Triaden-Liebchen

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Edith Seo

Triaden-Liebchen

Eine mörderische Weltreise

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Der neunte Schuss

II. Die Kaiserin

III. Entscheidungen

IV. Bye Bye Shanghai

V. Dschanna Residence

VI. Brudermord

VII. Flucht aus dem Paradies

VIII. Zwei „hübsche“ Leichen

IX. Heiliger Boden

X. Neuigkeiten

XI. Brautwalzer

XII. Machtproben

XIII. Die Festnahme

XIV. Knastgeflüster

XV. Austauschprogramm

XVI. Der Besucher

XVII. Die Flucht

XVIII. Der Bruder

XIX. im Tang Tower

Impressum neobooks

I. Der neunte Schuss

Jede Generation hat ihr Mekka.

In den 1930ern wollte man in den Maghreb, in den Nachkriegsjahrzehnten

nach Amerika. New York für die Karrieristen, San Francisco für die Aussteiger.

In meiner Generation, und damit meine ich alle, die im Jahr 2013 in ihren Zwanzigern oder Dreißigern sind, mausert sich Shanghai zum Place to be.

Shanghai. Das Sündenbabel kaiserlicher Zeit ist lange versunken. Aber ganz stimmt das nicht.

Wer dort war, weiß, dass die größten Sünder im Exil, aber auch im Untergrund kulturrevolutionären Jochs, weiterhin die Fäden zogen. Tonnenweise Rohopium gelangte von hier aus in die Häfen dieser Welt. Immer.

Jetzt war ich endlich hier. Ich lief die Nanjing-Lu hinunter. Die Haupteinkaufsmeile, aufgeputzt wie eine Hafenhure. Gesichtslos, überladen, was zum erzählen für den Durchschnittstouristen. Aber ich liebte es, hier zu sein. Geld, Sex, Dekadenz, genau das, wovon man mit Anfang Zwanzig träumt. Hier leben die, die alles begehren.

Shanghai, die „Stadt über dem Meer“, die erotischste Stadt meiner Generation, verschluckte mich und ließ mich alles erhoffen. Zugleich fühlte ich mich, wie schon so oft in meinem Leben, unzulänglich mit denen, die hier nach Macht und Ruhm, ja, nach den Sternen, greifen.

Ich passe nicht hierhin, dachte ich mir. Zu blass, zu farblos. Ich war Westlerin, aber ich war nicht die erste hier. Ich war keine dralle Blondine oder feenäugige Eurasierin. Also nicht das, was hier noch Aufmerksamkeit erregte.

Neben mir stöckelte Tingting. Sie war Shanghaierin. Das sah man an ihrem Gang und ihrer Haltung. Dem breitärschigen bäuerlichen Ideal Mao Zedongs entsprach sie jedenfalls nicht. Sie war eine Elfe. Ätherisch, filigran mit einem arrogant-berechnenden Zucken um die rot lackierten Lippen. Shanghai sei die einzige Stadt in China, in der man sich mehr freue, ein Mädchen zu bekommen, heißt es. Man sah Tingting an, dass sie das wusste, dass sie in das Tempo dieser Stadt geboren war. Dass sie auf alles verzichten konnte, nur nicht auf Geld. Ihre lieblose Aura lässt mich frösteln. Sie würde über Leichen gehen, dachte ich. Und noch mehr schockierte mich der Gedanke, dass ich gerne wäre wie sie. Ich wollte keine blöde Praktikantin sein, die drei Monate Fernost im Lebenslauf hat und dann in einem wattierten Berliner Büro abhängt. Ich wollte Shanghaierin sein, reich an Geld, Kleidern und einflussreichen Liebhabern. Ich wollte eine Macherin sein. In Shanghai redet man nicht, man handelt.

Tingting miaute ihrem Begleiter etwas zu und sagte zu mir auf englisch:

„Lass uns mal hier reingehen.“ Es war kalt in Shanghai um diese Jahreszeit. In Südchina wird im Winter nicht geheizt. Ein Strom warmer Kaufhausluft strömte mir entgegen, als wir die Shoppingmall betraten. Erst Tingting, dann Han, ihr Kofferträger, dann ich. Mein Frösteln hatte ich vergessen. Tingting steuerte zielsicher zu Louis Vuitton. Sie besaß bereits ein Vuitton- Kofferset, zwei Handtaschen und sogar einen Kulturbeutel. Aber echte, persönlich in Paris abgeholte, keine Billig-Fakes aus den Touristen- Malls.

