DER ZIRKEL DER GERECHTEN

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DER ZIRKEL DER GERECHTEN
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EDGAR WALLACE

DER ZIRKEL

DER GERECHTEN

Roman

Apex-Verlag

Impressum

Copyright dieser Ausgabe © 2022 by Apex-Verlag.

Der Roman The Council Of Justice von Edgar Wallace ist gemeinfrei.

Übersetzung: Wilfried Schotten (OT: The Council Of Justice).

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.

Satz: Apex-Verlag.

Verlag: Apex-Verlag, Winthirstraße 11, 80639 München.

Verlags-Homepage: www.apex-verlag.de

E-Mail: webmaster@apex-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

Der Autor

DER ZIRKEL DER GERECHTEN

I. Die Rote Hundert

II. Der vierte Mann

III. Jessen, alias Long

IV. Die Rote Bohne

V. Der Rat der Gerechtigkeit

VI. Die Prinzessin der Revolution

VII. Die Regierung und Mr. Jessen

VIII. Ein Unfall im Klassenkampf

IX. Die Vier gegen die Hundert

X. Der Prozess

XI. Manfred

XII. Im Wandsworth-Gefängnis

XIII. Glauben mit Verstand

XIV. Im Old Bailey

XV. Chelmsford

XVI. Die Hinrichtung

Das Buch


In ihrem zweiten Abenteuer müssen die Vier Gerechten einen von ihnen opfern...

Es gibt Verbrechen, für die es keine angemessene Strafe gibt, Vergehen, die das Gesetz nicht ungeschehen machen kann. Aus diesem Grund wird der Rat der Gerechtigkeit ins Leben gerufen - eine Versammlung großer und leidenschaftsloser Intellektueller. Diese Männer sind gleichgültig gegenüber der öffentlichen Meinung und Moral. Sie setzen ihren Verstand und ihre Gerissenheit unerbittlich gegen mächtige Unterwelt-Organisationen und gegen Meister des Verbrechens ein. Wer die ungeschriebenen Gesetze des Rats missachtet, wird ohne Gnade getötet...

Der Roman Der Zirkel der Gerechten von Edgar Wallace, der als einer der erfolgreichsten Kriminal-Schriftsteller aller Zeiten gilt, erschien erstmals im Jahr 1908 und ist die Fortsetzung von Die Vier Gerechten.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Klassiker der Kriminal-Literatur als deutsche Erstveröffentlichung in seiner Reihe APEX CRIME.

Der Autor


Edgar Wallace.

(* 1. April 1875, † 10. Februar 1932).

Richard Horatio Edgar Wallace war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten und populärsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.

Wallace wurde in Greenwich bei London als unehelicher Sohn des Schauspielerpaares Mary Jane „Polly“ Richards und Richard Horatio Edgar geboren und unmittelbar nach seiner Geburt von dem Londoner Fischhändler-Ehepaar Freeman adoptiert. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und brach im Alter von 12 Jahren die Schule ab. Nach diversen Jobs ging er als 18-Jähriger zur Armee und arbeitete sich im Zweiten Burenkrieg in Südafrika bis zum Kriegsberichterstatter hoch.

Nach seiner Rückkehr nach London arbeitete er als Journalist und Sonderberichterstatter. 1901, noch in Südafrika, heiratete er Ivy Maude Caldecott (1880?–1926), Tochter eines Missionars. Mit ihr hatte er vier Kinder. 1918 wurde die Ehe geschieden. 1921 heiratete er seine Sekretärin Ethel Violet King (1896–1933), Tochter des Bankiers Friedrich König, mit der er eine Tochter hatte.

1905 erschien im Eigenverlag sein erster Kriminalroman Die vier Gerechten (The Four Just Men), der zwar ein Publikumserfolg war, aber für Wallace ein finanzielles Desaster bedeutete. Er hatte jedem, der die Lösung des Buches erraten würde, einen Preis in Höhe von 500 Pfund versprochen, für damalige Zeiten eine ungeheure Summe: Zu viele Menschen errieten das Ende des Romans, und er war damit finanziell am Ende. Nur dem Eingreifen von Lord Harmworth von der Daily Mail war es zu verdanken, dass Wallace diese Pleite überstand. Bekannt wurde er vor allem durch seine journalistische Arbeit und seine Afrikaromane, deren erster 1911 unter dem Titel Sanders vom Strom (Sanders Of The River) erschien.

