3 a.m.

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Copyright © 2013 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, PF 100147, D-07391 Rudolstadt.

email: edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org.

Lektorat: Katrin Spohar.

Titelbild- & Umschlaggestaltung: Gerhard Simader.

Buchgestaltung: Edition Roter Drache.

Gesamtherstellung: Booksfactory

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 9783944180397


Edie Calie lebt als selbst ernannte Prokrastinationskünstlerin im wunderschön morbiden Wien, ein Ort der nicht nur Einfluss auf ihre Geschichten, sondern auch auf ihren Humor hat. „Wenn H.P. Lovecraft Providence ist, dann bin ich Wien“, lacht die Sammlerin von Quietscheenten, deren Interesse am Chaos (vor allem am Chaos zur linken Hand) ein Desinteresse an der Wahrheit vermuten lässt. Stattdessen bevorzugt sie gute Geschichten, welche sie auch gerne in Flughafenankunftshallen liest. Ihr Erstlingsroman 3 a.m. entstand aus einer Mischung aus zweifelhaftem psychischen Zustand und öffentlichen Verkehrsmitteln.

Kapitel

Cover

Titel

Impressum

Über die Autorin

Zitat

Lust

Das Universum

Der Mond

Der Eremit

Der Turm

Die Hohepriesterin

Das Æon

Glück

Der Gehängte

Der Narr

Weitere Bücher

»In a real dark night of the soul it is always

three o’clock in the morning, day after day«

F. Scott Fitzgerald

Lust

Sie fing an, wie wild zu lachen. Nein, nicht wild: verrückt. Offensichtlich vom Wahnsinn gepackt, schwoll es zu laut kreischender Hysterie an, wie man es eigentlich nur aus dem Inneren einer Gummizelle erwarten würde.

Kurz zuvor hatte sie ihm noch die willige Liebhaberin gespielt: »Oh ja, komm, mach’s mir! Du bist so geil, dein harter Schwanz gibt es mir so, wie ich es brauche!« Doch jetzt lachte sie über ihn und dieses bemitleidenswerte, schrumpelige Etwas, das an ihm herunterhing und angeblich die pure Männlichkeit verkörpern sollte. Irritiert starrte er sie an. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass in dieser engelsgleichen rothaarigen Schönheit solch grausame Geräusche stecken könnten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, doch sein Ego schützte ihn davor, in sich selbst den Auslöser für das Ganze zu erkennen.

»Der hab’ ich offensichtlich den Orgasmus ihres Lebens beschert«, redete er sich ein.

Armer Johnny. Allein diese Episode verdeutlichte, dass er es allein wohl nie aus dem Aquarium herausschaffen würde und zum Dasein als Goldfisch verdammt war, ohne sich je seiner Gefangenschaft bewusst zu werden.

Während sie noch immer vor Lachen kreischte, zog er sich rasch an und verließ das kleine Apartment. Bis auf den Parkplatz hörte er sie, nicht ahnend, dass dieser Ausbruch einzig und allein seinem Schwanz galt.

Während sie vor Lachen Tränen in den Augen hatte, liefen dicke Krokodilstränen über die Wangen jenes Mannes, der mit dem Kopf in meinem Schoß lag.

»Wenn das wahr ist, dann bin ich verrückt«, schluchzte er. »Nein wirklich, dann bin ich verrückt. Sag’ mir, ob das wirklich wahr ist.«

Ich war in einer Zwickmühle: Die Wahrheit sagen, was impliziert hätte, dass er verrückt war, oder alles zurücknehmen, damit seinen vorangegangenen Wutausbruch rechtfertigen und mich selbst als verräterischen Lügner darstellen, ihn aber der Verrücktheit freisprechen. Ich strich ihm durchs Haar und sah ihn verständnisvoll an.

»Sag’ mir, ob das stimmt!« Ihm war es ernst und er würde nicht eher locker lassen, bis er eine Antwort bekam.

Während ich zaghaft nickte, überlegte ich, welches der sieben Biere mich in diese Situation gebracht hatte. Es musste das fünfte gewesen sein, es war immer das verfluchte fünfte Bier. Er vergrub seinen Kopf noch tiefer in meinem Schoß und heulte auf.