Ich beneidete Tingting. Sie war oberflächlich und egozentrisch. Geldgierig und liebesunfähig. Aber sie hatte alles, was ich mir nicht mal erträumt hatte. Da wo ich herkomme, ist man nicht mal in der Fantasie anmaßend. „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ hatte meine Oma immer gesagt. Hätte ich doch auf sie gehört.

Tingting kannte ich aus Nizza. Ich verbrachte dort meine Sommerferien, oder zumindest einen Teil davon. Ich lief orientierungslos über die Promenade des Anglais, nachdem ich mich von meinem Freund getrennt hatte. Wir waren gemeinsam nach Südfrankreich gefahren. Ich wollte in Nizza bleiben, oder besser in Beaulieu sur Mer. Dort war es toll. Wir hatten ein kleines Hotel ohne Frühstück, aßen unser Croissant mit Café au lait an der Hafenpromende und am ersten Abend lagen wir bei Sonnenuntergang auf unserem Grand Lit und er fragte mich:

„Wohin gehen wir heute? Nach Monaco oder nach Nizza?“ Ich fühlte mich wie Grace Kelly. Das Leben als Luxuslady konnte losgehen.

Dass dieser wunderbare erste Urlaubsabend (wir fuhren weder nach Monaco noch nach Nizza) auch unser letzter bleiben würde, ahnte ich nicht.

Am nächsten Morgen kam es zum Streit. Bill wollte, wie geplant, von mir aber nicht mehr erwünscht, weiter nach Marseille. Ich wollte lieber bei den Schicki-Mickis bleiben. Innerhalb von 20 Minuten, nämlich der Strecke von Beaulieu nach Nizza, kochte ich ohne triftigen Grund über vor Wut. Ich war die Frau, ich wollte mich durchsetzen. Immer war ich nur zur Seite gedrängt worden, hatten meine Wünsche nicht gezählt, war meine Schwester schöner, mein Bruder klüger oder meine Tante kränker gewesen. Jetzt hatte ich Bill. Bill war nett zu mir, aber er ging nicht wirklich auf meine Wünsche ein. Einen Mann zu haben, und damit endlich jemanden, der nur für mich existiert und, ja, zugegeben, nach meiner Pfeife tanzt, hatte ich mir anders vorgestellt.

Bill war cool und langhaarig. Er liebte mittelalterliche Feste, Halloween und morbide Musik. Er hatte von der Weinstraße bis nach Beaulieu immer den selben Scheiß gespielt und jetzt wollte er auch noch ins versiffte Marseille. Mir wurde bewusst, dass er Marihuana-süchtig war. Bei einem Besuch auf der Kerwe in Weinheim zwei Wochen zuvor hatte er zwei Autos angetitscht, die links und rechts der Straße geparkt waren.

Meine einzige Freundin Heike, klein, noch unscheinbarer als ich und auf unerotische Art jungfräulich, saß hinten.

Ein Passant winkte uns. Er hatte gesehen, dass Bill den Autospiegel eines Mercedes zerkratzt hatte. Bill öffnete das Fenster: „Ich schreibe ihm meinen Namen und Nummer auf.“ Ich kramte nach etwas zu Schreiben. „Wollen sie nicht die Polizei rufen?“ fragte der Passant.

„Nein, bitte nicht. Ich habe getrunken.“

„Du hast doch gar nicht getrunken.“ krähte Heike von hinten. Ich zischte sie giftig an. Als wir weiterfuhren beschwerte sie sich. „Man, meinste Gras wäre besser?“ fragte Bill sie gedehnt.

Heike war angepisst und schwieg.

Als Bill und ich also in Nizza in der Rush Hour standen, fluchte er, ich solle aufhören zu nörgeln, er sei froh, wenn er aus der Scheiß-Stadt raus wäre. Er drehte seine Schrott-Musik lauter und ich kochte vor Wut. „ Der neunte Schuß ging sauber durch die Stirn“ bummbummbummbumm, dröhnte die Musik. Ich sah Bill an und ich war mir sicher, ich hätte gleich beim ersten getroffen in dem Moment.

