DER ENGEL DES SCHRECKENS

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Kurz vor dem Lunch kam Inspektor Colhead zu ihnen in das Arbeitszimmer.

»Wir haben Ihr Grundstück genau durchsucht, und ich glaube, wir wissen jetzt, wo sich Meredith verborgen hielt.«

»Wirklich?«, fragte Mr. Rennett höflich.

»In der Hütte da hinten im Garten bewahren Sie, wie ich annehme, gewöhnlich Geräte und Werkzeuge auf. Jetzt ist sie ja leer, aber einer meiner Leute entdeckte, dass sich der ganze Boden aufheben lässt. Er bewegt sich in Scharnieren und wird durch Gegengewichte geöffnet und geschlossen.«

Mr. Rennett nickte.

»Das stimmt - jetzt erinnere ich mich«, sagte er kühl. »Der frühere Besitzer hatte dort seinen Wein untergebracht. Im Hause haben wir ja keine Keller, wie Sie wissen. Ich trinke keinen Wein und hatte niemals Gelegenheit, den Keller zu benutzen.«

»Und dort hat er sich versteckt. Wir fanden Decken und Kissen. Es muss ganz sicher ein Weinkeller gewesen sein, denn ein Luftschacht führt nach oben in die Büsche. Wir hätten das Versteck nie gefunden, wenn nicht einer meiner Leute gefühlt hätte, wie sich eine Ecke des Bodens unter seinen Füßen bewegte.«

Ein kurzes Schweigen.

»Noch etwas«, sagte der Detektiv langsam. »Ich komme nach und nach zu der Überzeugung, dass Meredith nicht Selbstmord begangen hat. Wir fanden ganz frische Fußspuren, die an der Rückseite des Schuppens entlangliefen.«

»Großer oder kleiner Fuß?«, fragte Jack hastig.

»Ein ziemlich großer Fuß«, versetzte der Detektiv. »Ein Schuh mit Gummiabsätzen. Wir konnten die Spuren bis zu einem Gitter am Ende des Grundstückes verfolgen, und das Gitter ist erst kürzlich geöffnet worden - wahrscheinlich von Mr. Meredith, als er hierherkam. Ein sehr merkwürdiger Fall, Mr. Rennett.«

»Und was für eine Pistole ist es?«

»Die ist auch neu«, antwortete Colhead. »Belgische Marke, und wie ich annehme, ist es ausgeschlossen, den Käufer aufzuspüren. Man kann ja die belgischen Feuerwaffen in jedem Laden, in jeder Stadt, in Ostende und Brüssel kaufen, und ich glaube, die Verkäufer sind nicht einmal angewiesen, die Nummern aufzuschreiben.«

»Es ist also dieselbe Art Waffe wie die, mit der Bulford getötet wurde«, sagte Jack ruhig.

Colhead zog die Brauen in die Höhe.

»Ganz richtig, aber wurde nicht nachgewiesen, dass es Mr. Merediths eigene Waffe war?«

Jack schüttelte den Kopf.

»Das einzige, was nachgewiesen wurde, war, dass er jemanden auf der Straße liegen sah und die Pistole aufgehoben hatte, die neben dem Toten lag. Der Schuss fiel, als Meredith die Tür von Mr. Briggerlands Haus öffnete. Dann sah er den Mann auf der Straße liegen und hob die Waffe auf. In dieser Stellung befand er sich, als Miss Briggerland, deren Aussage Meredith so schwer belastete, aus der Tür trat und ihn erblickte.«

Der Detektiv nickte.

»Ich hatte mit dem Fall nichts zu tun, erinnere mich aber, die Waffe gesehen zu haben, die mit der Pistole von heute Morgen tatsächlich völlig übereinstimmt. Ich werde mal mit dem Chef sprechen und Sie wissen lassen, wie er über die ganze Sache denkt. Sie werden natürlich bei der Leichenschau als Zeuge zu erscheinen haben.«

Als er gegangen war, blickten sich die beiden an.

»Na, Rennett, was denken Sie? Werden wir in die Tinte geraten, oder können wir uns mit einem kleinen Meineid retten?«

»Zu einem Meineid, wenigstens zu einem ernsthaften, liegt kaum Veranlassung vor«, erwiderte der andere bedächtig. »Da fällt mir übrigens ein - wo steckte denn Briggerland in der Nacht, als Bulford ermordet wurde?«

»Als sich Miss Briggerland von ihrem Schrecken erholt hatte, ging sich nach oben und weckte ihren Vater, der trotz der frühen Stunde schon im Bett lag und fest schlief. Als die Polizei auf der Bildfläche erschien, oder vielmehr, als der Detektiv, dem die Angelegenheit übergeben wurde, ankam - und seit dem Zeitpunkt des Mordes musste schon eine beträchtliche Anzahl Minuten verstrichen sein -, fand man Mr. Briggerland in einem malerischen Schlafrock und einem nicht weniger malerischen Pyjama.«

»Und sicher furchtbar entsetzt?«, sagte Rennett trocken.