»Dann bin ich verrückt! Du musst mich sofort einweisen. Ich bin verrückt, ich muss in die Klapse.« Nur ein Verrückter verlangt danach, eingeliefert zu werden. Kurz zögerte ich, ob es nicht doch besser wäre zurückzurudern und ein Verräter zu sein. Immer noch angenehmer, als einen weinenden Mann im Schoß liegen zu haben, der mit zunehmender Ernsthaftigkeit darum flehte, so schnell wie möglich ins Irrenhaus eingeliefert zu werden.

Zeitgleich wandelte in Jerusalem ein anderer Verrückter, lediglich mit einem Tuch bekleidet, barfuß und sich an einem Stock festhaltend, durch die Straßen. Selbst in dieser Stadt, die bereits zahlreiche Wahnsinnige kommen und gehen gesehen hatte, passte er nicht ins Bild und erregte Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass er sich nicht ausweisen konnte und auf die Frage nach seinen Personalien jedes Mal selbstbewusst behauptete, Jesus von Nazareth zu sein, weckte das Interesse der Behörden und von denen ‚ganz oben‘. Es war für sie zwar nicht der erste Kontakt mit einem offensichtlich Geisteskranken, der behauptete die Reinkarnation von Jesus Christus zu sein, doch dieser Mitte 30-Jährige war irgendwie anders. Vielleicht lag es daran, dass er keinerlei äußerliche Ähnlichkeit mit dem Jesus aufweisen konnte, der seit Jahrhunderten das Innere von Kirchen schmückte.

Von der Statur her war er groß und breitschultrig, seine Haut dunkel, fast schwarz, sein krauses lockiges Haar stand wie elektrisiert von ihm ab und sein Gesicht ließ jegliches Anzeichen eines Bartes vermissen. Es handelte sich so offensichtlich nicht um Jesus, dass man ihm schon fast wieder Glauben hätte schenken können.

Nicht nur in Jerusalem wandelten die Verrückten durch die Gegend. Mitten in der Nacht ließ jemand draußen auf der Straße alle lautstark an seinen Gedanken teilhaben.

»Das Problem ist, dass sich niemand mehr fragt, wie es einem geht!«, brüllte er so laut er konnte, »Keiner weiß mehr, was im eigenen Kopf vor sich geht, alle sind nur noch gestresst. Menschen, wir werden irgendwann noch alle am Strick baumeln, wenn –«

»Ruhe!«, schrie jemand aus dem Fenster.

Obdachlose haben keine Zuhörer und so zog er sich wieder in seinen Pappkarton zurück.

Der Strick von dem der Obdachlose geredet hatte existierte wirklich, allerdings am anderen Ende der Welt, in Japan.

Wie genau dieser dürre Grufti-Teenager in diese Situation gekommen war, wusste er nicht. Gerade war er noch mit einer Flasche Sake in der Hand auf seinem Bett im Kinderzimmer gelegen und hatte Bands zugehört, die mit ihren Songs dieselbe Aussichtslosigkeit zum Ausdruck brachten, die er fühlte. Jetzt stand er mitten in einem Wald. The trees are closing in. Das Laub der Bäume verdeckte die hochstehende Sonne, was wesentlich zur seltsamen, unheimlichen Atmosphäre beitrug, für die es im Englischen den schönen Ausdruck ‚eerie‘ gibt.

Die typischen Waldgeräusche fehlten, kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln, kein Wind, der in den Blättern wie Meerrauschen klingt. Lediglich das Brechen der Äste unter seinen Schuhsohlen war zu hören. Ein gottverlassener Ort, an dem er dennoch nicht das Gefühl hatte, allein zu sein. Er kam sich beobachtet vor und die zahlreichen Seile, die in den Bäumen hingen, zeugten von Besuchern vor ihm. Fast wäre er über einen am Boden liegenden Schuh gestolpert, dem die Witterung bereits ordentlich zugesetzt hatte. Als er aufblickte, starrte er dem früheren Besitzer geradewegs ins Gesicht, von dem lediglich ein fleischloser Schädel übrig geblieben war. Aokigahara, Suicide Forest und die Frage, was war zuerst da: die Selbstmörder oder der Name? Baum oder Strick? Huhn, Ei, Schlachter? Vielleicht musste er zurück zum Anfangspunkt und vielleicht war er genau dort und das war es, was für Verwirrung sorgte. The trees are closing in, alles begann sich zu drehen.

 

Vielleicht teilte er unwissend genau das gleiche Problem wie der Typ, der sich für Jesus hielt: Er besaß keine roten Socken und Menschen ohne rote Socken waren schon immer zum Scheitern verdammt.