Wallaces berühmtester Krimi war Der Hexer (The Ringer), der als Theaterstück am 1. Mai 1926 uraufgeführt wurde und ein riesiger Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Für die erste Verfilmung seines Romans The Squeaker (dt. Der Zinker, 1930) schrieb er nicht nur das Drehbuch, sondern führte auch selbst Regie.

Darüber hinaus verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Ebenfalls begann er noch mit der Abfassung des Drehbuches für den später mit Fay Wray in der weiblichen Hauptrolle gedrehten Filmklassiker King Kong und die weiße Frau (King Kong, 1932), doch er verstarb in Beverly Hills, Hollywood/Kalifornien an den Folgen einer Lungenentzündung vor dessen Vollendung. Seine Frau Violet überlebte ihren Mann um nur 14 Monate, sie starb im Alter von 37 Jahren im April 1933.

In der Nähe der Fleet Street erinnert am „Ludgate Circus“ eine Gedenktafel an Edgar Wallace mit dem Text: Er lernte Reichtum und Armut kennen – er verkehrte mit Königen und doch blieb er sich selbst treu. Seine Talente widmete er der Literatur, doch sein Herz gehörte der Fleet Street.

Sein Sohn Bryan Edgar Wallace (Death Packs At Suitcase, 1961, dt. Der Tod packt seinen Koffer) und seine Tochter Penelope Wallace (Kensington Gore, 1985, dt. Eine feine Adresse, 1987) waren ebenfalls Kriminalschriftsteller.

Die Romane von Edgar Wallace wurden in vierundvierzig Sprachen übersetzt. Auch gab es nach dem 1959 gedrehten deutschen Spielfilm Der Frosch mit der Maske in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Edgar-Wallace-Boom in Deutschland mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele dieser Filme wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ eingeleitet. In den Filmen stellte Klaus Kinski oft den Verbrecher oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern der deutschen Serie gehörten auch Karin Dor, Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Siegfried Schürenberg und Heinz Drache. Auch in Großbritannien entstanden in dieser Zeit viele Romanverfilmungen, die jedoch in Deutschland kaum bekannt sind.

Der Apex-Verlag widmet Edgar Wallace eine umfangreiche Werk-Ausgabe.

DER ZIRKEL DER GERECHTEN

I. Die Rote Hundert

Ein Urteil über das, was Manfred getan hat, steht weder Ihnen noch mir zu.

Ich sage bewusst »Manfred« und hätte ebenso gut »Gonsalez« oder aus gleichem Grund »Poiccart« nennen können. Schließlich sind sie gleichermaßen schuldig oder eben großartig, je nachdem, in welchem Licht Sie die Dinge sehen.

Auch diejenigen unter uns, die am wenigstens etwas mit den geltenden Gesetzen anfangen können, würden sich mit einer Verteidigung zurückhalten, aber der wahre Menschenfreund wird sie kaum verurteilen.

Aus unserer Sicht, die wir auch bei unseren Geschäften immer gesetzeskonform leben und Anweisungen der Polizei widerspruchslos befolgen, waren Manfreds und seiner Freunde Methoden schrecklich, unhaltbar, abstoßend.

Sie einfach Kriminelle zu nennen, wird nicht viel Zweck haben. Darin wären sich fast alle Menschen einig. Aber ich glaube – vielmehr ich weiß es – dass ihnen die Meinung der Menschheit egal war. Ich hege große Zweifel, ob sie von der Nachwelt irgendein Lob erwarteten.

Sie haben schlicht und einfach den Innenminister ermordet. Dennoch, will man das angesichts der großen humanitären Probleme, die im Raum standen, als bösartig bezeichnen?