Jack schwieg eine Zeitlang.

»Wissen Sie, Rennett, dass ich mir um das junge Mädchen viel mehr Sorgen mache als um die Folgen, die die Sache für uns haben kann?«

»Von welchem jungen Mädchen sprechen Sie denn?«

»Von Mrs. Meredith. Solange der arme Jim noch lebte, war sie verhältnismäßig sicher. Aber sind Sie sich schon darüber klargeworden, dass die Vorteile, die für uns ins Gewicht fielen, nämlich, dass sie keinerlei Verwandte hatte, die bedauernswerte junge Dame heute in recht schwere Gefahr bringen?«

»Das hatte ich vergessen«, versetzte Rennett nachdenklich. »Und das Testament, das Meredith heute Morgen aufsetzte, bevor er sich verheiratete, macht die Sache noch viel schwieriger.«

Jack pfiff.

»Ein Testament?«, wiederholte er überrascht.

Sein Kompagnon nickte.

»Sie erinnern sich doch, dass wir hier eine halbe Stunde zusammen gesessen haben. Er bestand darauf, ein Testament zu machen. Zeugen waren meine Frau und Bolton.«

»Und wem hat er sein Geld vermacht?«

»Alles, ohne Ausnahme, seiner Frau. Der arme Kerl war so versessen darauf, dass nicht ein Penny in die Hände der Briggerlands käme. Lieber wollte er sein ganzes Vermögen einem Mädchen anvertrauen, das er noch nie gesehen hatte.«

Jack blickte sehr ernsthaft.

»Und die Briggerlands sind die nächsten Erben! Haben Sie sich klargemacht, was das bedeutet? - Das wird verteufelt gefährlich!«

Mr. Rennett nickte.

»Das habe ich mir auch schon gesagt.«

Jack ließ sich in einen Sessel fallen, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Der Ältere störte seinen Gedankengang nicht. Plötzlich heiterte sich Jacks Gesicht auf.

»Jaggs!«, sagte er leise.

»Jaggs?«, wiederholte der andere verblüfft.

»Jaggs«, nickte Jack. »Der ist der richtige Mann. Wir müssen uns auf den Standpunkt unserer gerissenen Gegner stellen, und Jaggs ist der geeignetste Mann für so etwas.«

Mr. Rennert blickte ihn verständnislos an.

»Glauben Sie, dass Jaggs uns auch von unseren Unannehmlichkeiten befreien könnte?«, fragte er ironisch.

»Auch das bekommt er fertig«, antwortete Jack.

»Dann lassen Sie ihn möglichst bald kommen. Ich habe so eine Ahnung, als ob ihm eine recht lebhafte Zeit bevorstünde.«

Siebtes Kapitel

Kurz nach neun Uhr betrat Jean Briggerland ihr Haus in der Berkeley Street. Sie klingelte nicht, sondern öffnete selbst mit ihrem Schlüssel und ging direkt in das Speisezimmer, wo sie ihren Vater mit einer Zeitung vor sich beim Frühstück fand.

Es war der dunkelhäutige Mann, den Lydia im Theater gesehen hatte. Er blickte über seine goldene Brille hinweg, als Jean hereinkam.

»Du warst schon zeitig unterwegs!«

Sie antwortete nicht, legte bedächtig ihren Pelzmantel über eine Stuhllehne, nahm das kleine Hütchen ab und warf es auf den Tisch. Dann setzte sie sich, stützte das Kinn in die Hand und sah nachdenklich ihren Vater an.

»Nun, Kleine?« Mr. Briggerland strahlte sie durch die Brillengläser an. »Der arme Meredith hat also Selbstmord verübt?«

Sie antwortete nicht, aber ihre Augen blickten unbeweglich auf das Gesicht ihres Vaters.

»Sehr bedauerlich, äußerst bedauerlich«, Mr. Briggerland schüttelte traurig den Kopf.

»Wie hat sich die Sache eigentlich abgespielt?«, fragte sie plötzlich.

Mr. Briggerland zog die Schultern hoch.

»Ich weiß nichts, kann ja auch nur vermuten. Vielleicht floh er bei deinem Anblick in sein Versteck, das in der Nacht von Leuten, die sich dafür... hm... interessieren, gefunden worden war, und beging dort diese übereilte, folgenschwere Tat. Ich hatte irgendwie die feste Überzeugung, dass er zum Schuppen laufen würde.«

»Und wartetest dort auf ihn?«

Er lächelte.

