Die gelbe Schlange

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

5

»Ein Chinese hat es gebracht«, stotterte der Diener.

»Ein Chinese!« stieß Clifford Lynne hervor.

Der Diener zeigte verschüchtert durch das große Fenster, das auf den Rasenplatz zuging.

Einen Augenblick stand Clifford Lynne wie gelähmt, plötzlich setzte er mit einem großen Sprung durch das offene Fenster und sauste wie ein Sturmwind quer über die Rasenfläche. Zwei Sekunden später war er über die hohe Staudenhecke verschwunden. Er nahm sie in wundervollem Anlauf.

Kaum war er verschwunden, da war der Bann gebrochen. Joan mußte sich um Letty kümmern, die mit verkrampften Händen schluchzte und lachte. Unter dem Tisch wand sich die sterbende Schlange. Der Raum war von weißem, beißendem Qualm erfüllt.

Auf den Knall hin kam Mabel in das Zimmer gestürzt. Sie sah die Schlange auf dem Erdboden, blickte erschreckt von ihrer Schwester zu Joan und von Joan auf ihren schreckensbleichen Vater.

»Dieser schreckliche Kerl – er hat versucht Letty zu töten!« Sie war furchtbar in ihrer falsch angebrachten Wut.

»Seid still!«

Stephen Narth machte mit dieser scharfen Bemerkung der hysterischen Aufregung ein Ende. Er fühlte sich mit einmal als Hausherr.

»Seid ganz still, alle miteinander, ihr verflixten Mädels! Keine von euch hat soviel Verstand wie Joan!«

Letty erhob sich taumelnd, sie blickte um sich, ob sie jemand bemitleidete.

»Das war eine wirkliche Schlange.«

Narth schaute entsetzt auf das sich windende Ding und machte dabei trotz seiner ernsten Würde eine etwas lächerliche Figur. »Ach, bringen Sie das Tier aus dem Zimmer. Aber mit der Feuerzange. Hat er es totgeschossen, Joan? Ich habe gar nicht gesehen, daß er eine Pistole gebraucht hat.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Auch ich habe nichts gesehen. Ich hörte nur den Schuß.«

Mr. Narth zeigte auf die Schlange. Der Diener kam mit der Feuerzange und faßte den noch zuckenden Schwanz.

»›Verdammte Höllenbande‹, hat er gesagt«, bemerkte Joan in tiefem Nachdenken.

Die beiden Mädchen sahen ihren Vater an.

»Wer war denn das, ein Strolch, Vater?« fragte Letty.

Mr. Narth schüttelte den Kopf.

»Clifford Lynne«, sagte er. Die beiden waren starr.

»Diese Vogelscheuche?« rief Letty aufs höchste entrüstet. »Der ... ! Das also war der Mann, den ich – wir –«

Narth sah bedeutungsvoll auf Joan. Sie stand am offenen Fenster und hatte ihre Augen mit der Hand gegen die Nachmittagssonne geschützt. In diesem Augenblick kam der Diener zum Rasenplatz und hielt ein langes, strickähnliches Ding in der Feuerzange.

Clifford Lynne kam über die Hecke in raschem Lauf. Sein unmöglich langer Bart wehte nach allen Seiten auseinander. Als er die Schlange sah, hielt er an.

»Ein Gelbkopf«, sagte er nachdenklich. »Und ein gelber Bursche!«

Letty war still, als der merkwürdige Mann gemächlich ins Zimmer kam, die Hände in den Hosentaschen.

»Hat jemand hier in der Nähe einen Chinesen gesehen?« fragte er.

Letty und Mabel sprachen zu gleicher Zeit. Aber er wandte sich an Joan, die weder zitterte, noch sonst Furcht zeigte.

»Chinesen – und gleich zwei?« sagte er bedeutungsvoll. »Ich dachte es mir gleich!«

Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Dann kehrte er zum Tisch zurück und nahm die Watte aus dem Kasten heraus, Lage für Lage.

»Tatsächlich nur eine! Was für eine Gemeinheit!«

Er lugte wieder in den sonnigen Garten hinaus.

»Ich dachte mir, sie würden ihre Messer gebrauchen. Diese Schlingel können ganz wunderbar mit dem Messer werfen. Es ist jetzt gerade ein Jahr her, daß so ein Chinesenschuft einen meiner Vormänner auf der Mine durch einen Messerwurf tötete – auf eine Entfernung von über hundert Meter.«

Er hakte sich dabei an Joan gewandt, und seine Stimme klang freundlich und zuvorkommend.