Ich sage es frei heraus, dass meine Sympathie den drei Männern gilt, die im Namen der Gerechtigkeit rücksichtslos umschwenkten und Sir Philip Ramon töteten. Es gibt Verbrechen, für die keine adäquate Strafe existiert, und Verstöße, für die das geschriebene Gesetz keine Handhabe bietet. Genau darin liegt die Rechtfertigung für Die Vier Gerechten – der Rat der Gerechtigkeit, wie sie sich selbst nennen, ein Rat von großartigen Köpfen, leidenschaftslos.

 

Nicht lange nach Sir Philips Tod und während sich noch ganz England mit dieser Großtat beschäftigte, verabschiedete man ein Gesetz oder gar eine ganze Reihe von Gesetzen. Nicht nur bei der britischen, sondern bei Regierungen in Europa erreichte man eine Art von inoffizieller Billigung und Inspektor Falmouth hatte, was er wünschte.

Denn damit führte man Krieg gegen große Weltverbrecher – man bot alle Kräfte auf, alle Klugheit und alle großen Köpfe gegen die machtvollste Organisation der Unterwelt – gegen ehemalige Meister der Schurkenkunst und ihre gleichermaßen flinken Gehirne.

Es war ein großer Tag für die Roten Hundert. Der internationale Kongress traf sich in London, der erste große Kongress von anerkannten Anarchisten. Das war keine heimliche Versammlung von gehetzten Menschen, die sich nur verstohlen unterhalten konnten. Offen und unbeschwert ging es zu, mit drei abgeordneten Polizisten vor der Halle, einem Portier in Livree für die Eintrittskarten und ein Stenotypist mit Kenntnissen in Französisch und Jiddisch, der wichtige Äußerungen mitzuschreiben hatte.

Die tolle Tagung fand tatsächlich statt; als dies zuerst angekündigt wurde, haben die Leute über die Idee gelacht; Niloff von Vitebsk auch, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass man mit so offenem Visier vorgehen würde.

Aber »der Kleine Peter« – sein grotesker Name lautete eigentlich Konoplanikova und er war Reporter bei der dümmlichen »Russkoje Znamza« – hatte sich das Ganze ausgedacht und auch die gesamte Organisation und erforderliche Logistik übernommen, vom Anmieten eines geeigneten Saales bis zum Verkauf von Tickets durch angeworbene Russen aus einem russischen Seemannsheim – ja, liebe Genossen, der Kleine Peter war glücklich. Es war ein großer Tag für ihn.

»Man kann die Polizei immer täuschen«, sagte der Kleine Peter begeistert, »ruf nur ein Treffen zu einem menschenfreundlichen Thema zusammen und – voilà!«

So schrieb denn Inspektor Falmouth an den stellvertretenden Polizeipräsidenten:

Habe Ihr wertes Schreiben erhalten. Die heute Abend stattfindende Versammlung in der Phoenix Hall, Middlesex Street, zum Zwecke der finanziellen Förderung eines russischen Seemannsheimes ist natürlich der erste internationale Kongress der Roten Hundert. Werde dort keinen Mann einschleusen können, glaube aber nicht, dass das von Wichtigkeit wäre. Denn man wird sich auf dem Treffen gegenseitig beweihräuchern und ernsthafte Geschäfte werden nicht getätigt, bis der engere Vorstand zusammenkommt. Ich füge eine Liste der Leute bei, die bereits in London angekommen sind und erbitte höflichst von Ihnen die Zusendung von Beschreibungen der unten genannten Männer.

Drei recht unbedeutende Delegierte reisten aus Baden, Deutschland, an. Sie waren selbst für die Anarchisten von keiner Relevanz. Es handelte sich um einen Herrn Schmidt aus Freiburg, Herrn Bleaumeau aus Karlsruhe und einen Herrn Von Dunop aus Mannheim. Es war nicht nötig, auf sie ein besonderes Augenmerk zu haben, umso bemerkenswerter erschien das, was ihnen am Abend des Kongresses widerfuhr.