Ich hasste ihn abgrundtief. Hass und Liebe liegen nah beieinander und können ineinander umschlagen, sagt man. Bill war wohl so was wie meine erste Liebe gewesen, wenn man von einem unerreichbaren Schwarm mit 13 absah. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Ich lief über die Straße, als die Ampel der Autofahrer gerade grün wurde und so war mein Abgang wenigstens von einem Hupkonzert begleitet.

“Wunderbar“ hätte meine Scheidungskind-Psychologin mich sicher gelobt: „Endlich sind sie mal aus sich rausgegangen.“

Ich war immer ein nachdenklicher, stiller Mensch gewesen. Eigentlich schon vor der Scheidung meiner Eltern. Ich war nie wichtig. Normale Aggressionsabfuhr kannte ich nicht. Deshalb konnte ich mein Verhalten hier auch nicht recht einschätzen. Normalerweise hätte ich überlegt, ob es sich lohnt, Bill zu verlassen. Jetzt, ohne Geld, ohne Gepäck, ohne irgendetwas. Man sollte regelmäßig in kleinen Dosen aggressiv sein.

 

Besser, als mit 19 ohne einen Cent in der Tasche am Strand von Nizza auf- und ablaufen.

Ein alter, fettleibiger Franzose sprach mich an. Ob ich mit ihm einen Wein trinken mochte. Nein, danke. Ich verließ die Mauer zwischen Straße und Strand und lief in die andere Richtung.

Was hatte ich nur gemacht? So ein Scheiß! Ich hätte doch mit ihm nach Marseille fahren können. Jetzt häng ich hier. Ich fragte eine Frau nach ein paar Cent und wollte meine Mutter anrufen. Ich war zu stolz und kaufte mir stattdessen einen Schokoriegel.

In Marseille hätten wir jetzt sicher ein Motel gefunden. Bill würde einen Joint drehen und alles wäre gut. Warum musste ich nur so stur sein? Andererseits hätte er mich auch nicht mit diesem Scheiß beschallen sollen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich wollte ein junges Starlet sein, an der Côte d´Azur Champagner trinken und Yacht fahren. Aber so was passte nicht zu mir. Ich kam aus einem Dorf, dessen Name keiner kennt, ich war nicht besonders hübsch und auch kein draufgängerisches Sex-Kätzchen. Eher spießig und langweilig, aber mit dem festen Willen, „da raus“ zu kommen, wie Millionen anderer Mädchen. Äußerlich gesehen war meine Kindheit gar nicht so schlecht. Ich war nicht so wichtig, aber man war auch nicht lieblos zu mir. Fast alle Eltern sind geschieden, fast jeder hat überforderte Eltern, die arbeiten oder sich um krisengebeutelte Geschwister kümmern mussten. Ich hatte genug zu essen, ein warmes zuhause und war sogar jedes Jahr in den Urlaub gefahren. Warum fühlte ich mich also so zu kurz gekommen? Ich wollte halt einfach mehr. Viel mehr. Aufmerksamkeit.

Jetzt hatte ich genug Zeit darüber nachzudenken. Der versiffte, bekiffte Bill war doch kein Mann für mich, dachte ich. Abgebrochene Bäckerlehre, abgedunkelte Dachkammer mit Totenkopfzeichnungen, Cannabiszucht auf dem Fensterbrett. Er war künstlerisch sehr begabt, das musste ich zugeben. Aber er hatte keinen Biss, aus ihm würde nie etwas werden.

Als es dunkel wurde und seltsame Gestalten auf der Promenade zu lustwandeln begannen, löste ich mich vom Meerblick und traute mich langsam in die Stadt. Ich fragte nach dem Bahnhof und ließ mir noch einmal ein paar Cent geben. Der Markt schloss, ich stahl ein Stück Käse und kaufte mir eine Flasche Wasser. Ich wollte zum Bahnhof, ich würde zuhause anrufen. Mutter würde mich beschimpfen und alles veranlassen, dass ich mit dem Nachtzug heim fahren konnte. Der Entschluss stand. Ich kam noch an einem Einkaufszentrum vorbei. Ging hinein, in die Lebensmittelabteilung. Dort gab es eine Verkaufsaktion einer Streichwurst-Marke und ich aß so lange Häppchen, bis ich fast satt war. Im satten Zustand verwarf ich wieder den Gedanken, nach Hause zu fahren.