»Haben Sie den Täter erwischt?« fragte sie.

Der Mann mit dem großen Bart nickte.

»Nach den im Gebirge herrschenden Gesetzen haben wir ihn gefaßt und einfach aufgehängt. Ein tüchtiger Kerl in mancher Beziehung – aber zu temperamentvoll. Und die einzige Möglichkeit, mit solchen temperamentvollen Kulis umzugehen, ist, daß man sie aufhängt.«

Sein Blick fiel auf Letty, die seine Ansicht über Temperament ungehörig, ja beleidigend fand. Er sah, wie sich ihre rosigen Lippen lächelnd kräuselten, aber es berührte ihn nicht unangenehm.

»Sind Sie es?« fragte er.

Sie begann zu sprechen. »Nein – nein – ich – was wollen Sie damit sagen?«

Sic wußte ganz genau, was er meinte.

»Ich soll jemand heiraten.«

Er blickte nun auf Mabel Narth, die dunkelrot wurde. Ihre kindlich blauen Augen blickten ihn feindselig mit aller Verachtung, die sie für ihn fühlte, an.

»Weder meine Schwester noch ich sind so glücklich«, sagte sie mit spöttischem Unterton. »Sie müssen sich an Joan wenden ...« Sie blickte sich nach Mr. Narth um. »Vater!«

Verlegen genug stellte er seine Nichte vor.

»Oh!« stieß Clifford Lynne hervor.

Und dieses »Oh!« konnte alles mögliche bedeuten. Es konnte ebenso Enttäuschung als auch bewunderndes Erstaunen sein.

»Nun gut, hier bin ich. Und ich bin bereit zum –« Er zögerte, da er im Augenblick kein Wort fand. Joan hätte schwören mögen, daß das Wort, das er wahrscheinlich gebraucht haben würde, »Opfer« heißen sollte, aber er war höflich genug und sagte »bereit zur Erfüllung der Bedingung«.

»Der alte Joe ist gestorben«, sagte der Fremde. »Ich vermute, daß Sie das wissen? Der arme alte Schwärmer! Für viele wäre es besser gewesen, wenn er schon sechs Monate früher gestorben wäre. Eine gute alte Seele, früher ein großer Sportsmann – aber er war immer ein wenig verrückt.«

Wieder wandte er sich zu Joan. Nach seinem blitzartig dramatischen Auftreten konnte sie ihn nun genauer beobachten. Er war ungefähr einhundertachtzig Zentimeter groß und selbst seine unmögliche Kleidung konnte doch seinen schönen Körperbau nicht ganz verleugnen. Sein Gesicht war stark gebräunt, sein zerzauster Bart war ebenso braun wie sein Haar und seine struppigen Augenbrauen. Alles an diesem Mann lebte; diese ungeheure Energie und Lebendigkeit war das erste, was einen starken Eindruck auf Joan machte. Sie besah sich seine unförmigen Schuhe. Während der eine mit einem Riemen zugeschnürt war, war der andere mit Bindfaden zugebunden.

Für Mr. Narth war der Augenblick gekommen, sich in Szene zu setzen und seine Autorität zu wahren. Die Umstände machten ihn zur gewichtigsten Persönlichkeit im Raum. Er war nicht nur der Herr dieses Hauses, sondern er war vor allem auch der Haupterbe. Und dieser Mann hier war nur der Geschäftsführer des alten Joe Bray, einer, dem man keine guten Worte zu geben brauchte, sondern nur zu befehlen hatte. Er war nur ein Angestellter – und in Zukunft der Angestellte von Mr. Narth. Denn wenn er Joes Vermögen erbte, so ging doch damit auch zweifellos all die Autorität auf ihn über, die damit verknüpft war.

»Hm – Mr. – Lynne, ich denke doch, daß diese Auslassungen über den Zustand meines armen Vetters ungehörig sind, und ich kann nicht zugeben, daß Sie sein ehrenvolles Ansehen schmähen.«

Der Fremde sah ihn etwas verwundert von der Seite an.

»Ah – Sie sind Narth – ich habe schon von Ihnen gehört! Sie sind also der Gentleman, der das Geld anderer Leute verspekuliert hat!«

Stephen Narth wurde abwechselnd rot und blaß. Für den Augenblick hatte er die Sprache verloren. Die Roheit dieser Äußerung lähmte ihn. Wäre Mr. Narth vernünftig gewesen, so hätte er diesen Punkt überhaupt nicht weiter erörtert.