Sie atmete tief ein und begann sich langsam zu entspannen, obwohl die Metallbank auf der sie saß, nicht nach Erholung aussah. Die Maschine aus New York war 18,5 Minuten zuvor gelandet und nun traten die ersten Ankömmlinge durch die automatische Tür in den Ankunftsbereich: ein paar Business(wo)men in Anzug oder Kostüm, ein paar Touristen und viele Heimkehrer. Sie beobachtete, wie sich die Menschen um den Hals fielen und spürte, wie deren Stimmung auf sie überschwappte. Wo gibt es mehr Glück zu finden als in der Ankunftshalle eines Flughafens?

Nach dem hemmungslosen Lachanfall, der sie nach dem One Night Stand überkommen hatte, konnte sie positive Gefühle und Normalität dringend gebrauchen. Offensichtlich steckte irgendetwas Dunkles, Animalisches in ihr, das heraus wollte und sie völlig verunsicherte. Dieser Ort war bislang immer der richtige für sie gewesen, um wieder aufzutanken. Fremde Menschen, die sie unwissend zurück in die Realität holten. Interaktion war nicht nötig. Sie saß anonym und unscheinbar auf der Bank, die sie zurück auf die Erde holte, weit weg von der geistigen Welt der Bücher, in der sie sonst lebte. Es genügte ihr, für ein paar Stunden einen Blick auf das triviale Leben der ‚normalen‘ Menschen zu erhaschen, das mit ihrem so gar nichts zu tun hatte. Doch sie fühlte sich weder überlegen noch erleuchtet, nur (wo)anders.

Die Zeit kroch in der grell erleuchteten großen Halle vor sich hin, Leute kamen und gingen, ein paar enttäuschte Gesichter, weil niemand wartete, aber größtenteils herrschte Wiedersehensfreude. Sie ließ die Stimmung auf sich wirken und nach einiger Zeit fiel ihr eine ältere Dame auf der anderen Seite des Raumes auf, die ihre Anwesenheit zu bemerken schien.

Reflexartig wandte sie den Blick ab, sie wollte verhindern, wahrgenommen zu werden. Bislang war ihr das auch immer ohne Probleme gelungen. Doch als sie nach einer Weile wieder in die Richtung der Alten blickte, sah sie, dass diese sie nach wie vor zu beobachten schien. Es war zu spät, das altbekannte ‚Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht‘-Spiel funktionierte eben nur bei Kindern. Auf Grund der Entfernung konnte sie das Gesicht der Alten nicht erkennen, nur die altmodische Kleidung: ein langer, schwarzer, weiter Rock und eine langärmelige, dunkelviolette Bluse. Die weißen, langen Haare lugten unter einem breitkrempigen, schwarzen Hut hervor und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass diese Frau bereits seit langer Zeit wartete, so untypisch war sie für diese Zeit gekleidet. Sie versuchte ihre Gedanken und Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, schließlich war sie zur Beruhigung ihrer Nerven hierhergekommen. Doch so wirklich wollte es ihr nicht mehr gelingen, sie fühlte sich beobachtet.

Die Situation wurde noch unangenehmer, als die Alte plötzlich verschwunden war. Obwohl ihre Vernunft ihr sagte, dass die Person, auf die die alte Frau gewartet hatte, wahrscheinlich eingetroffen war und sie die Halle verlassen hatte, rutschte sie unruhig auf der Bank hin und her. Sie fühlte immer noch ihre Präsenz. Ihr rutschte das sprichwörtliche Herz in die Hose, als sie sie plötzlich neben sich sitzend entdeckte. Wie der Jäger an seine Beute, hatte sie sich lautlos angeschlichen, vielleicht hatte auch sie das Animalische in ihr bemerkt. Doch die Fremde ignorierte sie und langsam beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Verstohlen betrachtete sie die Fremde von der Seite.

Miss Le Fay Morgan schoss ihr der Name in den Kopf und entlockte ihr ein Lächeln. Tatsächlich erinnerte die Frau sie an die Romanfigur von Dion Fortune. Die äußerlichen Unterschiede waren zwar offensichtlich, aber so stellte sie sich die Aura und Ausstrahlung dieser fiktiven Person vor. Der Gedanke erheiterte sie kurzzeitig, bis ihr auffiel, dass auf einmal mehr Menschen auf sie aufmerksam wurden. Ein Mann regte sich darüber auf, dass er fast über ihre Füße gestolpert wäre, ein Security-Mitarbeiter schaute sie argwöhnisch an, ein Kind fragte sie nach ihrem Namen und ganz allgemein schien man sie auf einmal zu beachten, was ihr gar nicht recht war.