Vor zwei Wochen hatte ich eine Doku über Edel-Penner gesehen. Sie reisten umher und schliefen nur manchmal draußen. Ansonsten fanden sie eine Frau, bei der sie übernachten konnten, bestahlen Touristen oder arbeiteten auf dem Bau. Ich verließ das Einkaufszentrum und fand einen zehn Euro- Schein in einer Belüftungsritze. Hunderte von Leuten mussten an ihm vorbeigegangen sein, aber ich war die einzige die ihn sah.

Ich zog weiter und kam an einer hell erleuchteten Galerie vorbei. Gruppen von exaltierten Leuten standen herum und tranken Rotwein, zu dem sie Käsestangen knabberten. Ich blieb stehen und sah hinein. Eine Kellnerin kam und fragte mich und eine ebenso unschlüssig wirkende Passantin:

„Möchten sie ein Glas Champagner?“

„Oh, merci.“ Ich nahm das Glas, die andere auch, wir lächelten uns an. Das war Tingting.

II. Die Kaiserin

Han und ich standen vor der Umkleidekabine. Was in Han vorging, vermochte ich nicht zu sagen. Er war Tingting immer treu ergeben gewesen. Er war der Sohn eines Untergebenen von Tingtings Vater. Er war auch ein Einzelkind, sicher wurde er zuhause ebenfalls gehätschelt. Ich sah ihn jedenfalls nur in der Rolle des Lakeien.

Tingting brauchte nur ein weinerliches Miauen von sich zu geben und er machte Männchen wie ein Schoßhund. Er apportierte sogar, dachte ich einen Moment amüsiert, als er Tingting immer neue Kleidungsstücke brachte. Ich war auch nur zum Publikum degradiert. Tingting stand alles, von Mao-Rot bis Kaiser-Gelb. Sie trug nur Seide und ich stellte mir vor wie sie, als Domina verkleidet und ohne eine Miene zu verziehen, jeder einzelnen Seidenraupe einen Peitschenhieb verpasste.

Es war klar, Tingting war eine Kaiserin. Und sie wusste das. Es gab viele Kaiserinnen in Shanghai. Aber ich sah nur Tingting. Mit dem Neid ist es wie mit der Liebe. Man sieht nicht die anderen, die ähnliche Eigenschaften haben. Man sieht nur diesen Menschen und der ist das Ultimative.

Mein Neid war unsichtbar. Denn Tingting war großzügig. Wir verließen einen Schneidersalon im Partnerlook, einem nachthimmelblauen Qipao. Im Spiegel hätte ich sehen können, dass ich Tingting von der Körperform kaum unterlegen war, aber ich bewegte mich weniger erhaben. Wenn Tingting einen Raum betrat, dann tat sie das erhobenen Hauptes und in Erwartung ihrer Verehrung. Mit der Zeit fiel mir auf, dass es gar nicht so war, dass jeder ihr zu Füßen lag. Ihr Hofstaat war klein und bestand aus schrulligen Gestalten, aber über ihn war sie die alleinige Herrscherin. Mühelos, wie mir schien.

Tingting war 25. Sie würde bald heiraten. Ebenfalls den Sohn eines Bekannten, diesmal eines Geschäftspartners ihres Vaters. Es wurde nicht viel dem Zufall überlassen.

„Wenn mein Bruder in Shanghai wäre, ich würde wollen, dass ihr heiratet.“ sagte sie einmal zu mir mit ihrem lieblichsten Lächeln. Ich glaube, das war sogar noch an dem Tag, an dem wir beide den blauen Qipao trugen und ich ahnte gar nicht, was für ein Kompliment das gewesen war. Tingtings Bruder war ich noch nie begegnet. Er sei nur selten in der Stadt, er lebe in San Francisco, sagte Tingting.