»Diese Dinge sind ja allbekannt«, sagte Lynne, indem er sich den Bart strich. »Sie können dem Lichtkegel der öffentlichen Meinung nicht entfliehen!«

Jetzt bekam Stephen Narth seine Stimme wieder.

»Ich denke gar nicht daran, solche böswilligen Gerüchte hier zur Diskussion zu stellen«, sagte er. Dabei warf er Clifford Lynne einen Blick zu, aus dem tödlicher Haß loderte. »Es ist doch notwendig, daß ich Ihnen gegenüber im Moment feststelle, daß ich nach Mr. Brays Testament der Haupterbe bin und – der – Eigentümer –«

»Vielleicht in Zukunft«, murmelte Lynne. »Sie möchten, daß ich meine Stelle weiter behalten soll. Ich bin dazu bereit. Brauchen Sie mich?«

Er sah Joan interesselos, fast dumm an. Sie verspürte heftige Neigung zu lachen.

»Also«, begann er wieder zu sprechen, »bin ich hier und bereit. Gott weiß, ich habe es wirklich nicht nötig, mich mit kleinen Mädchen abzugeben, aber die Sache liegt so: Joe sagte zu mir: ›Willst du mir dein Wort geben?‹ und ich antwortete ›Ja‹.«

Er schaute in Gedanken noch immer zu Joan hinüber.

Erwartete er etwa eine Antwort von ihr?

Offensichtlich nicht, denn er fuhr fort:

»Aber die letzten Vorfälle machen die Sache kompliziert. Ich hatte keine Ahnung, daß wir die »Freudigen Hände« beunruhigen würden – aber ich habe nun einmal mein Wort gegeben und bin hergekommen, um es zu halten!«

Mr. Narth hielt nun den Augenblick für gekommen, ohne sich etwas zu vergeben, wieder gleichberechtigt an der Unterhaltung teilzunehmen.

»Die ›Freudigen Hände‹? So sagten Sie doch – was in aller Welt sind denn die ›Freudigen Hände‹«

Der Fremde schien die unberufene Einmischung nicht übelgenommen zu haben, und Stephen Narth hatte das deutliche Gefühl, daß die Äußerung, die der Fremde vor einigen Sekunden getan hatte, nur eine Feststellung von Tatsachen war, ohne irgendwelche beleidigenden Nebenabsichten. Clifford Lynne wußte darum, aber er schien es nicht zu verurteilen.

 

»Ich habe das kleine Haus hier in der Nähe – ›Slaters Cottage‹ heißt es doch wohl – genommen«, sagte Clifford in seiner seltsam abgerissenen Art. »Ein unheimliches Loch, aber mir sagt es zu. Zu meinem Schrecken sehe ich, daß ich Ihren Teppich beschädigt habe.«

Dabei sah er düster auf die Spuren der Tragödie, die sich vorhin abgespielt hatte.

»Immerhin, Schlangen haben gar kein Recht, auf Teppichen herumzukriechen«, sagte er erleichtert, als ob er froh wäre, eine Entschuldigung dafür zu finden, daß er hier diese Unordnung angerichtet hatte.

Mr. Narth machte ein langes Gesicht.

»Sie werden hier wohnen?« fragte er, und schon hakte er auf der Zunge, dem Fremden den Rat zu geben, bei seinen späteren Besuchen durch den Dienstboteneingang zu kommen. Aber irgend etwas hinderte ihn daran, diese unhöfliche Bemerkung auszusprechen. Einen Mann, der ein so großes Verbrechen so gleichgültig übersah, der todbringende Waffen bei sich trug, die er so schnell gebrauchen und wieder verschwinden lassen konnte, daß kein menschliches Auge eine Bewegung seiner Hand sah, durfte man nicht ungestraft beleidigen. Deshalb sagte er:

»›Slaters Cottage‹ ist eigentlich kein angenehmer Aufenthalt für Sie. Es ist nicht viel besser als eine Ruine. Das Anwesen wurde mir neulich für hundertzwanzig Pfund angeboten. Ich habe es aber abgelehnt –«

»Da haben Sie sich ein gutes Geschäft entgehen lassen«, sagte Clifford Lynne ruhig. »Da drinnen steht nämlich ein Kamin aus der Tudor-Zeit, der diese Summe zweimal wert ist.«

Während er sprach, hatte er fast geistesabwesend auf Joan geblickt.