Die angenehme Stimmung, die sie so in der Ankunftshalle schätzte, war dahin. Sie gehörte nicht dorthin und plötzlich schienen es alle zu wissen. Sie war der festen Überzeugung, dass die Alte irgendwas damit zu tun hatte, auch wenn diese bewegungslos neben ihr saß und Richtung Ausgang blickte. Schließlich fasste sie den Entschluss, nach Hause zu fahren. Der Ort war für diesen Tag zerstört und sie beschlich das Gefühl, dass er das für immer sein würde. Kurz bevor sie die Halle verließ, warf sie noch einen letzten, verstohlenen Blick auf die Fremde. Wie ein Geist saß sie noch immer bewegungslos da, trotz ihres auffallenden Äußeren schien niemand von ihr Notiz zu nehmen. Alea iacta est, die Veränderungen waren nicht mehr aufzuhalten.

Es dauerte nicht lange, bis auch ich mich zu den Verrückten zählen lassen musste. Vielleicht war der Wahnsinn von D. auf mich übergesprungen, contact high quasi, aber ich glaube eher, dass die allgemeine Stimmung der Welt daran Schuld hatte. Die psychiatrischen Einrichtungen quollen über, Kinder redeten ehrfürchtig von der bevorstehenden Ankunft der roten Frau und zuhauf saßen die Leute morgens um 3 Uhr aufrecht im Bett und brabbelten Unverständliches vor sich hin.

Genau zu denen gehörte auch ich. Als mir D. am nächsten Morgen erzählte, dass ich mitten in der Nacht irgendwas von der Zahl 23 gefaselt hatte, ärgerte es mich, dass er es genauso wenig aufgeschrieben hatte, wie all die anderen, die Zeugen ähnlicher Tiraden geworden waren. Wer weiß, hätten wir alle Aufzeichnungen zum Vergleichen gehabt, hätten sie vielleicht Sinn ergeben und der Menschheit den Aufstieg zur nächsten Evolutionsstufe ermöglicht. Aber D. war erwartungsgemäß anderer Meinung.

»Dieses Illuminatus-Buch steigt dir gehörig zu Kopf.«

»Zu Kopf steigen? Bist du komplett durchgedreht? Alkohol steigt mir zu Kopf, vorzugsweise in 0,75 l Flaschen mit der Aufschrift ‚Grüner Veltliner‘. Dieses Buch wirkt langsamer als LSD, hält aber länger an.« Nicht, dass ich es jemals ausprobiert hätte, mein Bedürfnis Blut an den Wänden runterlaufen zu sehen, hält sich bis dato in Grenzen.

»Mir egal, ob die Wirkung wie die von Alkohol oder LSD ist, Fakt ist, du redest nur noch Blödsinn! Es kann dir keiner folgen, wenn du von sprechenden Eichhörnchen erzählst.«

»Aber warum denn nicht? Der Zusammenhang ist doch vollkommen klar!«

Er stöhnte entnervt auf. Ich weiß, dass er mich liebte, aber zurzeit war ich einfach zu viel – selbst für ihn. »Hauptsache du schreibst, dann bist du noch nicht ganz verloren,« sagte er, bevor er den Raum verließ. Er kannte mich zu gut. Kindisch streckte ich ihm die Zunge heraus, was er ohnehin längst nicht mehr –.

»Scheiße, was ist das? Dieses dickflüssige rote Zeug an der –«

»Nak nak nag naag nack.« Nur ein Verrückter verlangt danach eingewiesen zu werden – das Schnattern der Ente interessierte niemanden.

»Nak naag!« – 23!

Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Nichts war alles.