Ich dachte wieder an meinen Ausbruch, damals an der Promenade von Nizza. Tingting würde so etwas nicht passieren. Sie war eingebettet in ein System, in dem es letztlich darum ging, immer alle Lebensschritte zum richtigen Zeitpunkt zu machen und sich geschmeidig in die Gruppe einzufügen. Marseille oder nicht Marseille wäre hier nie die Frage gewesen. Tingting wäre gefolgt, in Seide gewandet und mit einem Sklaven, aber sie wäre gefolgt. Insofern, war sie zu beneiden? Ich überlegte. Tingting wusste was sie wollte, sie war kein Spielball chinesischer Anstandsregeln. Sie hätte sich zunächst einmal gar keinen Mann wie Bill ausgesucht. Sie hätte im Zweifel mit den Wimpern geklimpert, Migräne simuliert oder hätte auf den Topf gemusst. Sie hätte eine Reifenpanne inszeniert. Sie wäre nicht hilflos abgerauscht. Sie war anders als ich. Und ich wollte werden wie sie.

Saturday Night hat in China nicht die gleiche Bedeutung wie sonst auf der Welt. Die Reichen feiern dann, wenn es für den Geschäftsabschluss notwendig ist, wenn der Schnee in dicken Flocken rieselt oder es eine neue Konkubine zu zelebrieren gibt. Geliebte zu sein, kommt hier einem klar geregelten rechtlichen Verhältnis gleich. Tingting war reich geboren, sie hatte dergleichen nicht nötig. Wir saßen in einem Spiegelsaal über den Dächern der Stadt mit Blick auf den Huangpu.

Xiao Li, der Gastgeber mit der herben Lache und der unverkennbaren Triaden-Aura, begrüßte uns mit einer Zigarre zwischen den Lippen. Er war groß und breit und hatte kleine schnelle Augen, denen nichts entging. Ich hatte Angst vor ihm.

„Nihao, Hi, welcome to my place.“ sagte er heiser. Seine Stimme war etwas zu hoch, um maskulin zu wirken. Genau das war es, was mich irritierte. Bei ihm passte so einiges nicht zum anderen.

„Hi“ sagte Tingting und schritt voran in den Raum.

„Wooo, was zum Teufel ist denn hier passiert?” flötete sie.

Ich stand hinter ihr und sah in eine riesige ovale Halle, in der überall antike Kronleuchter aufgestellt waren. Tingting ging zu einer der Kerzen hin und zündete sich eine Zigarette an.

„Ich war letzte Woche in Tallinn.“ raunte Xiao Li neben mir. „ Natürliche Beleuchtung wird der neue Trend von Shanghai.“ Ich fand, es sah aus wie in einem alten französischen Puff. Obgleich ich nie an einem solchen Ort gewesen war, stellte ich mir es so vor. Ein bisschen düster, ein bisschen syphilitisch und absolut Halbwelt. Eindeutig 18. Jahrhundert. Obwohl alles dennoch zu geleckt aussah um wirklich „alt“ zu wirken, hatte Xiao Li es doch geschafft, eine behagliche Atmosphäre hier reinzuholen.

Ich nickte ihm anerkennend zu. Ich hatte ihn zuvor nur einmal gesehen. Das war auf einer Party in Puxi gewesen. Er hatte Tingting am Arm festgehalten und eindringlich auf sie eingeredet. Das war das einzige Mal gewesen, dass ich sie unsicher gesehen hatte, ja fast verstört. Als ich hinzugetreten war, hatte er sie losgelassen.

Irgendetwas faszinierte mich an ihm. Als ich ihn so von der Seite sah, im Licht der Kerzen, wurde mir klar, was es war. Xiao Li, warum er so hieß, vermochte ich nicht zu sagen, „der kleine Li“, das passte gar nicht zu ihm. Wenn er der „kleine Li“ war, wer war dann der „große Li“? Xiao Li trug eine große Fleischnarbe unter dem linken Auge, keinen feinen Mensur-Strich, sondern etwas, dass nach mehr aussah und durch dass er sich Respekt verschafft haben mochte. Meinen Respekt hatte er, denn er war der Einzige, der Tingting ängstigen konnte.

Sie stand immer noch im Raum, zwischen den Kronleuchtern.

Sie war schön und sie war kalt, sicher wären die Funken gesprüht, wenn man sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte, dachte ich im Licht der tausend Kerzen.

Xiao Li sah mir jetzt in die Augen, so als wüsste er, was ich dachte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Das hier war keine gute Gesellschaft und ich fühlte mich wieder gewarnt, von meiner Oma, die einst gesagt hatte: „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Andererseits, was wollte ich ihm Himmel? Hier war ich über den Dächern von Shanghai, im Dunst einer anderen, einer ungewöhnlichen Welt. Ich legte meinen von Tingting geliehenen Zobel ab und bemühte mich, mich so elegant wie möglich in dem maßgeschneiderten Qipao zu bewegen. Tingting lächelte mich an. Scheinbar schien sie mein Bemühen gut zu heißen.

