Die gelbe Schlange

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3

Stephen Narth verließ sein Bureau in der Old Broad Street gewöhnlich um vier Uhr. Um diese Zeit wartete seine Limousine, um ihn nach seiner schönen Villa in Sunningdale zu bringen. Aber an diesem Abend zögerte er, aufzubrechen, nicht weil noch ein besonderes Geschäft zu erledigen war oder weil er etwas Zeit brauchte, um über seine mißliche Lage nachzudenken, sondern weil die Post aus China mit der Fünfuhrbestellung kommen mußte. Er erwartete heute seinen monatlichen Scheck.

Joseph Bray war ein Vetter zweiten Grades von ihm. Als damals die Narths Handelsfürsten waren und die Brays ihre ärmsten Verwandten, wurden die Unternehmungen Joe Brays in der großen Familie kaum beachtet. Erst vor zehn Jahren erfuhr man davon, als Mr. Narth einen Brief von seinem Vetter erhielt, in dem dieser wieder Anschluß an seine alten Verwandten suchte. Niemand hatte gewußt, daß ein Mann namens Joe Bray existierte, und als Mr. Stephen Narth den schlecht geschriebenen Brief las, war er nahe daran, ihn zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. Er hatte gerade genug mit sich allein zu tun und konnte sich nicht um das Geschick entfernter Verwandter bekümmern. Doch kurz bevor er den Brief zu Ende gelesen hatte, entdeckte er, daß der Schreiber dieses Briefes der berühmte Bray war, dessen Name auf allen Börsen der Welt Klang und Geltung hatte – der berühmte Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Und so wurde Joseph Bray wieder wichtig für ihn.

Sie hatten sich noch nie gesehen. Wohl war ihm eine Photographie des alten Mannes zu Gesicht gekommen, auf der er grimmig und hart dreinschaute. Wahrscheinlich hatte auch der Eindruck, den dieses Bild auf ihn machte, ihn davon abgehalten, seinen Verwandten um weitere Hilfe zu bitten, die er doch so dringend brauchte.

Perkins, sein Sekretär, kam kurz nach fünf mit einem Brief ins Bureau.

»Miß Joan kam heute nachmittag hierher, während Sie in der Sitzung waren.«

»Ach so!« entgegnete Stephen Narth gleichgültig.

Sie war eine Bray, eines der beiden Mitglieder des jüngeren Zweiges der Familie, die er schon kannte, bevor damals der wichtige Brief von Joe Bray kam. Sie war eine entfernte Cousine und war in seinem Hause aufgewachsen, hatte die gute, aber wenig kostspielige Erziehung genossen, wie man sie eben einer armen Verwandten angedeihen ließ. Ihre Stellung in seinem Haushalt hätte man kaum beschreiben können. Joan war wirklich sehr brauchbar: sie konnte das Haus versehen, wenn seine Töchter abwesend waren, sie konnte die Bücher führen und einen Hausverwalter ersetzen oder auch ein Dienstmädchen. Obgleich sie etwas jünger als Letty und viel jünger als Mabel war, verstand sie es ausgezeichnet, beide zu bemuttern.

Manchmal nahm sie an den Theaterbesuchen der beiden Mädchen teil, und gelegentlich kam sie auch zu einem Tanzvergnügen, wenn gerade eine Dame fehlte. Aber für gewöhnlich blieb Joan im Hintergrund. Manchmal empfand man es sogar unangenehm, daß sie bei Einladungen mit an der Tafel sitzen sollte. Dann mußte sie in ihrer großen Dachstube essen, und, um die Wahrheit zu sagen, sie war gar nicht böse darüber.

»Was wollte sie denn?« fragte Mr. Narth, als er den Umschlag des wichtigen Briefes aufschnitt.

»Sie wollte wissen, ob sie etwas nach Sunningdale mitnehmen sollte. Sie war in die Stadt gekommen, um mit Miß Letty einige Einkäufe zu machen«, sagte der alte Schreiber und fuhr fort: »Sie fragte mich, ob eine der beiden jungen Damen wegen der Chinesen telephoniert hätte.«

»Chinesen?«

Perkins erklärte. An dem Morgen waren in der Gegend von Sunni Lodge zwei gelbe Kerle aufgetaucht, beide ziemlich unbekleidet. Letty hatte sie im langen Grase liegen sehen, in der Nähe der großen Wiese. Zwei kräftig aussehende Leute, die aber, sobald sie das Mädchen sahen, aufsprangen und in der Richtung auf die kleine Pflanzung davonliefen, die zwischen dem Landgut von Lord Knowesley und der kleineren, weniger anspruchsvollen Besitzung des Mr. Narth lag.

