Ich trinke ihn an kalten Tagen, denn er schmeckt wie destillierte, heiße Julitage. Aber nehmen Sie doch eine Zigarre.«

Rast war gesprächig, wie Leute es sind, die einen einsamen Tag verbracht haben und es nun ausnützen, daß sie jemanden haben, der ihnen zuhört.

»Ja, rauchen müssen Sie der Gerechtigkeit wegen. Bei einer Unterhaltung ist es ungerecht, wenn nur einer raucht, dadurch bekommt der andere einen zu großen Teil der Unterhaltung. Sehen Sie, wenn beide rauchen und dem einen geht die Zigarre aus, dann weiß man gleich, daß er ein zu großes Stück des Gespräches an sich gerissen hat.«

Werner lächelte.

»Nun, Herr Baron, in diesem Falle wollte ich auch mehr eine Mitteilung machen, als daß es hier auf eine Erwiderung ankäme.«

»Ah! Das ist etwas anderes«, meinte Rast.

Er lehnte am Kamin. Von dem weißen Burnus hob sich der Kopf sehr dunkel und ein wenig gewaltsam ab – das bräunliche, hübsche Gesicht, die blanken schwarzen Bartflammen zu beiden Seiten des Kinnes mit dem weichlichen Grübchen, die großen, braunen Augen mit dem feuchten, trägen Blick. »Ja – gewaltsam« – dachte Werner, als er ihn mit großer Abneigung betrachtete und mit dem Sprechen zögerte – »solchen gehört, wie den Zuchtstieren, ein Ring durch die Nase und angekettet in einem dunklen Stallwinkel, aus dem sie nur hervorgeholt werden, wenn sie nötig sind.«

 

»Die Sache ist die«, begann Werner, er hörte, daß seine Stimme sanft und pastoral klang: »Sie wissen, Herr Baron, ich komme durch mein Amt viel mit den Bauern der Gegend in Berührung und höre, was unter diesen Leuten gesprochen wird. Schließlich ist das Pastorat so eine Art Schallfänger für die Gerüchte, die durch das Kirchspiel schwirren. – Da ist mir nun ein Gerücht zu Ohren gekommen, das ich Ihnen, Baron, mitzuteilen für meine Pflicht hielt, weil – weil es dazu angetan ist, eine Dame zu kompromittieren. Wie gesagt, da es Sie betrifft, hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen davon Mitteilung zu machen.«

»Ah!« sagte Rast und schaute auf seine Zigarre nieder: »Sehr interessant. Worum handelt es sich denn?«

So leicht hier das gesagt war, Werner glaubte aus dem kühlen, ein wenig spöttischen Ton etwas wie eine Herausforderung herauszuhören, und das freute ihn, das machte ihn warm.

»Ich denke, auf die näheren Umstände einzugehen, ist wohl nicht nötig«, versetzte er. »Es handelt sich um – um nächtliche Fahrten, die beobachtet –, die bis zu ihrem Ziel verfolgt worden sind, aus denen Schlüsse gezogen werden, die einer Dame schaden können.«

Er bemühte sich, klar und geschäftlich zu sein.

»Und«, sagte Rast noch immer im leichten Unterhaltungston, »Sie, Herr Pastor, hielten es für Ihre Pflicht, mir das mitzuteilen?«

»Ja.«

»Für Ihre Pflicht als Pastor natürlich?«

Werner erhob ein wenig die Stimme, als er antwortete:

»Ja, als Pastor, gewiß – und als Ehrenmann und als Freund der betroffenen Familie.«

Rast wehrte mit der Hand ab und sagte bittend: »Nein, Herr Pastor, nicht das alles. Bleiben wir bei dem Pastor. Als Pastor, bitte.«

»Als was Sie wollen«, fuhr es Werner jetzt ziemlich grob heraus.