»Ich würde gar nicht erstaunt sein, wenn ich mich in ›Slaters Cottage‹ dauernd niederließe«, fügte er fast belustigt hinzu. »Dort ist eine hübsche Spülküche, wo die Frau einem die Wäsche waschen kann, auch drei ziemlich gute Räume sind vorhanden – wenn erst einmal die Rattenlöcher zugestopft sind. Ich persönlich allerdings habe gar nichts gegen Ratten.«

»Und ich liebe sie direkt«, sagte Joan kühl, denn sie hatte sofort die Herausforderung gemerkt und gab sie schnell zurück.

Für eine Sekunde schien der leise Schimmer eines Lächelns in seinen Augen aufzublitzen.

»Also, ich wohne hier. Aber seien Sie nicht traurig, daß Sie deswegen Ihr Ansehen einbüßen könnten. Ich werde nur selten hier vorsprechen.« Dabei spitzte er den Mund. »Solch ein Chinesenschuft! Natürlich sah mich der Kerl hereinkommen und lieferte seine Sendung gleich ab. Er konnte es ja auch gar nicht vorher tun, sonst hätten sie die Bewegungen des Tieres in dem Kasten gehört. Oder die Schlange wäre gestorben – es waren keine Löcher in dem Deckel.«

Mr. Narth räusperte sich.

»Wollen Sie uns glauben machen, daß dieses Reptil in böser Absicht gegen Sie losgelassen wurde?«

Clifford Lynne betrachtete ihn belustigt.

»Eine lebendige Giftschlange ist meiner Meinung nach kein Geburtstagsgeschenk,« sagte er höflich, »und ich hasse Gelbköpfe – sie können tödlich verletzen!« Mit plötzlicher Energie schlug er sich auf den Oberschenkel und lachte. »Warum hat er das wohl getan? Natürlich! ›Gelbe Schlange‹! Ich bilde mir nicht ein, daß er das vergessen hat!«

Wieder suchten seine Augen das Mädchen.

»Sie werden einen netten, lustigen Mann bekommen ... Ich behielt Ihren Namen nicht ... Joan, nicht wahr? Ich dachte, daß die Joans alle verheiratet seien, aber vielleicht denke ich dabei an die Dorothys! Sie sind ungefähr einundzwanzig Jahre alt, nicht wahr? Alle Joans sind ungefähr einundzwanzig Jahre alt und alle Patricias ungefähr siebzehn, und die meisten Mary Anns beziehen eine Alterspension.«

»Und alle Cliffords spielen Theater«, gab sie zur Antwort.

Diesmal lachte er wirklich. Es war ein leises, angenehmes und kultiviertes Lachen, das so gar nicht im Einklang mit seinem verbotenen Äußeren stand. Ein ganz anderer, neuer Mensch schien sich unter dem abstoßenden, rauhen Gewand zu verbergen.

»Was fällt Ihnen ein, was sagen Sie da?« er drohte scherzend mit dem Finger. »Aber ich habe die Antwort verdient.«

Er langte plötzlich tief in seinen kuriosen Rock, brachte eine große Messinguhr hervor und sah nach der Zeit.

»Sie geht nicht«, sagte er entrüstet. Nachdem er sie energisch geschüttelt hatte, hielt er sie ans Ohr. »Wieviel Uhr ist es jetzt?«

»Sechs«, sagte Mr. Narth.

»Ich wußte, daß es nicht mittags halb eins sein könnte«, sagte der Besucher ruhig und stellte die Zeiger richtig. »Ich komme wieder. Ich will mir für den Augenblick ein Logis in London mieten. Aber ich werde morgen oder einen Tag später wieder hier sein. – Gehören Sie zur Kirche von England?«

Diese Frage hatte er an Joan gerichtet, die bejahend nickte.

»Auch ich gehöre so etwas dazu,« sagte Mr. Lynne, »aber ich schwärme auch für Weihrauch und gute Musik. Auf Wiedersehen, Dorothy!«

»Sie meinen Agnes«, sagte Joan. In ihren Augen war wieder ein schalkhaftes Lächeln. Sie streckte ihre Hand aus und fühlte, wie er sie kräftig schüttelte. Er würdigte keines der anderen Familienmitglieder eines solchen Grußes und verabschiedete sich mit einem Nicken, das für alle galt. Dann ging er rasch aus der Tür in die Halle. Mr. Narth dachte, daß er fort sei. Gerade wollte er anfangen zu sprechen, als der bärtige Mann wieder in der Türe erschien.