Letty, die an nervösen Anfällen litt, war zweifellos erschreckt worden.

»Miß Joan glaubte, daß die Leute zu einer Zirkustruppe gehörten, die heute morgen durch Sunningdale zog«, sagte Perkins.

Mr. Narth fand nichts Besonderes dabei und weit davon entfernt, die Sache der Ortspolizei anzuzeigen, suchte er die Geschichte mit den Chinesen möglichst bald zu vergessen.

Langsam zog er den Inhalt des wichtigen Briefes aus dem Umschlag. Der Scheck lag darin und außerdem ein ungewöhnlich langer Brief. Joe Bray sandte im allgemeinen keine langen Episteln. Meist lag nur ein Bogen Papier bei mit der Aufschrift »Besten Gruß«. Er faltete die rote Tratte zusammen und steckte sie in seine Tasche.

Dann begann er den Brief zu lesen und war ganz erstaunt, weshalb sein Vetter plötzlich so mitteilsam geworden war. Der Brief war in der kritzligen Handschrift Joe Brays geschrieben. Fast jedes vierte Work war falsch.

»Lieber Mr. Narth« (Joe nannte ihn niemals anders), »ich glaube, daß Sie sich wundern werden, wenn ich Ihnen einen so langen Brief schreibe. Nun wohl, lieber Mr. Narth, ich muß Ihnen mitteilen, daß ich einen bösen Anfall hatte und mich nur ganz langsam erhole. Der Doktor sagt, er kann nicht sicher sagen, wie lange ich noch zu leben habe. Deshalb kam ich zu dem Entschluß, mein Testament zu machen, das ich durch den Rechtsanwalt Mr. Albert van Rys habe aufsetzen lassen. Lieber Narth, ich muß gestehen, daß ich für Ihre Familie große Bewunderung hege, wie Sie ja wohl wissen. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen und Ihren Angehörigen helfen könnte. Dabei bin ich zu folgendem Entschluß gekommen. Mein Geschäftsführer, Clifford Lynne, der seit seiner frühesten Kindheit in meinem Hause lebt, wurde mein Teilhaber, als ich diese Goldminen entdeckte. Er ist wirklich ein guter Junge, und ich habe beschlossen, daß er jemand aus meiner Familie heiraten soll, um die Linie fortzuführen. Wie ich weiß, haben Sie mehrere Mädchen in Ihrer Familie, zwei Töchter und eine Cousine, und ich wünsche, daß Clifford eine von diesen heiratet. Er hat seine Einwilligung dazu gegeben. Er ist nun auf der Reise und muß in einigen Tagen bei Ihnen ankommen. Mein letzter Wille ist nun der: ich vererbe Ihnen zwei Drittel meines Anteils an der Goldmine und ein Drittel an Clifford unter der Bedingung, daß eines der drei Mädchen ihn heiratet. Sollte keines der Mädchen ihn mögen, so erhält Clifford alles. Die Hochzeit muß aber vor dem 31. Dezember dieses Jahres geschlossen sein. Lieber Mr. Narth, wenn dies nicht annehmbar für Sie sein sollte, so werden Sie im Falle meines Todes nichts erhalten.

Ihr aufrichtiger

Joseph Bray.«

Stephen Narth las den Brief mit offenem Munde und seine Gedanken wirbelten durcheinander. Die Rettung kam von einer Seite, an die er am allerwenigsten gedacht hatte. Er klingelte, um seinen Sekretär herbeizurufen und gab ihm in großer Eile einige Instruktionen. Da er den Fahrstuhl nicht erwarten mochte, rannte er die Treppe hinunter und sprang in sein Auto. Den ganzen Weg bis nach Sunningdale mußte er an den Brief und den ungewöhnlichen Vorschlag denken.

Natürlich mußte Mabel ihn heiraten! Sie war ja die älteste. Oder Letty – das Geld war schon so gut wie in seiner Tasche ...