»Sehen Sie«, meinte Rast, »das mit dem Ehrenmann. Ein jeder setzt bei dem anderen voraus, daß er weiß, was ein Ehrenmann zu tun hat. Gewiß – sonst wär’s ja beleidigend. Aber es ist besser, sich da nicht weiter auf Einzelheiten einzulassen. Es entstehen dann doch leicht Meinungsverschiedenheiten. Und Freund, mein Gott, Gefühle komplizieren die Sachen nur. Aber Pastor –, Pastor ist klar. Sie sind als Pastor verpflichtet, sich in die Angelegenheiten anderer Leute zu mischen, das ist Ihre Amtspflicht, peinlich vielleicht, aber sie wird erfüllt. Sehr achtbar!«

»Es handelt sich hier nicht um mich«, versetzte Werner hitzig. »Es handelt sich darum, daß eine Dame … ?«

»O bitte«, unterbrach ihn Rast sanft, »doch, es handelt sich um Sie. Sie tun Ihre Pflicht. Als Pastor handelt es sich für Sie nicht um einen bestimmten Herren oder eine bestimmte Dame, es handelt sich für Sie abstrakt um einen Ruf – eine Tugend, eine Sünde, nicht wahr? Es ist Ihr Beruf, zu verhindern, daß ein Ruf geschädigt wird, oder daß eine Tugend fällt, oder daß eine Sünde begangen wird. Sie haben keinerlei persönliches Interesse daran, Sie tun Ihre Pflicht, und nur deshalb, Herr Pastor, können Sie’s tun, können Sie hier Dinge sagen und tun, die ein anderer nicht sagen und tun kann.«

»Ich berufe mich nicht auf mein Amt«, sagte Werner. »Ich spreche als Mann zum Manne.«

»O nein«, versetzte Rast, »Sie kommen, als Pastor ermahnen, nicht Rechenschaft fordern.«

»Doch«, unterbrach ihn Werner, »ich will Rechenschaft fordern.«

Rast zuckte die Achseln.

»Nicht möglich, Herr Pastor. Sie wollen eine Tugend retten, Sie wollen, was man so nennt, Gutes tun. Sie wollen keine Antwort oder Erklärung. In Ihren Predigten fragen Sie auch zuweilen, aber Sie wollen doch keine Antwort darauf. Darauf zu antworten, wäre unpassend. So auch hier. Sie wollen Gutes tun, Sie wollen ermahnen, Sie wollen keine Antwort von mir. Das sagten Sie ja vorhin. Ich verstehe Sie vollkommen.«

Werner erhob sich von seinem Stuhl. Der Zorn schoß ihm ganz heiß in das Blut. Seine Schläfen brannten.

»Herr Baron«, sagte er feierlich, »ich sehe, daß etwas Unerhörtes geschieht, und ich soll ruhig zusehen, ich soll nicht das Recht haben, einzugreifen?«

Rast sah ihn mit seinen gefühlvollen Samtaugen sinnend an.

»Aber so setzen Sie sich doch, Herr Pastor. Sie haben unrecht, sich so aufzuregen. Sie hätten doch eine Zigarre nehmen sollen. Bismarck sagt, eine Zigarre mache ein Gespräch ruhig. Aber ich erkenne Ihr Recht, einzugreifen – als Pastor – an. Sie sprachen von Unerhörtem –, es ist vielleicht besser, eine genauere Kritik hier zu vermeiden, – der Objektivität wegen.«

»Ich wiederhole es«, rief Werner heftig. »Ich fordere hier Rechenschaft.« Rast lächelte. »Aber Herr Pastor. Wollen Sie sich mit mir schlagen? Das ginge doch nicht. Würde das nicht aussehen, als hätten Sie ein Interesse oder ein Recht in dieser Sache? Nein, ich werde nie vergessen, wen ich vor mir habe.«

»Und ich – ich –«, sagte Werner heiser, »ich darf wohl nicht vergessen, – daß ich in Ihrem Hause bin.«

Rast wehrte mit der Hand ab.