Sie nannte mich Meimei, kleine Schwester, und schenkte mir einen 200 Jahre alten Rotwein ein. Sie behandelte mich häufig wie Luft, aber manchmal, meist, wenn Männer dabei waren, wobei Han nicht als Mann zählte, schien sie sich doch mit mir zu schmücken. Wir tranken viel in dieser Nacht. Ein blinder belgischer Pianist saß am Bösendorfer Flügel und spielte. Ich versuchte, mich zu entspannen, der Alkohol half mir dabei. Für einen Moment dachte ich an meine alten Freunde in Deutschland. Im Vergleich zu ihnen war ich jetzt die Tingting. Ich war es, die alles hatte und hier einen Luxus genoß, den sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten. Ich trank sündhaft teuren Rotwein, der eigentlich eines der Lebenshighlights erfahrener Sommeliers sein sollte und schüttete ihn runter wie billigen Wodka. Was auch immer morgen war. Hier war die Nacht, hier war Shanghai und hier wollte ich dekadent sein, koste es, was es wolle. An Regeln konnten sich doch die anderen halten. Ich lächelte versonnen und sah einer Nebelschwade nach. Tingting war verschwunden.

„Wo ist Tingting?“ fragte ich Xiao Li.

„Sich frisch machen. Wir gehen gleich noch woanders hin.“ Er sah auf die Uhr.

„Ich sehe mal nach ihr.“

Er ging aus dem Raum. Ich saß zwischen barocken Leuchtern und fühlte mich plötzlich schlecht. Vielleicht war der alte Rotwein doch nicht mehr so rein, wie man dachte, vielleicht waren da irgendwelche Viren drin oder Säure, die meinem ohnehin strapazierten Magen nicht bekamen. Ich sah Tingtings Handtasche auf einem mit lila Samt bezogenen Stuhl liegen, beugte mich hinüber, ohne aufzustehen und öffnete sie.

Zerknüllte Geldscheine streckten sich mir entgegen, dazwischen Lippenstift und Zigaretten. Mich erinnerte das an eine Geburtstagsparty. Damals war ich ungefähr zehn gewesen und musste in einer riesigen Schachtel erst durch Styroporknubbel tauchen, bis die Geschenke ans Licht kamen. Ich tastete weiter. Etwas Metallenes bekam ich ganz unten zu fassen. Ich berührte es und zog es heraus. Eine kleine Pistole lag in meiner Hand, zierlich wie Tingting und sie wirkte genauso unecht. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehalten. Ich ließ sie los und stellte die Tasche wieder zurück. Goss mir neuen Wein ein.

Der Pianist spielte unbeeindruckt weiter. Ich dachte nach. Wenn Tingting eine Waffe hatte, würde sie sie benutzen? Wer war sie? Kannte ich Tingting überhaupt? Und wenn sie die Waffe benutzt, dann wären da jetzt meine Fingerabdrücke drauf. Obwohl, war es nicht so, dass man Pulverspuren an den Fingern haben musste, um überführt zu werden? Und die bildeten sich doch erst, wenn man abdrückte. Oder war es eine Gaspistole. Ich war unsicher, aber auch fasziniert. Ich musste meine Fingerabdrücke abputzen. Ich nahm wieder ihre Tasche. Behutsam nahm ich die hübsche kleine Pistole heraus. Sie war das Modell, das Spioninnen in ihr Strumpfband zu stecken pflegten. Mir war schlecht. Ich putzte die Waffe am Sitz ab, schloss die Tasche, klemmte sie unter den Arm und machte mich, leicht taumelnd, auf den Weg zum Bad, um Tingting die Tasche zu geben und anschließend der Klobrille meine Aufwartung zu machen.

 

Der Boden des Ganges schien vollständig aus schwarzem Onyx zu bestehen. Er glänzte dunkel. Ich bewegte mich langsam und barfüßig zur Lichtquelle. Die Musik im Hintergrund schallte metallen und leise hier hinein. Die Tür zum Bad war halb geöffnet. Mir war jetzt richtig übel. Ich lehnte mich mit dem Rücken zur Wand und atmete tief.