Als der Wagen durch die blühenden Rhododendronbüsche vorfuhr, war er sehr vergnügt und sprang mit einem strahlenden Lächeln aus de Auto. Die wachsame Mabel sah vom Rasenplatz aus, daß irgend etwas Außergewöhnliches sich zugetragen haben mußte. Sie lief herbei. Auch Letty trat in demselben Augenblick aus der Haustür. Es waren hübsche Mädchen, nur ein wenig stärker, als er hätte wünschen können. Die ältere neigte dazu, das Leben von der traurigen, bitteren Seite zu nehmen und das führte gelegentlich zu Unannehmlichkeiten.

»... Hast du von den schrecklichen Chinesen gehört?« Mabel sprang ihm mit dieser Frage entgegen, als er von dein Wagen kam. »Die arme Letty hatte beinahe einen Anfall!«

Sonst hätte er sie zum Schweigen gebracht, denn er war ein Mann, der sich nicht durch alltägliche Dinge aus der Fassung bringen ließ. Das ungewöhnliche Erscheinen eines oder zwei Gelben auf seinem Grund und Boden interessierte ihn wenig. Aber heute brachte er es sogar fertig, nachsichtig zu lächeln und machte sogar einen Witz über die Alarmnachricht seiner Tochter.

»Mein Liebling – es ist doch gar nichts dabei, um darüber zu erschrecken. Perkins hak mir alles erzählt. Die beiden armen Kerle waren wahrscheinlich ebenso erschrocken wie Letty selbst! Kommt einmal mit mir ins Wohnzimmer, ich habe etwas sehr Wichtiges mit euch zu besprechen!«

Er nahm die beiden mit sich in den schöngelegenen Raum, schloß die Tür und berichtete dann seine aufsehenerregenden Neuigkeiten, die aber zu seiner nicht geringen Verwunderung schweigend aufgenommen wurden. Mabel steckte ihre unvermeidliche Zigarette in Brand, klopfte die Asche auf den Teppich und begann, nachdem sie einen Blick mit ihrer Schwester gewechselt hatte:

»Für dich, Vater, ist das alles ja sehr gut, aber was haben wir denn von der ganzen Geschichte?«

»Was ihr davon habt?« fragte der Vater erstaunt. »Das ist doch ganz klar, welchen Vorteil ihr davon habt. Dieser Mann bekommt doch den dritten Teil des großen Vermögens –«

»Aber wieviel von diesem Drittel bekommen denn wir?« fragte Letty, die Jüngere. »Und ganz abgesehen davon – wer ist denn dieser Geschäftsführer? Mit all dem Geld, Vater, können wir eine ganz andere Partie machen, als ausgerechnet den Geschäftsführer einer Mine heiraten.«

Das tödliche Schweigen wurde von Mabel unterbrochen.

»Immerhin müssen wir die Sache mit dir auf die eine oder andere Weise beraten und in Ordnung bringen«, sagte sie. »Dieser alte Herr scheint sich einzubilden, daß es für ein Mädchen nur darauf ankommt, daß ihr Mann reich ist. Aber mir genügt das noch lange nicht.«

 

Stephen Narth lief es kalt den Rücken herunter. Ihm war es im Traum nicht eingefallen, auf dieser Seite so heftigen Widerstand zu finden.

»Aber versteht ihr denn nicht, daß wir gar nichts bekommen, wenn keine von euch diesen Mann heiratet? Natürlich würde ich mir an eurer Stelle die Sache auch überlegen, aber ich würde eine so glänzende Partie nicht ausschlagen.«

»Wieviel hinterläßt er denn eigentlich?« fragte die praktische Mabel. »Das ist doch der Angelpunkt der ganzen Frage. Ich sage ganz offen, ich habe nicht die Absicht, eine Katze im Sack zu kaufen, und dann – was werden wir für eine gesellschaftliche Stellung haben? Wahrscheinlich müßten wir doch nach China gehen und in irgendeiner erbärmlichen Hütte wohnen.«

Sie saß auf der Ecke des großen Tisches im Wohnzimmer, hatte ein Knie über das andere gelegt und wippte mit den Fußspitzen. Stephen Narth erinnerte sie in dieser Stellung an eine Bardame, die er in seiner frühen Jugend einmal gekannt hatte. Irgend etwas stimmte in Mabels Erscheinung nicht und das wurde auch nicht ausgeglichen durch ihre kurzen Röckchen und ihren wirklich hübschen Bubikopf.