»1984 war nicht als Gebrauchsanweisung gedacht«, prangte mittlerweile auf allem und jedem in dieser Stadt. Doch zu spät. Schon längst interessierte es niemanden mehr, als was das Buch ursprünglich mal gedacht war, es wurde so gebraucht und fertig. Johnny zog sich seinen dunkelblauen Pullunder über sein kariertes Hemd, was ihn noch vor 23 Jahren wie einen Opa hätte aussehen lassen, doch jetzt ein unmissverständliches Zeichen dafür war, dass er zu den ‚coolen‘ Hipstern gehörte, über die sich alle anderen genauso lustig machten, wie die Hipster selbst, wenn sie ihre Zugehörigkeit abstritten. Wie auch immer, es scheint klar zu sein, welche Art Mensch Johnny war. Er nahm sein Tofubrot und steckte es zu seinem GurkenLaptop in die Tasche. Anschließend stöpselte er sich seinen GurkenPod in die Ohren und irgendeine unbekannte Britpop-Band begann in seine Ohren zu plärren. Insgeheim bevorzugte er die Musik von Rihanna, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben. Dabei hätte er eigentlich wissen müssen, dass man auch mit Britpop keine Revolution gewinnen kann, obwohl ihm die doch angeblich so wichtig war. Wer auch immer sie ausgerufen hatte, jetzt wo sie unaufhaltsam schien, wollte jeder davon profitieren.

Dabei waren die Fronten so undurchsichtig und widersprüchlich, dass kaum noch jemand den Überblick hatte. Manche schrien nach mehr Freiheit, manche schrien nach mehr Geld und Macht, manche schrien nach mehr Überwachung und Sicherheit und manche schrien schlicht und einfach nach Mehr. Schließlich waren sie von klein auf alle darauf konditioniert mehr zu wollen und niemand wäre auf die Idee gekommen, weniger zu verlangen. Weniger machte Angst, es musste mehr werden, nur Wachstum würde etwas bringen, alles andere den Untergang.

Mittlerweile war der Typ, der sich als Jesus bezeichnete, so was wie ein Internet-Star geworden. Es existierten bereits unzählige Videos von ihm und immer mehr Menschen sämtlicher Glaubensrichtungen hefteten sich an seine Fersen und filmten jeden Schritt von ihm mit ihren GurkenPhones. Ihm selbst schien der Rummel um seine Person langsam etwas zu viel zu werden, aber dennoch stand er ihnen jeden Tag Rede und Antwort, wenn auch ziemlich launisch. Aber launisch war genau das, was die Fangemeinde wollte: Ein liebe- und verständnisvoller Jesus hätte ohnehin nicht in diese Zeit gepasst.

»Jesus, kannst du uns sagen, ob die Welt irgendwann untergehen wird?«, fragte einer der Fans.

»Die Frage ist nicht ob, sondern wann und selbst das ist relativ«, antwortete er, »Aber mir ist schon klar, dass ihr minderbemittelten Menschen noch immer nicht die lineare Zeitrechnung aufgegeben habt. Ihr zieht nicht mal in Betracht, dass der Weltuntergang möglicherweise bereits stattgefunden hat. Wenn ihr irgendwann entdeckt, dass auch die Zeit dreidimensional ist, werdet ihr euch alle in die Hosen scheißen.«

Keiner der Anwesenden war sich sicher, was sie mit dieser ‚Antwort‘ anfangen sollten, ein einfaches ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ wäre allen lieber gewesen. Aber was erwarten die Leute, wenn sie Jesus um Rat fragen? Die Frage nach dem Weltuntergang wurde ihm schließlich nicht zum ersten Mal gestellt. Online gab es ein Video, in dem sich Jesus so anhörte, als ob er jederzeit die Apokalypse mit vier Reitern im Schlepptau – oder umgekehrt – erwarten würde.

»Sohn Gottes, bitte sage mir –«

»Götter«, unterbrach Jesus sie.

»Bitte?«

»Es heißt ‚Sohn der Götter‘!«

»Aber Herr, es gibt doch nur einen wahren Gott.«

»Wer behauptet denn sowas?«

»Die Bibel«, schrie jemand aus der Menge.

»Wurde schlecht übersetzt, dieses Buch! Eigentlich ist es auch egal, ob es ‚Sohn Gottes‘ oder ‚Sohn der Götter‘ heißt. Es ist sowieso nur eurer jämmerlichen Sprache zu verdanken, dass es überhaupt einen Unterschied gibt. Hättet ihr Menschen den verdammten Turm damals nicht zu hoch gebaut, hätten wir dieses Problem jetzt nicht.«

Ein Raunen ging durch die Menge – Blasphemie!

»Was wolltest du fragen?«, richtete er das Wort wieder an jene Frau, die er zuvor unterbrochen hatte und die ihn nun eingeschüchtert ansah.