»Kennt einer von Ihnen einen Herrn mit Namen Grahame St. Clay?« fragte er.

Blitzartig erinnerte sich Mr. Narth an die Konferenz, die er heute morgen gehabt hatte. »Ach ja, ich kenne einen Herrn Grahame St. Clay. Allerdings nicht genau – aber einer meiner Direktoren ist ein Freund von ihm«, sagte er. Clifford zog die Augenbrauen hoch.

»So – er kennt ihn?« sagte er ruhig. »Und Sie haben ihn noch nie gesehen?«

Mr. Narth schüttelte den Kopf.

»Morgen abend können Sie mir erzählen, was Sie über ihn denken.«

»Aber ich werde ihn wirklich nicht treffen«, sagte Mr. Narth.

»Doch, Sie werden ihn sicher sehen«, sagte Clifford leise. Wieder zeigte sich ein Schein von Mißtrauen in seinen klaren, blauen Augen. »Bestimmt, Sie werden St. Clay sehen, denselben St. Clay, der die gelbe Rasse hochbringen will!«

Im nächsten Augenblick war er fort, indem er die Haustür hinter sich zuschlug. Er war wirklich ein Mann mit etwas heftigen Manieren, wie Mr. Narth feststellen konnte.

»Gott sei Dank, daß ich ihn nicht heirate«, sagte Mabel, und Letty, die sich kaum von ihrem Anfall erholt hatte, stimmte ihr zu.

Nur Joan sagte nichts. Sie war verwirrt, aber der fremde Mann war ihr sehr interessant, und sie fühlte nicht die geringste Furcht.

6

Am Ende des Fahrweges, der von der Landstraße zum Hause führte, stand Mr. Clifford Lynnes Wagen. »Wagen« ist vielleicht ein etwas zu ehrenvoller Name für die Maschine, die er einige Tage vorher für fünfunddreißig Pfund gekauft hatte. Er ließ den Motor laufen, da er aus Erfahrung wußte, daß er ohne diese Vorsichtsmaßregel eine halbe Stunde brauchte, um die Maschine wieder in Gang zu bringen. Unter Rattern und Stoßen, Quietschen und Knarren brachte er das Auto auf die Straße und fuhr mit viel Lärm etwa hundert Meter weit, dann bog er in einen Fahrweg ein, der in das Gebüsch führte.

Das Ende des Weges brachte ihn zu dem grauen Steingebäude Slaters Cottage. Alle Fenster waren zerbrochen. In den sechziger Jahren hatte ein Besitzer des Hauses, der hoch hinaus wollte, einen kleinen Säulenvorbau errichten lassen, der sich jetzt in der Mitte stark gesenkt hatte. Mehrere Dutzend Ziegel fehlten auf dem Dach. Das einstöckige Gebäude bot ein Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.

Eine Gruppe von drei Männern stand vor der Tür. Clifford kam gerade in dem Augenblick an, als sie sich einig geworden waren. Einer der Leute ging auf ihn zu, als er aus dem ratternden Wagen sprang.

»Sie können mit diesem Trümmerhaufen hier nichts anfangen«, sagte er. Wie man aus dem Zollstock ersehen konnte, der aus seiner hinterm Hosentasche hervorguckte, gehörte er dem Baugewerbe an. »Die Fußböden sind verfault, das Haus muß ein neues Dach haben, und außerdem brauchen Sie eine neue Wasserleitung und Kanalisation.«

Ohne ein Wort zu verlieren, ging Lynne an ihm vorbei in das Gebäude. Es bestand aus zwei Räumen, einem zur Linken und einem zur Rechten vom Mittelgang aus, den er jetzt betrat. Am Ende der Halle lag eine kleine Küche, in der ein verrosteter Herd stand. An diese war eine Spülküche angeschlossen. Durch die zerbrochenen Fenster an der Rückseite sah man einen verwitterten Schuppen, der repariert war und dadurch das Glanzstück des ganzen Anwesens bildete.

Der Fußbodenbelag ächzte und krachte unter seinen Schritten. An einer Stelle war er ganz verfault, und ein großes Loch gähnte Lynne entgegen. Die früheren Tapeten hingen in zerrissenen, farblosen Fetzen von den Wänden, und die Decke konnte man vor Spinnweben kaum mehr erkennen.