»Ich habe gerade genug Sparen und Einschränken mitgemacht«, fuhr sie fort. »Ich kann nur sagen, daß bei dieser Heirat mit einem unbekannten Mann ich von vornherein ausscheide.«

»Und ich auch«, sagte Letty bestimmt. »Es ist ganz richtig, was Mabel sagt. Als Frau dieses Menschen würden wir eine erbärmliche Rolle spielen.«

»Ich kann nur sagen, daß er euch gut behandeln würde«, sagte Narth schwach. Er wurde ganz von seinen beiden Töchtern beherrscht.

Plötzlich sprang Mabel vom Tisch auf den Fußboden. Ihre Augen glänzten.

»Ich weiß einen Ausweg! – Das Aschenbrödel!«

»Das Aschenbrödel?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Natürlich – Joan, du großes Kind, lies doch den Brief genau!«

Alle drei durchflogen atemlos das Schreiben und als sie es fast zu Ende gelesen hatten, quietschte Letty vor Vergnügen.

»Natürlich, Joan!« rief sie. »Warum sollte den Ivan nicht heiraten? Das ist doch eine große Sache für sie – ihre Aussichten auf Heirat sind doch gleich Null, und sie würde doch hier überflüssig sein, wenn du sehr reich wärest. Weiß der Himmel, was wir mit ihr anfangen sollten.«

»Joan!« rief er und dabei streichelte er sein Kinn in Gedanken. An Joan hatte er nicht gedacht. Zum viertenmal las er den Brief Wort für Wort. Die Mädchen hatten recht, Joan erfüllte alle Ansprüche Joe Brays. Sie war doch ein Mitglied der Familie. Ihre Mutter war eine geborene Narth. Bevor er den Brief wieder auf den Tisch legen konnte, hatte Letty schon geklingelt, und der Diener kam herein.

»Sagen Sie doch Miß Bray, daß sie herkommen möchte, Palmer.«

Drei Minuten später trat das Mädchen in das Wohnzimmer, das Opfer, mit dem die Familie Narth die Schicksalsgötter besänftigen wollte.

4

Joan Bray war einundzwanzig, aber sie sah viel jünger aus. Sie war schlank – Letty sagte von ihr, daß sie schrecklich mager wäre, doch das war übertrieben. Die Narth waren Leute mit vollen Gesichtern, sie hatten alle ein rundes Kinn und schöne Köpfe, waren aber ein wenig phlegmatisch. Dagegen war Joan geschmeidig an Körper und lebhaft an Geist, jede ihrer Bewegungen war bestimmt und bewußt. Wenn sie ruhig dasaß, hatte sie die Haltung einer Aristokratin (sie weiß immer, wo sie ihre Hände hintun soll, gab Letty widerwillig zu). Man merkte ihr an, daß es ihr Freude machte, sich zu bewegen. Zehn Jahre lang war sie vernachlässigt, unterdrückt und beiseitegeschoben worden, wenn man sie nicht zu sehen wünschte und sie hatte dabei weder ihren Lebensmut noch ihr Vertrauen verloren.

Sie stand nun mit einem schelmischen Lächeln in ihren grauen Augen im Zimmer, sah von einem zum andern und merkte, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Zartheit ihres Teints und ihr hübsches Aussehen konnten selbst von der etwas herausfordernden Schönheit ihrer Cousinen weder in den Schatten gestellt noch hervorgehoben werden. Sie glich einem Bilde, dessen wundervolle Feinheiten nicht durch Glanzlichter oder Schlagschatten hätten unterstrichen werden müssen.

»Guten Abend, Mr. Narth.« Sie redete ihn immer formell an. »Ich habe die Vierteljahresabrechnung fertiggestellt – sie ist einfach schauderhaft!«

Zu jeder anderen Zeit hätte Stephen diese Nachricht schwer getroffen, aber die Aussicht, ein großes Vermögen zu erben, hatte die Frage, hundert Pfund mehr oder weniger zu besitzen, für ihn vollständig gleichgültig gemacht.

»Nimm doch Platz, Joan«, sagte er. Verwundert nahm sie einen Stuhl und setzte sich abseits.

»Willst du bitte diesen Brief lesen?« Er reichte das Schreiben über den Tisch zu Letty, die es ihr gab.

Schweigend las sie, und als sie fertig war, kam ein Lächeln in ihre Züge.