„ Lass mich los.“ zischte Tingting im Bad.

„ Wirst du es tun?“ hörte ich Xiao Li´s Stimme. Ich wusste, dass ich mich übergeben musste, aber nicht jetzt. Einen Moment würde ich durchhalten. Ein Geheimnis lag in der Luft, Tingtings Geheimnis und wenn ich es wüsste, dann…

„ Nein! Verdammt, jetzt lass mich.“

„ Du weißt, was dann passiert.“

Tingting lachte hysterisch.

Dann schien er sie zu schütteln.

„ Tingting, wenn ich deinem Vater sage, wie weit du gegangen bist für…“

„ Wenn du es ihm sagst…“

„ Du weißt, dass ich es gesehen habe…“

„ Nichts hast du gesehen. Ich habe ihn nicht getötet.“

„ Doch. Mit der kleinen Pistole, die du immer mit dir herumträgst. Man würde es herausfinden. Dein Vater würde dich nicht schützen. Er hat keinen Grund mehr.“

„ Du kannst es mir nicht beweisen.“

„ Doch, kann ich. Ich habe Fotos.“

„ Dann tu´s doch, du Schwein.“ Tingting schien sich loszureißen. Ich konnte nicht mehr. Ich müsste mich gleich erbrechen. Sie sprachen von Mord und Totschlag, wer weiß von was für Verbrechen, und ich stand hier wie ein kleines Mädchen, das dringend kotzen musste. Tingting war eine Mörderin. Ihr war nicht schlecht in den entscheidenden Momenten. Ihr Körper versagte nicht. Sie aß und trank nicht. Sie zögerte nicht. Sie handelte. Und sie war entschieden in allem was sie tat. Wenn sie sich von jemandem gestört fühlte, versuchte sie ihn zu manipulieren. Wenn das nicht gelang, räumte sie ihn aus dem Weg. Wenn ich werden wollte, wie sie, müsste ich anfangen, mein Leben in die Hand zu nehmen.

Ich erinnerte mich an einen Spruch, den der Mann, der im Flugzeug nach Shanghai neben mir gesessen hatte, gesagt hatte: „Wenn man Glück im Leben hat, bleibt man Zuschauer. Wenn nicht, ist man entweder Opfer oder Täter. Wofür entscheidest du dich?“ Ich fand den Spruch, oder besser die Frage etwas sinnentleert. Opfer, Täter. Die Stewardess hatte Nudelsuppe gebracht und der zweite Film begonnen.

Tingting war eine Täterin, das war klar. Ich war ein Opfer, passiv und manipulierbar. Kann man so etwas ändern? Mir fiel die Pistole ein, die ich in der Tasche bei mir trug. Ich hatte die Waffe, Tingting trug nur ihren Qipao. Es wäre leicht, die Rollen zu vertauschen, oder nicht?

Ich grübelte.

Im Bad hatten sie aufgehört zu sprechen. Ich hörte ein seltsames gepresstes Atemgeräusch. Ein Röcheln.

Dann befahl Xiao Li noch einmal:

„Du tust, was ich dir sage.“ Ich ging etwas näher an die Tür und konnte Tingting sehen. Sie röchelte, Xiao Li hatte seine Hände um ihren Hals gelegt und drückte zu. Ich blieb fasziniert stehen. Ich war Zuschauerin. Er wird Tingting töten, dachte ich. Beklemmend war es nicht, es war spannend, aufregend. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Wenn jemand gewürgt wird und man nicht eingreift, ist man dann nur Zuschauer, oder ist man schon Mittäter? Wenn Tingting tot wäre, was wäre mit mir? Ich könnte ihren Platz einnehmen. Ich würde für Xiao Li …Er ließ sie los. Tingtings Hände fassten an ihren Hals. Sie schwankte. Schnappte nach Luft. Das durfte nicht sein. Ich griff in die Tasche, trat in die Tür, zielte auf sie und schoß.

Tingting sackte zu Boden. Die Hände immer noch am Hals. sie atmete schwer.

Xiao Li sah mich an. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem schiefen Lachen. Dann trat Blut aus seinem Mund und er fiel um. Langsam bildete sich eine Blutlache um ihn herum. Ich erbrach mich auf den Vorleger.

Tingting sah mich erstaunt an.