»O bitte, darauf kein Gewicht zu legen. Mein Haus steht zu Ihrer Verfügung. Ich bedauere, Herr Pastor, Sie ein wenig erregt und nicht ganz zufrieden zu sehen. Ich fürchte, ich bin Ihnen nicht sympathisch, das bedauere ich … «

Werner war plötzlich ganz ruhig geworden. Er lächelte sogar.

»Sympathisch – nein. Ich kam wohl auch nicht, um eine Liebeserklärung zu machen.«

»Selbstverständlich!« gab Rast zu und lächelte auch. »Ich meine nur, warum sind Sie mit mir nicht zufrieden? Sie kommen zu mir, um mir eine Mitteilung zu machen, um mir eine Mahnung zugehen zu lassen. Gut! Ich nehme die Mitteilung dankbar entgegen. Die Mahnung – ich will sie –, wie sagt doch die Bibel, ich will sie ›in meinem Herzen bewegen‹. Mehr können Sie, Herr Pastor, nicht von mir verlangen. Der Fall selbst ist nicht geeignet, besprochen zu werden. Das ist natürlich auch Ihre Ansicht. Aber Ihre Mission – Herr Pastor – Ihre Mission kann als durchaus gelungen bezeichnet werden.«

»Sie haben recht«, sagte Werner leise und müde, »so werd’ ich denn gehen.«

»Sie wollen schon gehen?« rief Rast, als überraschte ihn das. »Das tut mir leid. Es plaudert sich angenehm an solchen kalten Tagen. Aber ich darf Sie wohl nicht aufhalten.«

Die beiden Männer reichten sich die Hände, und Werner wurde sich dabei des Umstandes bewußt, daß er fast einen Kopf größer als Rast war, daß, wenn er jetzt den Arm hob und seine Faust auf den vor ihm stehenden Rast niederfallen lassen würde, dieser vor ihm auf dem Teppich läge.

»Also besten Dank«, sagte Rast, »auf Wiedersehen.«

Er begleitete Werner bis an die Tür und nickte ihm lächelnd zu.

Auf dem Heimwege wurde Werner den Gedanken nicht los, wie häßlich und widernatürlich doch diese sogenannte Kultur war. Zwei haßten sich. War es da nicht schöner, sich zu fassen, um den Leib, das fiebernde Fleisch aneinanderzudrücken, sich den glühenden Atem in das Gesicht zu blasen und zu suchen, einander weh zu tun …, zu verwunden, wie die Bauernburschen es unten im Kruge tun? Statt dessen reicht man sich die Hand, lächelt: »Besten Dank! Auf Wiedersehen.« – Pfui!

Die Adventszeit war da. Lene saß abends am Klavier und sang Choräle. Werner hielt Nachmittagsandachten, während die untergehende Sonne durch die Kirchenfenster schien und die Gesichter der Leute rot malte: Oder er besuchte die Schulen. Gröv, hektisch-rote Flecke auf den mageren Wangen, die Augen entzündet, stand an dem Pult und sprach mit hoher, erregter Stimme auf die Kinderschar ein. Die Wintersonne schien hell über die blonden Kinderköpfe. Die Kinderstimmen, die sich draußen heiser geschrien hatten, sagten eintönig und taktmäßig Sprüche her, in denen von großen Wundern und großen Geheimnissen die Rede war –, die Augen klar und voll verständnisloser Andacht. Werner hatte diese Zeit stets geliebt, in der die großen Mysterien eine familienhafte Traulichkeit annahmen, in der Frauen, Mädchen und Kinder sich in den ewigen Dingen gemütlich zu Hause fühlten, wie in ihren Stuben. Überall war etwas Wunderluft. Auch jetzt ging Pastor Werner seinen Amtsgeschäften ruhig nach. Er konnte andächtig und heiter sein. Aber neben dem Pastor Werner ging ein anderer her. Er versteckte sich, er war jedoch da – fremd – unheimlich – unentrinnbar.