»Das ist wirklich eine wundervolle Nachricht. Ich bin sehr froh«, sagte sie und blickte spöttisch von einer Cousine zur andern. »Und wer wird die glückliche Braut sein?«

Ihre unzerstörbare Heiterkeit war in Mabels Augen eine Beleidigung. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Joan annahm, daß die eine oder andere von ihnen sich in eine obskure Chinesenstadt vergraben sollte, ließ sie bis in den Nacken erröten.

»Sei doch nicht so dumm, Joan«, sagte sie scharf. »Das ist noch eine Frage, die überlegt werden muß –«

»Meine Liebe« – Stephen sah ein, daß man taktvoll vorgehen mußte – »Clifford Lynne ist ein wirklich guter Mensch, einer der besten, die es gibt«, sagte er begeistert, obgleich er Clifford Lynnes Charakter, Aussehen oder Verhältnisse nicht genauer kannte als die irgendeines Arbeiters, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist das größte Glück, das uns jemals in den Weg gekommen ist. Tatsächlich«, sagte er vorsichtig, »ist dies nicht der einzige Brief, den ich von unserem alten Freund Joseph erhalten habe. Da ist nämlich noch ein anderes Schreiben, in dem er sich viel deutlicher ausdrückt.«

Joan sah ihn an, als ob sie nun erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem ganz einfachen Grunde, weil dieser Brief überhaupt nicht existierte, höchstens in seiner Phantasie.

»Wirklich, liebe Joan, Joseph wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«

Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezogenen Augenbrauen schoben sich in die Höhe.

»Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne doch den Mann gar nicht.«

»Ebensowenig wie wir«, sagte Letty ganz ruhig. »Darum handelt es sich auch gar nicht, ob man jemand kennt. Überhaupt, wie willst du irgendeinen Mann genauer kennen, den du heiraten sollst? Du siehst eben einen Mann jeden Tag einige Minuten, und du hast nicht die geringste Ahnung, was sein eigentlicher Charakter ist. Erst wenn du später verheiratet bist, kommt sein wirkliches Wesen zum Vorschein.«

Aber das alles machte Mr. Narth die Sache nicht leichter. Durch ein Zeichen bedeutete er Letty zu schweigen.

»Joan,« sagte er, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«

Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sich die Tür hinter Letty geschlossen hatte, begann er:

»Joan, ich muß mich einmal ganz frei mit dir aussprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er offen mit ihr redete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen wilden Jungen mit leichtsinnigem Charakter, der früher bei der Firma Narth Brothers angestellt war, dann aber mit der Kasse durchbrannte – es waren einige hundert Pfund Sterling – aber er hatte diese Entgleisung mit dem Leben bezahlt, als er zu einem Hafen fliehen wollte. Man fand ihn auf einer Chaussee in Kent tot unter den Trümmern seines Autos. Dann war da noch die Geschichte mit der alten kranken Mutter Joans, die in den letzten Lebensjahren von Mr. Narth unterhalten wurde (»Es ist doch unmöglich, daß wir sie ins Armenhaus gehen lassen, Vater«, hatte Mabel gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, wird es einen bösen Skandal geben« – Mabel war eben Mabel schon mit sechzehn Jahren).

»Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe«, begann Stephen und fing nun an, ihr alles ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe dir eine gesellschaftliche Stellung gegeben, die du sonst nicht gehabt hättest. Jetzt hast du einmal Gelegenheit, mir deine Dankbarkeit dafür zu zeigen. Ich wünsche sehr, daß du diesen Mann heiratest.«

Sie biß auf ihre Lippe, aber sie hob den Blick nicht von dem Teppich.

»Hörst du, was ich sage?«

Sie nickte und erhob sich langsam.

»Wollen Sie wirklich, daß ich ihn heirate?«

»Ich will, daß du eine reiche Frau wirst«, sagte er mit Nachdruck. »Ich fordere von dir gar nicht, daß du irgendein Opfer bringst; ich gebe dir eine Gelegenheit glücklich zu werden. Neun von zehn Mädchen würden sich nicht einen Augenblick besinnen.«

Es klopfte an der Tür. Der Diener kam herein und brachte auf einem Silbertablett ein Telegramm. Mr. Narth öffnete es, las und war starr.

»Er ist tot«, sagte er leise. »Der alte Joe Bray ist wirklich tot!«

Aber schon kalkulierte er. Jetzt war der 1. Juni. Wenn er Joan in einem Monat verheiratete, konnte er den Konkurs der Firma North Brothers vermeiden. Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war ruhig, sicher, aber fragend, der seine kalt, berechnend und gefühllos.