Herr Schmidt hatte soeben seine Pension in Bloomsbury verlassen und eilte in den Osten der Stadt. Ein kalter Regen fiel an diesem spätherbstlichen Abend und Herr Schmidt stritt mit sich selbst, ob er direkt zu dem versprochenen Treffen mit seinen beiden Kumpanen gehen oder gleich mit einem Taxi zur Kongresshalle fahren sollte. Da wurde er am Arm gepackt.

Schnell drehte er sich um und langte nach seiner Gesäßtasche. Hinter ihm standen zwei Männer, ansonsten war der Platz, den er überqueren wollte, menschenleer.

Bevor er an seinen Browning kommen konnte, hielt man seinen zweiten Arm fest und der größere der beiden Männer begann zu sprechen.

»Sie sind August Schmidt?«, fragte er.

»So heiße ich.«

»Sie sind einer der Anarchisten?«

»Das ist meine Sache.«

»Sie sind zurzeit unterwegs zu einer Versammlung der Roten Hundert?«

Herrn Schmidts Augen weiteten sich in echtem Erstaunen. »Woher wussten Sie das?«

»Ich bin Detektiv Simpson von Scotland Yard und werde Sie in Gewahrsam nehmen«, war die ruhige Antwort.

»Mit welcher Begründung?«, verlangte der Deutsche zu wissen.

»Das werde ich Ihnen später erzählen.«

Der Man aus Baden zuckte die Achseln. »Ich muss wohl noch lernen, dass es in England verboten ist, eigene Meinungen zu haben.«

Ein geschlossener Wagen fuhr auf den Platz und der kleinere der beiden pfiff, worauf der Fahrer näher an die Gruppe heranfuhr.

Der Anarchist wandte sich dem Mann zu, der ihn festgenommen hatte.

»Ich warne Sie, Siewerden sich dafür verantworten müssen«, sagte er wutentbrannt. »Ich habe eine wichtige Verabredung, an der Sie mich durch Ihr törichtes Verhalten hindern und...«

»Einsteigen!«, unterbrach ihn der Mann kurz angebunden.

Schmidt stieg in den Wagen und die Tür schnappte hinter ihm zu.

Er saß allein im Dunkeln. Das Auto fuhr los und dann bemerkte Schmidt, dass es keine Fenster gab. Eine wilde Idee schoss ihm durch den Kopf, wie er fliehen konnte. Er probierte die Autotür; sie bewegte sich nicht. Vorsichtig klopfte er dagegen. Er spürte dünne Stahlbleche.

»Ein Gefängnis auf Rädern«, murmelte er fluchend und sank zurück in eine Ecke.

Er kannte sich in London nicht aus, hatte also nicht die geringste Idee, wohin man ihn fuhr. Die Fahrt dauerte zunächst zehn Minuten; er war verwirrt. Diese Polizisten hatten ihm nichts abgenommen, sogar seine Pistole war ihm geblieben. Sie hatten noch nicht einmal versucht, ihn nach verräterischen Dokumenten zu durchsuchen. Er besaß auch keine außer dem Pass für die Konferenz und – der geheime Code! Himmel! Er musste ihn vernichten. Seine Hand rutschte in die Innentasche seines Mantels. Leer. Das dünne Lederfach war weg! Sein Gesicht nahm graue Farbe an. Die Rote Hundert ist keine überspannte oder geheime Gesellschaft, aber eine sture Organisation, die mit stümperhaften Mitgliedern noch weniger Geduld hat als bei den eingeschworenen Feinden. In der Dunkelheit des Autos tasteten seine Finger durch alle seine Taschen. Es gab keinen Zweifel mehr – die Papiere waren weg. Während er noch suchte, hielt das Auto an. Die kleine Pistole glitt ihm in die Hand. Seine Lage war verzweifelt, aber er war nicht der Mann, der einem Risiko ausweichen wollte.

Es gab da einmal ein Mitglied der Roten Hundert, der ein Passwort an die Geheimpolizei verkaufte. Und das Mitglied entkam aus Russland. Eine Frau war mit beteiligt und die ganze billige Story ist kaum das Erzählen wert. Nur, dass Mann und Frau entkamen und nach Baden gingen, und Schmidt erkannte sie von Fotos, die er aus dem Hauptquartier erhielt und eines Nachts...