»Ich wollte fragen, welchen Teil in der Bibel –«

»Vergesst die Bibel«, unterbrach er sie erneut und setzte noch eins obendrauf. »Eure so genannten Heiligen Schriften sind maximal dazu geeignet, einen Kamin anzuheizen und zwar von jeder Religion. Die Idee von einer grundlegenden Schrift war ja im Prinzip nicht schlecht, aber dann wurden es mehrere und die waren voll mit Missverständnissen und Fehlern. Man hätte von Anfang an nur mathematische Formeln in Steintafeln hauen sollen, dann würdet ihr mich jetzt nicht anschauen wie ein Auto und die Menschheit hätte sich in der Zwischenzeit vielleicht etwas weiterentwickelt.«

»Soll das ernsthaft heißen, dass du der Selbe bist, der vor über 2000 Jahren gekreuzigt wurde?«, meldete sich ein anderer.

»Ja. Und nein.« Er seufzte, das war mühsamer, als er gedacht hatte. »Für mich findet all das gleichzeitig statt und es gibt keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Unterschied ist nur für euch da, aber wie gesagt, dreidimensionale Zeitrechnung würde eure Köpfe wahrscheinlich zum Platzen bringen. In eurer linearen Denkweise kann man sagen, dass ich immer mal wieder aufgetaucht bin, in der einen oder anderen Gestalt. Von jedem Mal habe ich das Wissen, oder – wie ihr es nennen würdet – die Erinnerung, was jedoch nicht heißt, dass es immer ich war.«

 

Den Gedankengang konnte nun wirklich kein Anwesender nachvollziehen.

»Aber was erzähl’ ich euch das, die ihr noch immer glaubt, der Golem sei eine Sagenfigur, anstatt zu verstehen, dass Wahrheit in euren Lügen steckt und umgekehrt.«


Dieses unscheinbare Symbol tauchte nach und nach in der ganzen Stadt auf: als Graffiti auf Hauswänden und S-Bahnzügen der ÖBB, als Aufkleber auf Klowänden, vorzugsweise in Lokalen am Gürtel, auf Flyern und Postern von Partys, auf Mülleimern, in der U-Bahn – außer in der U5 –, selbst als Annonce in Zeitungen. Es verbreitete sich schleichend, tauchte mal hier auf, mal dort. Niemand schien es bewusst wahrzunehmen, keiner fragte, was es damit auf sich hatte und welche Bedeutung dahinter steckte.

Mit dem Symbol breitete sich ebenso allmählich eine andere Stimmung über Wien aus, diese sollte nicht lange unbemerkt bleiben, der Auslöser dafür jedoch schon.

Der Wasserrohrbruch riss mich wieder in die Realität zurück. Aber der Reihe nach:

Vom Film ‚23‘ lief gerade der Abspann und ich war in einer Mischung aus Paranoia und Kopfschmerzen gefangen – positive Kopfschmerzen. »Scheiße, langsam glaube ich auch, ich werde verrückt.« Der verdammte Wilson war wirklich in meinem Kopf.

»Nur ein Verrückter verlangt danach – Nak nak nag.« »Halt die Klappe, Ente!«

Plötzlich ertönte die Türklingel. Eine Begebenheit, die selten vorkam und deswegen jedes Mal einen Schauer durch meinen gesamten Körper jagte. Dieses durchdringende Geräusch, das mir jedes Mal körperlich schmerzend bewusst machte, dass andere Menschen in meinen persönlichen Lebensbereich eindringen können und das mit nur einem Knopfdruck.

Da, schon wieder! Nochmal, nochmal, nochmal... hartnäckig. »Verdammt, ich öffne die Tür nicht, so ein Klingeln kann nichts Gutes bedeuten!« Drrrrr.... Jetzt war die Person auch noch im Haus! Direkt vor der Tür! Nicht weit entfernt auch wenn – Drrrr.

»Hör’ auf«, flüsterte ich leise, während ich mir die Ohren zuhielt. »Wir sind im 21. Jahrhundert, niemand den man kennt, steht unangemeldet vor einer Haustür.« Drrr... Ich hatte Angst, meine Hände begannen zu schwitzen, ein vollkommen unbekanntes Gefühl. Drrrr... »Verdammt, es ist die Polizei! Wer sonst? Sie wollen mich zum Schweigen bringen, obwohl ich gar nichts weiß, aber das werden sie mir nicht glauben.«

Gong, gong, gong. Jetzt war er wieder unten.

Ich erspare Ihnen jetzt den Rest der folgenden qualvollen Minuten, in denen ich bewegungslos mit aufgerissenen Augen verharrte.