»Willst du ihn also heiraten?« fragte er.

Sie nickte.

»Ja, ich glaube«, sagte sie ruhig.

Der Seufzer der Erleichterung, mit dem er aufatmete, gab ihr einen Stich und ließ sie zum erstenmal die Bitterkeit des Lebens fühlen.

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, und du wirst es nicht bereuen«, sagte er eifrig, als er um den Tisch herum kam und ihre kalten Hände in die seinen nahm. »Ich kann dir versichern, Joan –«

Er drehte sich um, denn es klopfte wieder. Der Diener trat ein:

»Ein Herr wünscht Sie zu sehen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als auch schon der Besucher hinter ihm ins Zimmer trat. Er war ein großer Mann und trug einen getüpfelten, schlechtsitzenden Anzug aus rauhem Stoff. Seine Schuhe waren aus rohem Leder und schienen selbstgefertigt zu sein. Er hatte nicht einmal einen Kragen um. Ein weiches Hemd wurde am Hals sichtbar. Ein zerbeulter Hut in seiner Hand vervollständigte das Bild. Aber Joan schaute nur sein Gesicht an. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie konnte nur staunen. Seine langen, braunen Haare waren gewellt, er trug einen langen, ungepflegten Bart, der bis aus die Brust herabreichte.

»Wer zum Teufel –« begann Mr. Narth erstaunt.

»Mein Name ist Clifford Lynne«, sagte die Erscheinung. »Soviel ich weiß, soll ich hier jemand heiraten. Wo ist sie?«

Sie starrten den wunderlichen Mann an und Letty, die ihm auf dem Fuß gefolgt war, lachte nervös auf.

»Mr. Lynne –« stotterte Stephen Narth.

Bevor der Mann antworten konnte, kam eine dramatische Unterbrechung. Draußen hörte man jemand leise mit dem Diener sprechen. Als Mr. Narth nachschaute, sah er eine Gestalt mit einem viereckigen Kasten.

»Was ist das?« fragte er scharf.

Der Diener streckte seine Hand aus der Tür und kam mit dem Kistchen ins Zimmer. Es war ganz nm und maß ungefähr eine Spanne im Quadrat. Es ließ sich durch einen Schiebedeckel öffnen.

»Mr. Lynne?« fragte der Diener verlegen wie jemand, der sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht zu helfen weiß.

Der bärtige Mann drehte sich schnell herum. Alle seine Bewegungen hakten etwas Abgerissenes, wie Joan unbewußt beobachtete.

»Für mich?«

Er stellte den Kasten auf den Tisch und runzelte bedenklich die Stirn. Auf den Deckel waren fein säuberlich die Worte gemalt:

Clifford Lynne, Esq. (bei seiner Ankunft zu überreichen).

Als er seine Hand ausstreckte, um den Schiebedeckel zu öffnen, schauderte Joan zusammen. Es kam ihr eine unerklärliche Ahnung, daß dem Mann eine schreckliche Gefahr drohe, sie wußte aber nicht welche.

»Was zum Teufel ist das?« fragte der erstaunte Fremde.

Der Kasten stand offen, aber man konnte nichts sehen als eine Masse weicher Watte ... ab er sie bewegte sich in unheimlichen Windungen.

Plötzlich aber kam aus dem weißen Lager ein Kopf mit zwei schwarzen, perlförmigen Augen hervor, die bösartig aufglühten.

 

Im Bruchteil einer Sekunde schob sich hinter dem Kopf ein langer gewundener Körper hervor, schwankte hin und her, mit einmal zuckte er zurück und der häßliche Kopf schoß nach vorne.

Die Schlange hatte aber die Entfernung unterschätzt – nun lag sie lang auf dem Tisch, der Kopf hing über die Kante, der Schwanz war noch in der Watte versteckt. Nur für kurze Zeit lag sie so ausgestreckt da.

Während alle starr vor Schrecken standen, glitt sie geschmeidig auf den Fußboden. Wieder erhob sie ihr Haupt, ihr Körper wand sich hin und her, und dann holte sie aus zum Sprung ...

Eine Explosion betäubte alle – durch einen Nebel von blauem Dunst sah Joan, wie sich die kopflose Schlange auf dem Boden in Todeskrämpfen wand.

»Verdammte Höllenbande!« sagte Clifford Lynne verwundert. »Wer warf diesen Stein?«