Verständlich, dass dies keine schöne Sache wurde. Englische Zeitungen schrieben von einem »empörenden Mord« wegen der schockierenden Einzelheiten dieses Verbrechens. Der Mörder blieb unentdeckt – ein Umstand, der sich zugunsten Schmidts in den Büchern der Gesellschaft niederschlug.

Die Erinnerung an diese Episode kam ihm, als das Auto stoppte – vielleicht war das die Sache, was die Polizei nun entdeckt hatte? Aus einer dunklen Erinnerungsecke seines Gehirns kam die Szene wieder zurück und auch die Stimme des Mannes »Nicht! Um Christi willen! Nicht!« Schmidt begann zu schwitzen...

Die Autotür öffnete sich und er zog die Pistole.

»Nicht schießen«, kam eine ruhige Stimme aus der Dunkelheit. »Hier sind ein paar Freunde von Ihnen.«

Er senkte die Pistole, denn er hatte schnell einen keuchenden Hustenton ausgemacht.

»Von Dunop!«, rief er überrascht.

»Und Herr Bleaumeau«, sagte dieselbe Stimme. »Rein mit euch beiden.«

Zwei Männer stolperten ins Auto, der eine verblüfft und still – bis auf das keuchende Husten – der andere fluchend und wortreich.

»Warte, mein Freund!«, raste der massige Bleaumeau. »Das wird dir leid tun.«

Die Tür schloss sich und das Auto fuhr los.

Die beiden Männer draußen beobachteten das Auto, wie es mit seiner unglücklichen Fracht um eine Straßenecke verschwand und gingen langsam ihres Weges.

»Außergewöhnliche Männer«, sagte der größere von ihnen.

»Die meisten«, gab der andere zurück und dann »Von Dunop – ist das nicht derjenige...«

»Der Mann, der die Bombe auf den Schweizer Präsidenten warf – ja.«

Der Kleinere lächelte in der Dunkelheit.

»Haben ihm ein schlechtes Gewissen besorgt. Er leidet für eine Stunde.«

Das Paar ging ruhig weiter bis zur Oxford Street, als eine Kirchturmuhr acht schlug.

Der Größere hob seinen Spazierstock und ein zufälliges Taxi hielt am Straßenrand an.

»Aldgate«, sagte er und die beiden Männer nahmen drinnen Platz. Bis zur Newgate Street sprach keiner ein Wort, dann fragte der Kleinere:

»Du denkst über die Frau nach?«

Der andere nickte und sein Freund fiel in Schweigen. Dann hob er wieder an:

»Sie ist ein Problem und auf gewisse Weise auch ein schwieriges – in der Tat, sie ist die gefährlichste der Gruppe. Und das Seltsame daran ist, wäre sie nicht wunderschön und jung, wäre sie überhaupt kein Problem. Wir sind sehr menschlich, George. Es ist einfach unlogisch, dass die kleineren Interessen des Lebens nicht das große System stören sollen. Und im großen System ist es so, dass Männer eine Frau auswählen als Mutter ihrer Kinder.«

»Venenum in auro bibitur«, zitierte der andere und zeigte damit, was für ein außergewöhnlicher Detektiv er war, »und mir persönlich ist es völlig egal, ob ein verantwortungsloser Mord von einer wunderschönen Frau oder einem missgebildeten Neger begangen wird.« Sie verließen das Taxi an der Aldgate Station und wandten sich der Middlesex Street zu.

Der Versammlungsort des großen Kongresses bestand aus einer großen Halle, die ursprünglich von einem begeisterten Christenmenschen erbaut worden war. Dass Juden zur New Presbyterian Church konvertierten, war sein Traum und seine Schwäche. Mit großem Pomp wurde dieses lobenswerte Objekt eröffnet; Hymnen wurden gesungen und der begeisterte Bekehrer sprach bei dieser Gelegenheit volle zwei Stunden und vierzig Minuten.