Er kam wieder zu der Gruppe vor der Haustür. Er stopfte umständlich seine Pfeife aus einem großen Canvasbeutel, den er aus seiner Tasche hervorholte.

»Sind Sie ein Baumeister oder ein Poet?« fragte er den Mann mit dem Zollstock.

Der Baumeister grinste.

»Ich verstehe etwas vom Bauen«, sagte er, »aber ich bin kein Zauberer. Um dieses Haus in einer Woche herzurichten, brauche ich drei von Aladdins Zauberlampen.«

Clifford steckte seine Pfeife in den Mund und zündete sie gemächlich an.

»Wenn wir nun von der Möglichkeit absehen, den dienstbaren Geist aus Aladdins Lampe zu engagieren, wieviel Leute brauchen Sie dann, um die Reparaturen auszuführen?«

»Es ist keine Frage, wieviel Leute ich anstellen kann, es ist letzten Endes eine Geldfrage«, sagte der Baumeister. »Sicher kann in einer Woche alles fertig sein, aber das würde Sie fast tausend Pfund kosten. Und das ganze Haus ist nicht soviel wert.«

Clifford blies eine Rauchwolke in die Luft und beobachtete, wie sie sich zerteilte.

»Stellen Sie doch zweihundert Mann ein und lassen Sie sie in achtstündigen Schichten Tag und Nacht arbeiten. Noch heute abend können sie den Fußboden aufreißen. Holen Sie so viel Lastwagen als Sie brauchen, und lassen Sie alles Material als Eilgut verladen. Also, ich will Eichenfußböden haben – dann einen Baderaum – elektrisches Licht muß gelegt werden – ferner bauen Sie mir eine Warmwasserleitung in das Haus – vor die Fenster müssen eiserne Läden kommen – diesen Weg wandeln Sie in eine gute Fahrstraße um – außerdem möchte ich ein Schwimmbassin hinter dem Hause haben – – das ist alles, wie ich denke.«

»In sieben Tagen?« staunte der Baumeister.

»Besser noch in sechs«, antwortete Lynne. »Entweder nehmen Sie die Arbeit an, oder ich werde einen anderen finden.«

»Aber Mr. Lynne, für das Geld, das Sie diese Sache kostet, können Sie eines der schönsten Häuser in Sunningdale kaufen –«

»Aber mir gefällt gerade diese Wohnung hier«, sagte Clifford Lynne. »Und dann noch eins: das Haus muß sicher vor Schlangen sein.«

Er blickte in seinem kleinen Besitztum umher. Der Zaun, der die Grenzen bezeichnete, wurde von dem Geäst der Bäume verdeckt.

»Alle diese Kiefern würden besser umgehauen«, sagte er. »Ich brauche eine klare, übersichtliche Feuerzone.«

»Was für eine Zone?« fragte der Baumeister neugierig.

»Außerdem müssen die eisernen Fensterläden Schießscharten haben – ich vergaß, Ihnen das zu sagen. Geben Sie mal Ihr Buch her.«

Er nahm dem Architekten das Notizbuch aus der Hand und begann zu skizzieren.

»Solche Form sollen sie haben und ungefähr diese Abmessungen«, sagte er, indem er ihm das Buch zurückgab. »Nehmen Sie den Auftrag an?«

»Ich will ihn übernehmen«, sagte der Baumeister, »und ich kann Ihnen versprechen, daß das Haus in einer Woche bewohnbar sein wird. Aber es wird Sie unheimlich viel kosten.«

»Ich weiß, was mich die Sache kostet, wenn das Haus nicht fertig ist«, unterbrach ihn Clifford Lynne.

Er steckte seine Hand in die Tasche, zog ein Lederetui mit Banknoten heraus, öffnete es und entnahm ihm zehn Scheine, jeden zu hundert Pfund.

»Ich will mit Ihnen keinen Kontrakt machen, weil ich eben ein Geschäftsmann bin. Heute ist Mittwoch, die Möbel werden nächsten Dienstag ankommen. Lassen Sie Öfen in jedem Raum aufstellen, und heizen Sie tüchtig. Es ist möglich, daß ich Sie für eine Woche nicht sehe, aber hier gebe ich Ihnen meine Telephonnummer. – In dieser Richtung legen Sie einen Graben bis zur Hauptstraße an, ferner brauche ich eine Telephonanlage, und denken Sie daran, daß der Zuführungsdraht unterirdisch gelegt sein muß – und zwar recht tief. Schlangen können nämlich graben!« fügte er leise hinzu.