»Ein ganz einwandfreier Selbstmord, meine Liebe.«

»So? - Schuss in die linke Schläfe, und die Pistole hielt er in der rechten Hand!«

Mr. Briggerland erschrak.

»Verdammt! Wer hat das bemerkt?«

»Der nette junge Rechtsanwalt - Glover heißt er.«

»Hat die Polizei es auch gesehen?«

»Das kann man wohl annehmen, denn er hat sie darauf aufmerksam gemacht.«

Mr. Briggerland nahm die Brille ab und putzte sorgfältig die Gläser.

»Es ging alles so schnell - ich musste doch durch die Gartentür laufen, um noch rechtzeitig mit der Polizei an der Vordertür zu sein. Aber sie hatten den Schuss gehört und waren schon in das Haus eingedrungen. Das lässt sich nun nicht ändern, und niemand weiß, dass ich überhaupt im Garten war. Dass ich mit dem Ergreifen eines entflohenen Sträflings etwas zu tun hatte, kommt ja sowieso nicht in die Zeitungen.«

»Aber über den Selbstmord wird geschrieben werden«, sagte Jean. »Nein, ich kann auch nicht annehmen, dass die Polizei den Namen des Mannes erwähnen wird, der ihr mitteilte, dass James Meredith in Dulwich Grange sein werde.«

Mr. Briggerland lehnte sich in den Stuhl zurück und sah finster drein.

»Man kann doch auch nicht an alles denken«, brummte er.

Dann stand er auf, ging zur Tür, verschloss sie und nahm aus einem Fach seines Schreibtisches eine kleine Pistole. Er überzeugte sich sorgfältig, dass sie keine Patrone enthielt, stellte sich vor den Spiegel und versuchte, die Mündung mit der rechten Hand auf die linke Schläfe zu setzen. Als er fand, dass dies unmöglich war, brummte er ärgerlich vor sich hin. Dann legte er den Daumen auf den Abzug, während der Kolben sich gegen die Handfläche stützte. Hier hatte er mehr Erfolg.

 

»So geht’s«, sagte er zufrieden. »Es kann auf diese Weise ausgeführt worden sein.«

Jean schauderte nicht vor dem Schauspiel zurück, das ihr Vater darbot. Den Kopf in die Hand gestützt, beobachtete sie jede seiner Bewegungen mit größtem Interesse. Wie sie ihm zusah und zuhörte, hätte er ihr ebenso gut einen neuen Rückschlag beim Tennis erklären können.

Mr. Briggerland setzte sich wieder an den Tisch und strich sich bedächtig ein Brötchen.

»Alle Welt geht dies Jahr nach Cannes«, begann er, »aber ich denke, wir bleiben bei Monte Carlo. Wir können dort auch ganz ruhig leben, namentlich, wenn wir eine Villa in den Bergen, nicht zu dicht bei der Bahnlinie, finden können. Ich habe Mordon schon gestern gesagt, dass er mit dem neuen Wagen vorausfahren und uns in Boulogne erwarten soll. Mordon ist von dem Wagen ganz begeistert. Eine nette telefonische Verbindung mit dem Fahrer, elektrische Heizung und...«

»Meredith war verheiratet!«

Wenn sie eine Bombe auf ihn geworfen hätte, würde das kaum einen so ungeheuren Eindruck gemacht haben wie diese drei Worte. Er starrte sie an und stieß sich vom Tisch zurück.

»Verheiratet?« Seine Stimme überschlug sich.

Sie nickte.

»Das ist eine Lüge«, brüllte er, »eine verdammte Lüge.« All seine süßliche Zuvorkommenheit war verschwunden, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und färbte sich noch dunkler. »Verheiratet - du verlogene kleine Bestie! Er konnte nicht verheiratet sein! Es war ja kaum acht Uhr vorbei, und der Geistliche wurde um neun erwartet. Ich drehe dir den Hals um, wenn du versuchst, mir einen Schreck einzujagen. Ich hab’ dir das schon mal gesagt...«

Er tobte und brüllte wie ein Besessener. Jean hörte schweigend und unbewegt zu.

»Er wurde Punkt acht von einem Geistlichen getraut, den sie aus Oxford hatten kommen lassen und der die Nacht im Hause zugebracht hat«, unterbrach sie ihn mit größter Ruhe. »Es hat gar keinen Wert, dich in eine solche Aufregung hineinzusteigern. Ich habe den Pfarrer gesehen und auch die junge Frau gesprochen.«

Jetzt wandelte sich der Rasende in einen jammernden, erbärmlichen Greis. Seine Augen standen voller Tränen, sein Kinn zitterte, und die fleischigen Hände auf dem weißen Tischtuch flogen wie im Fieber.