Die Halle wechselte mehrmals den Besitzer, und weil es nie zu einer Lizenz für Tanz- und Musikveranstaltungen gekommen war, wurde sie wieder zur Missionshalle.

Diverse Generationen von kleinen Jungs hatten die Fenster zerstört und die Wände vollgeklebt. Etliche Lagen Poster hatten den Wänden Farbe verliehen. An diesem Abend gab es keinen Grund zu vermuten, es würden innerhalb dieser Wände wichtige Geschäfte getätigt. Eine russische oder jiddische oder sonstige Wiedervereinigung regt in der Middlesex Street niemanden großartig auf. Hätte der Kleine Peter dreist und frech angekündigt, der Kongress würde sich in vollständiger Zahl zusammenfinden, es hätte keine Aufregung vor Ort gegeben und – auch das ist die Wahrheit – er hätte auch noch die Dienste seiner drei Polizisten und des Türstehers eingespart.

Diesem nett und adrett gekleideten Gentleman in medaillengeschmückter Uniform präsentierten die beiden Männer die gelochten Hälften ihrer Eintrittskarten und kamen durch die äußere Lobby in einen kleinen Raum. An der Tür gegenüber stand ein dünner Mann mit zotteligem Bart und rot geränderten, müden Augen. Er trug enge, mit Knöpfen versehene Stiefel; sein Trick war, dass er ständig mit dem Kopf vorwärts und zur Seite schnappte wie ein neugieriges Huhn.

»Ihr kennt das Losungswort, meine Brüder?«, fragte er auf Deutsch, mit welcher Sprache er wohl nicht gut vertraut war.

Der größere der beiden Fremden maß den Wächter mit einem schnellen Blick von seinen Lederstiefeln hoch bis zur auffälligen Uhrkette. Dann antwortete er auf Italienisch: »Niente!«

Das Gesicht des Wächters erstrahlte vor Freude bei dieser vertrauten Sprache.

»Geh rein, Bruder; es tut sehr gut, diese Sprache zu hören.«

Die Luft der gefüllten Halle schlug den beiden Männern entgegen wie der Gluthauch eines Verbrennungsofens: unsauber, ungesund – der Morgengeruch einer billigen Absteige. Die Halle war proppenvoll, mit geschlossenen Fenstern und dichten Vorhängen und als Vorsichtsmaßnahme hatte der Kleine Peter dicke Decken vor die Ventilatoren gehängt.

An einer Seite der Halle standen auf einer Bühne ein paar Stühle im Halbkreis, darin ein rot gedeckter Tisch. Hinter den Stühlen, von denen jeder besetzt war, hing an der Wand eine riesige rote Fahne mit einem großen weißen »C« auf ihrer Mitte.

 

Man hatte sie an die Wand geheftet, aber eine Ecke hatte sich gelöst und ließ einen Teil eines aufgemalten Schriftzuges der Missionsarbeiter erkennen:...sind die Schwachen, denn ihr Erbe ist die Erde.«

Die beiden Eindringlinge drängten sich durch eine Gruppe nahe der Tür.

Das Gebäude war in drei längs gerichtete Gänge eingeteilt und sie wählten ihren Weg durch den Mittelgang, bis sie nahe der Bühne Sitzplätze fanden.

Eines der Mitglieder sprach soeben. Er mochte ein guter und diensteifriger Arbeiter sein, war aber ein schlechter Redner. Er sprach auf Deutsch und formulierte mit heiserer Betonung lauter banale Sätze. Er erzählte all die Dinge noch einmal, die man schon gehört und wieder vergessen hatte. »Jetzt ist der Zeitpunkt zum Zuschlagen«, lautete seine Feststellung, auch nur deshalb die bemerkenswerteste, weil sie immerhin einen matten Applaus hervorrief.

Die Zuhörer bewegten sich ungeduldig auf ihren Stühlen. Der gute Bentvich hatte seine zugestandene Redezeit überzogen; es gab weitere Redner, genauso weitschweifig.

Und es wurde beinahe zehn Uhr, als die Frau von Gratz auftrat.