 

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, stieg er in sein Auto und fuhr damit unter vielem Stoßen und Schaukeln die Straße entlang. Plötzlich war er den Blicken entschwunden.

»Ich werde in nächster Zeit nicht viel schlafen können«, sagte der Baumeister, und damit hatte er auch recht. –

Am nächsten Morgen regnete es, leise fielen die Tropfen. Es sah so aus, als ob es den ganzen Tag anhalten würde. Das war wenigstens die Ansicht von Mr. Narths Chauffeur, der gewohnt war, resigniert den Wechsel des englischen Klimas zu beobachten.

Mr. Stephen Narth dagegen rühmte sich, daß er überhaupt keine Notiz vom Wetter nehme. Aber irgend etwas lag in dem dunklen Himmel und der traurigen Landschaft, das mit seiner geistigen Verfassung übereinstimmte, so daß sich das Wetter auf ihn selbst übertrug und seine Niedergeschlagenheit noch vergrößerte.

Er sagte sich selbst immer wieder auf dem Wege von Sunningdale zu seinem Bureau, daß gar kein Grund vorläge, nicht guten Mutes zu sein. Sicher waren die Erlebnisse des gestrigen Tages nicht angetan, ihn aufzumuntern. Aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß es einen Weg gab, die Bedingung des alten Bray zu erfüllen, und die Tatsache, daß Joan sich bereit erklärt hatte, seinen Wünschen nachzukommen, war doch sicher erfreulich, und man konnte gratulieren.

Clifford Lynne beeinträchtigte natürlich seine Freude und war ihm ein Dorn im Auge. Merkwürdigerweise hatte das Auftauchen der Giftschlange im Wohnzimmer Mr. Narth nicht weiter beunruhigt. Sicherlich war es außergewöhnlich, ihm war aber nichts davon bekannt, daß Gelbköpfe giftig seien, auch konnte er den Zusammenhang nicht übersehen, wie der mysteriöse Kasten in sein Haus gebracht worden war. So machte er es denn wie gewöhnlich und suchte ein Problem zu vergessen, das er nicht aufklären konnte. So war es ja auch viel einfacher. Die Lösung ging ja andere Leute an.

Der ganze Vorfall hatte, soweit er ihn betraf, nur die Bedeutung, daß der Teppich in seinem Wohnzimmer zu einem Reinigungsinstitut gebracht werden mußte, wo man die beiden kleinen Löcher wieder stickte. Clifford Lynne nahm natürlich die ganze Sache viel zu theatralisch. Das war ein Lieblingsausdruck von Mr. Narth, mit dem er alle Ereignisse des Lebens abtat, die besonders aufregend auf ihn wirkten. Wenn nun alles gesagt und vollbracht war – und dieser Gedanke brachte ihn in besonders gute Stimmung – dann war das große Vermögen Joe Brays in seinen Händen. Die Wolken, die den Horizont am Tage vorher verdunkelt hakten, zerteilten sich. Es blieb ihm jetzt nur noch übrig, die Hochzeit möglichst zu beschleunigen, und die Reichtümer Joes in Besitz zu nehmen, sobald die Bedingung erfüllt war.

Er war in glücklichster Stimmung, als er durch den Privateingang in sein Bureau eintrat und konnte den beiden Leuten, die ihn dort erwarteten, ein heiteres Gesicht zeigen. Major Spedwell hatte sich über das eine Ende des Tisches gelegt, eine Zigarre zwischen den Zähnen, während Mr. Leggat am Fenster stand. Er schaute in den strömenden Regen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

»Hallo, meine Herren!« sagte Narth freundlich. »Sie sehen gerade so vergnügt aus wie Leichenbitter bei einer Beerdigung.«

Leggat drehte sich um.

»Weshalb sind Sie denn so vergnügt?« fragte er.

Stephen Narth hatte sich noch nicht überlegt, ob er seinen Kollegen einen vollständigen Einblick in seine Lage geben sollte. Denn mit dem Gelde, das ihm von der Brayschen Firma zukam, konnte er seine fragwürdigen Bekanntschaften abschütteln und zum Teufel jagen. Denn man kann nur mit Geld die Fehltritte der Vergangenheit abwaschen. Dann könnte er mit einem reinen Blatt und einem großen Kredit auf der Bank von vorn anfangen.