Nak naag – 23.

Wasserrohrbruch! Die eine Last fiel von mir ab, eine neue tauchte auf. In diesem zweifelhaften Geisteszustand musste die Abstellkammer ausgeräumt werden. »Funktioniere! Realität!« Was zur Hölle das auch immer sein sollte. War der Schweiß an meinen Händen weniger real?

Nak. Die Ente stirbt an dieser Stelle, ein notwendiges Übel um in Ruhe weiterschreiben zu können. Der Abschied bricht mir das Herz, aber gedanklich höre ich sie noch immer quaken: »Nag!« 13? Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten? Und woher stammte die akustische Gitarre in der Abstellkammer, an die sich niemand erinnern konnte?

Wer hätte schon ahnen können, dass mit den vier Reitern der Apokalypse ein Computervirus gemeint war? Der bekackte Dylan hatte Recht: ‚The times they are a-changin’.

Doch auch dieses Wissen hätte Johnny in dem Moment nicht davon abgehalten, seinen aktuellen Aufenthaltsort online zu posten. Anrufen oder gar SMS schreiben, hätte er nie gewagt. In diesem Staat las und hörte der große Bruder alles mit. Wie süß, dass Johnny davon ausging, das wäre im Internet nicht der Fall. Auf jeden Fall fand er es wesentlich sicherer seine Daten einem großen Unternehmen anzuvertrauen, als der Regierung, an deren Wohlwollen Johnny schon seit 12 Jahren nicht mehr glaubte. Genau 12 Jahre waren nämlich vergangen, seitdem er zum ersten Mal hätte wählen können und genau 12 Jahre war es her, dass er beschlossen hatte, es nicht zu tun. Wer konnte schon von sich behaupten, in so jungen Jahren so lange an einer Einstellung festzuhalten und das ungeachtet der Tatsache, dass sie sich mittlerweile als dumm und falsch herausgestellt hatte? Es ging ums Prinzip!

»Demo vor dem Parlament. In einer Stunde geht’s los, bringt Transparente und Gummibärchen.« Ein kurzer, prägnanter Post, den Johnny vor 5 Minuten online gestellt hatte und der bereits mit 15 Likes und 8 Kommentare versehen war. Zwei Leute diskutierten, ob es im 1. oder 5. Wiener Bezirk die besseren veganen Gummibärchen gab und andere drückten mit ‚Ich komme‘ ihre Teilnahme aus. 50 Jahre zuvor hatte man ebenfalls protestiert, ganz fleischlich und spontan, allerdings galten ‚Ich komme‘-Rufe damals nur der Person, in der man gerade drinsteckte oder auf der man draufsaß.

Johnny war schon etwas früher zum Parlament gefahren, um alles vorzubereiten und kniete mittlerweile auf dem kalten Steinfußboden, um ‚1984 war nicht als Gebrauchsanweisung gedacht‘ auf ein weißes Bettlaken zu malen. Er fühlte sich unglaublich freigeistig und anarchisch dabei, denn er spürte die Gefahr im Nacken, dass sie ihn dafür theoretisch jederzeit hopsnehmen konnten. Schließlich galt seine Gesinnung als ‚öffentliches Ärgernis‘ und er verstieß mit der Aktion gegen die Gesetze des ‚öffentlichen Malens‘ und des ‚öffentlichen Hintern einem staatlichen Gebäude Entgegenstreckens‘.

Doch unserem ‚Helden’ war es egal, er fühlte sich unbesiegbar. Gewissermaßen war er das auch, schließlich handelte es sich bei seinem Vater um Walter Haslinger, den Oberstaatsanwalt des Bundesgerichts. Allein das Erwähnen seines Namens beschützte Johnny davor, verhaftet zu werden. Punkt 16:07 Uhr – die Uhrzeit war so gewählt worden, dass niemand auf die beliebte Nachmittagssendung verzichten musste – setzte sich der Protestzug in Bewegung. Blöderweise hatten sowohl diejenigen, die mehr Freiheit wollten, als auch diejenigen, die mehr Überwachung und (vermeintliche) Sicherheit wollten, zur selben Zeit am selben Ort eine Demonstration organisiert. Doch das fiel niemanden von den Teilnehmenden auf und beide Gruppen freuten sich über die rege Teilnahme. Schließlich teilte man sogar ein Ziel – ‚Auf keinen Fall weniger‘ –, auch wenn das die einzige Gemeinsamkeit der beiden Gruppen war. Angeführt wurde das Spektakel von abwechselnd schreienden Personen auf einem Truck, deren Stimmen durch das Megaphon unverständlich verzerrt klangen und dadurch lediglich zum Mitgrölen und Mitmarschieren animierten – deswegen hatten sie sich schließlich versammelt. Johnny war in seinem Element, während er brav marschierte und voller Inbrunst schrie – vorausgesetzt, er stopfte sich nicht gerade verklebten Fruchtsaft in Bärenform in den Mund.