Am größten war das Gemurmel in einer Ecke der Halle, wo der Kleine Peter, mit großen Augen und hochgezogenen Augenbrauen, zu seiner eigenen Zuhörerschaft sprach.

»Es ist unmöglich, es ist absurd, vollkommen idiotisch!« Seine dünne Stimme steigerte sich beinahe in den Diskant. »Ich lache darüber, wir sollten es alle tun, aber die Frau von Gratz hat die Sache ernst genommen und hat Angst!« »Angst! Unsinn! Oh Peter, du Dummkopf!« Es wurden noch andere Dinge gesagt, weil jeder, der sich in der Nähe aufhielt, seine Meinung kundtun wollte. Peter war beunruhigt, aber nicht wegen der Kraftausdrücke. Er war vernichtet, gedemütigt, geschlagen von der schrecklichen Kunde. Er weinte fast bei dem schrecklichen Gedanken. Die Frau von Gratz hatte Angst! Die Frau von Gratz, welche... es war schier undenkbar. Er wandte den Blick zur Bühne, aber sie war nicht dort. »Erzähl uns mehr von ihr, Peter«, beschwor ihn ein Dutzend Stimmen; aber der kleine Mann mit den glitzernden Tränen auf den blonden Wimpern winkte ab.

Weitab von seinem unverstandenen Ausbruch hatten sie nur eines verstanden – dass die Frau von Gratz Angst hatte. Und das war schlimm genug. Denn diese Frau, die einst als ein kleines flachbrüstiges Mädchen mit zwei langen geflochtenen Zöpfen, kurzem Rock und dünnen Beinen daherkam, eine zweistündige Rede in einer kleinen ungarischen Stadt hielt, wobei sie mit klangvollen Sätzen die anfangs grinsenden, dann aber still zuhörenden Männer trotz deren Vorurteile gegenüber Österreich mit ihrer Überzeugungsgewalt zusammenschweißte, wurde zur Frau von Gratz.

So schaffte es die Frau von Gratz und man sprach über sie und ließ ihre Reden in jeder Sprache zirkulieren. Und sie wuchs heran. Das hohlwangige Gesicht dieses hageren Mädchens füllte sich, der flache Busen rundete sich, sodass sich sanftere Linien ihrer Figur ergaben, und bevor man es noch recht bemerkte, war eine wunderschöne Frau geworden. So war ihr Ruhm gewachsen, bis ihr Vater starb und sie nach Russland ging.

Dann ereigneten sich mehrere Verbrechen, die man hier kurz und knapp festhalten kann:

1: General Maloff wurde in seinem Privatzimmer bei der Moskauer Polizei von einer unbekannten Frau erschossen.

2: In den Straßen von Petrograd erschoss eine unbekannte Frau den Prinzen Hazallarkoff.

3: Colonel Kaverdavskov wurde durch eine Bombe getötet, die von einer Frau geworfen wurde; sie entkam.

Und die Frau von Gratz erreichte noch größeren Ruhm. Sie war ein halbes Dutzend Mal inhaftiert gewesen, auch zweimal ausgepeitscht, aber man konnte ihr niemals etwas beweisen, noch aus ihr herausbringen – und sie war eine schöne Frau.

Nun unter dem donnernden Applaus der wartenden Delegierten stieg sie auf die Bühne und nahm den letzten freien Platz an dem rotgedeckten Tisch ein. Sie erhob ihre Hand und es wurde absolut still in der Halle, sodass ihre ersten Worte schneidend und schrill klangen, denn sie hatte sich mit ihrer Stimme auf den bisherigen Lärm eingestellt.

Nun drosselte sie ihre Lautstärke und ihre Stimme bekam einen gesprächigen Tonfall. Sie stand lässig da, die Hände hinter sich verschränkt und bewegte sich kaum. Vielmehr ließ sie ihre Emotionen durch ihre wunderbare Stimme erkennen.