»Joe ist tot«, polterte er heraus, »und hat mir den größten Teil seines Vermögens vermacht.«

In seiner Freude war ihm diese unvorsichtige Äußerung entschlüpft, und er war schon böse über seine eigene Dummheit, bevor er diese Worte ganz ausgesprochen hatte.

Wenn Stephen erwartet hatte, daß diese Nachricht für die anderen eine Sensation bedeute, so war er enttäuscht.

»So, so«, sagte Leggat sarkastisch. »Und wann werden Sie das Geld in die Hand bekommen?«

»In ein oder zwei Monaten«, sagte der andere leichtfertig.

»Ein oder zwei Monate bedeuten einen oder zwei Monate zu spät«, sagte Major Spedwell. Dabei überzog sein dunkles Gesicht ein widriges Grinsen. »Ich habe heute morgen die Rechnungsrevisoren gesehen. Unter allen Umständen müssen die fünfzigtausend Pfund bis morgen beigebracht werden.«

»Tatsächlich,« unterbrach ihn Leggat, »wir sind fertig, Narth. Wir müssen das Geld in den nächsten vierundzwanzig Stunden aufbringen. Wenn keine Wenns und Abers in dem Testament enthalten sind, können Sie das Geld ja auf Grund der Dokumente leicht leihen. Ist eigentlich eine Bedingung in dem Testament?«

Narth runzelte die Stirn. Was wußte der andere? Aber Leggat sah ihm unentwegt in die Augen.

»Es ist eine Bedingung in dem Testament«, gab Narth zu. »Aber die ist praktisch schon erfüllt.«

Leggat schüttelte den Kopf.

»Damit können Sie gar nichts anfangen«, sagte er. »Ist das Testament so abgefaßt, daß Sie morgen fünfzigtausend Pfund darauf leihen können?«

»Nein«, sagte Narth kurz. »Ich kenne den wahren Wert des Vermögens nicht, und außerdem ist eine Bedingung –«

»Stimmt!« sagte Spedwell. »So ist die Lage, und die Lage ist äußerst gefährlich. Sie können nicht einen Sechser auf ein Testament bekommen, in dem eine Bedingung enthalten ist, die noch nicht erfüllt wurde, und auf ein Vermögen, dessen wahren Wert Sie nicht kennen. Ich wette, Sie haben noch nicht einmal eine Kopie dieses Testamentes.«

Stephen Narths Augen wurden klein.

»Sie reden wie ein Buch, Major«, sagte er. »Irgend jemand hat Ihnen mehr erzählt, als ich selber weiß.«

Major Spedwell drehte sich ungemütlich um.

»Jemand hat gar nichts erzählt«, sagte er bissig. »Das einzige, was mich und Leggat interessiert, ist, ob Sie bis morgen fünfzigtausend Pfund ausbringen können. Und da wir wissen, daß Sie es nicht können, haben wir Ihnen viel Unannehmlichkeiten erspart. Wir haben nämlich unseren Freund St. Clay gebeten, hierherzukommen und mit Ihnen zu sprechen.«

»Ihr Freund St. Clay? Ist das der Mann, den Sie gestern nannten?«

Plötzlich erinnerte sich Stephen Narth an die Prophezeiung Clifford Lynnes: »Sie werden ihn morgen sehen.«

»Hat denn Grahame St. Clay so viel Geld, daß er es wegwerfen kann?«

Spedwell nickte langsam.

»Ja, das kann er, und er ist auch bereit, es zu tun. Und wenn Sie meinen Rat annehmen, Narth, dann wirft er es sogar an Sie weg.«

»Aber ich kenne ihn doch nicht; wo kann ich ihn denn treffen?«

Spedwell ging auf die Türe zu, die nach dem Hauptbureau führte.

»Er wartet schon draußen, bis wir die Sache mit Ihnen besprochen haben.«

Stephen Narth sah ihn verwirrt an. Ein Mann, der fünfzigtausend Pfund ausleihen konnte, wartete auf die günstige Gelegenheit, sie zu verlieren?!

»Hier?« fragte er ungläubig.

Major Spedwell öffnete die Tür.

»Hier ist Mr. Grahame St. Clay«, sagte er.

Ein tadellos gekleideter Herr trat in das Bureau.

Narth starrte ihn mit offenem Munde an. Denn Grahame St. Clay war zweifellos ein Chinese.