Nur ein Polizist kratzte seinen Kollegen um genau 17:06 Uhr verwirrt am Kopf und fragte: »He, wenn das die Leute sind, die für uns sind, wie sehen dann die Verrückten aus, die gegen uns sind?« Tatsächlich war keine Gruppe von der anderen zu unterscheiden und nach einer Weile hatte man das Gefühl, dass die Leute selbst nicht mehr wussten, wofür oder wogegen sie eigentlich waren.

Alles, was um 17:50 Uhr nach der Abschlusskundgebung am Ballhausplatz vor dem Bundeskanzleramt noch übrig blieb, war ein lautes Piepen in Johnnys Ohren. Der Arzt würde ihn später mit den Worten aufmuntern, seine Ohren wenigstens für einen guten Zweck weggeworfen zu haben. Nicht, dass der Herr Doktor eine Ahnung von Johnnys Zweck gehabt hätte, aber das war der Standardspruch für alle Tinnitus-Patienten, die sich an diesem Tag bei ihm einfanden und damit einen erheblichen Anteil zu seinem neuen BMW beisteuerten.

»Bauen Sie den Abstandhalter doch ein, ich habe es mir anders überlegt«, erklärte er telefonisch seinem Autohändler, während er in einer Pause genüsslich an seinem Kaffee nuckelte. Dann stand auch schon der nächste arme Irre auf der Matte, dem ebenfalls die überteuerten, aber ‚einzig wirksamen‘ Präparate angedreht wurden.

Die Tatsache, dass Johnny noch am Vortag für Revolution und Chaos auf die Straße gegangen war, um sich anschließend vom Arzt Anti-Verkrampfungs-Mittel verschreiben zu lassen, empfand niemand als Diskrepanz.

Sex hätte Johnnys Verkrampfungen mindestens genauso gut lösen können. Nicht umsonst redeten Kinder von der Ankunft der roten Frau, die sich langsam auch in männliche Träume einschlich. Dem alten Herbert war in dieser Nacht bereits zweimal einer abgegangen.

»Gar nicht schlecht für 83«, hätte er sich am nächsten Morgen vielleicht gedacht, hätte er nicht an Alzheimer gelitten. Doch so freute sich Schwester Susanne gar nicht, da sie die Flecken für Urin hielt. Niemand war da, um Herbert zu gratulieren, oder ihm seine Träume zu erklären.

Stattdessen starrten alle auf ihre Gurken Bildschirme. Die Nerds freuten sich in Internetforen, denn es hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass ein neuartiges Virus auf dem Weg war.

»Das Netz wird nie wieder das Gleiche sein. Vergesst fbileaks, anonymous und 4chan. Was Großes ist auf dem Weg – Apokalypse ;)«, postete xS54non Dienstag, 6:25 Uhr UTC und ein paar Nerds furzten vor Aufregung.

Wo ein Hype, da sind die traditionellen Medien nicht weit. Uh, welch’ schlechter Reim, dabei war das nicht einmal beabsichtigt. Es dauerte nur wenige Tage, bis auch die traditionellen Medien auf den Jesus-Internethype aufmerksam wurden und anfingen, darüber zu berichten. Angefangen von den Videos, die in grauenvoller Qualität im Fernsehen gezeigt wurden, um zu zeigen, was für ‚crazy Shit‘ gerade im Internet angesagt war, über Diskussionen, ob es sich um einen Fake oder eine Werbeaktion handeln könnte, bis hin zu Interviews mit Kirchenvertretern und Gläubigen über die Authentizität des Mannes. Fernsehteams mischten sich unter die Fans, die ihrem Star täglich auflauerten und keine ruhige Minute mehr gönnten, Reporter reisten ins Land um ein Interview mit ihm zu ergattern und Medienberater witterten ihre Chance, jede Menge Geld mit Jesus zu verdienen.

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