Die Kraft ihrer Rede lag eher in der Art des Vortrages als in seinem Inhalt; denn nur ab und zu wich sie vom ungeschriebenen Text des Anarchismus ab: das Recht der Unterdrückten, den Diktator zu überwältigen; die Gewalt als etwas Göttliches; die Heiligkeit des Opfers und Märtyrertums im Falle einer Aufklärung oder Entdeckung. Ein Satz allein stand abseits von den Allgemeinplätzen ihrer Redekunst. Sie sprach von den Theoretikern, die zu Reformen rieten und Gewalt verdammten, »Diese Christen, welche ihr eigenes Martyrium vertreten«, sie erwähnte sie mit einem feinen Spott und die Halle röhrte ihre Zustimmung bei dieser bildlichen Vorstellung.

Die Wut, die in diesem Applaus steckte, beunruhigte sie; der größere der beiden Männer bemerkte dies sehr wohl. Denn als das Geschrei abebbte und sie sich anschickte fortzufahren, begann sie zu wanken und zu stammeln und darauf trat plötzlich Ruhe ein. Dann, ganz abrupt und mit überraschender Vehemenz, fing sie wieder zu reden an. Aber sie änderte die Redeabsicht und so sprach sie nun über ein anderes Thema. Es schien ihr in diesem Augenblick wichtiger als jedes andere, denn ihre bleichen Wangen röteten sich und ein fieberhafter Glanz trat in ihre Augen, als sie sprach: »...und nun, bei all unserer perfekten Organisation, wo die Welt nahezu greifbar ist – da kommt jemand daher und sagt STOP!« und wir, die wir durch unsere Aktionen Könige terrorisiert und die Räte von ganzen Reichen beherrschten, wir selbst sind auf einmal bedroht!« Es wurde totenstill im Saal. Man war davor schon ruhig geworden, aber diese Stille schmerzte.

Die beiden Männer, die ihr zusahen, bewegten sich ein wenig unbehaglich, als ob irgendetwas in der Rede nicht stimmte. In dem Anflug von Prahlerei in ihrer Behauptung von der Macht der Roten Hundert fiel inder Tat eine widersprüchliche Note auf. Daher sprach sie schnell weiter: »Wir haben gehört – ihr alle habt gehört – wir wissen von diesen Männern, die uns geschrieben haben. Sie sagen«, ihre Stimme wurde lauter, »wir sollen das nicht tun, was wir tun. Sie drohen uns – sie drohen mir – dass wir unsere Methoden ändern sollen oder sie werden uns bestrafen wie – wie wir andere bestrafen; töten, wie wir töten...«

Es gab ein Gemurmel in der Zuhörerschaft und die Männer schauten sich erschreckt an. Denn auf ihren bleich gewordenen Gesichtern stand das blanke und unverhohlene Entsetzen und schaute auch aus den wunderschönen Augen der Frau.

»Aber wir werden ihnen die Stirn bieten...« Sie wurde von lauten Stimmen und einem Geräusch von schlurfenden Schritten in dem kleinen Vorraum unterbrochen und ein Warnruf ließ das Auditorium von den Stühlen aufspringen. »Die Polizei!«

Hundert Hände verschwanden in heimlichen Taschen, aber jemand sprang nahe dem Eingang auf eine Bank und hob gebieterisch die Hand. »Gentlemen, es gibt keinen Grund für einen Alarm! Ich bin Detective Superintendent Falmouth von Scotland Yard, und ich habe mit der Roten Hundert kein Problem.«

Der Kleine Peter, für einen Augenblick wie versteinert, bahnte sich nun seinen Weg zum Detektiv. »Wen wollen Sie und was wollen Sie?«, fragte er. Der Detektiv stand mit dem Rücken zur Tür und antwortete. »Ich will zwei Männer haben, die beim Eintritt in diese Halle gesehen wurden: zwei Mitglieder einer Organisation, die außerhalb der Roten Hundert steht. Sie...«

»Ha!« Die Frau stand immer noch auf der Bühne und beugte sich jetzt mit blitzenden Augen vor: »Ich weiß – ich weiß!«, schrie sie atemlos; »die Männer, die uns bedrohten – die mich bedrohten – Die Vier Gerechten!«