»Was sollen wir denn nun machen?«, jammerte er. »Mein Gott, Jean, was soll aus uns werden?«

Sie stand auf, ging zu dem Buffet an der Wand, goss ein Weinglas halb voll Whisky und brachte es ihm - alles, ohne ein Wort zu sagen. Sie war an diese Anfälle gewöhnt und auch an ihren Abschluss. Jean war weder gekränkt noch überrascht oder abgestoßen. Dieses blasse, zarte Wesen war stärker als er. Sie glich einem großen Chirurgen, dem Mitleid, wenigstens im Operationszimmer, fremd ist.

»Du wirst deine Reise nach Monte Carlo aufgeben müssen«, sagte sie, als er begierig den Whisky schlürfte.

»Wir haben jetzt alles verloren«, stammelte er. »Alles!«

»Das junge Mädchen, oder vielmehr die junge Frau, hat nicht einen Verwandten«, sagte Jean bedeutungsvoll. »Ihre nächsten Erben sind - wir!«

Er setzte das Glas nieder, blickte sie scharf an und war sofort wieder der freundliche, zuvorkommende ältere Herr.

»Kleine«, rief er begeistert, »du bist wirklich ein Wunder. Es tut mir leid, dass ich mich so kindisch betragen habe. Was schlägst du also vor?«

»Schließ erst mal die Tür auf. Ich möchte das Mädchen rufen.«

Während er zur Tür ging, drückte sie auf den Klingelknopf, und bald erschien eine ältere Frau, die Jean Kammerzofen-Dienste leistete.

»Suchen Sie mir bitte den kleinen Smaragdring, die Perlenkette und die Brillantnadel heraus und packen Sie alles mit Watte in eine kleine Schachtel.«

»Ja, Madame«, sagte die Frau und ging hinaus.

»Was willst du denn machen, Jean?«, fragte ihr Vater.

»Ich will die Schmucksachen an Mrs. Meredith schicken«, erwiderte das junge Mädchen kühl. »Geschenke, die ich von ihrem Gatten erhalten hatte. Nach dem tragischen Ende meines Traumes fühle ich, dass ich den Anblick dieser Schmuckstücke nicht länger ertragen kann.«

»Aber du hast doch die Sachen gar nicht von ihm. Meredith schenkte dir doch nur die Kette. Warum gutes Geld wegwerfen?«

»Ich weiß ganz genau, dass die Schmucksachen nicht von ihm stammen, und habe gar nicht die Absicht, gutes Geld wegzuwerfen«, sagte sie geduldig. »Erstens wird Mrs. Meredith alles wieder zurücksenden, und dann werde ich Gelegenheit haben, ein paar - freundliche Worte über Jack Glover zu äußern... und darauf warte ich nur.«

Bald darauf ging sie in ihren hübschen, kleinen Salon im ersten Stock und schrieb einen Brief.

Liebe Mrs. Meredith!

Ich sende Ihnen die wenigen Kleinigkeiten, die ich in glücklicheren Tagen von James erhalten habe. Es ist alles, was ich von ihm habe, und Sie als Frau werden verstehen, wieviel die Schmuckstücke für mich bedeuten, wenn auch ihr Besitz viele schmerzliche Erinnerungen in mir wachrief. Ich wünschte, ich könnte mich von den Erinnerungen ebenso schnell frei machen wie von den Andenken, die ich Ihnen übersende (ich habe die Empfindung, dass sie nicht mehr mein, sondern Ihr Eigentum sind), aber ich wünschte noch mehr, dass ich die Veranlassung, die Mr. Glover zu meinem bitteren Feind gemacht hat, ungeschehen machen könnte.

Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich ein, dass auch ich schuld hatte, aber ich bin überzeugt, Sie werden mir Ihr Mitgefühl nicht versagen, wenn Ihnen die Wahrheit bekannt ist. Ich war ein junges Ding, sehr unerfahren - namentlich in dem Verkehr mit Herren - und habe den Aufmerksamkeiten, die mir Mr. Glover erwies, vielleicht zu viel Bedeutung beigelegt und sie zu scharf zurückgewiesen. Damals hielt ich es noch für unverzeihlich, wenn ein junger Mann, der sich als James’ besten Freund ausgab, dessen Braut mit Liebesanträgen verfolgte. Heute weiß ich, dass so etwas sehr häufig vorkommt und dass unsere modernen jungen Mädchen nichts dabei finden. Aber ein Mann wird schwerlich einer Frau vergeben, die ihm seine närrische Torheit vorgehalten hat - das ist der eine unverzeihliche Fehler, den sich ein junges Mädchen nie zuschulden kommen lassen darf. Aus diesem Grund kränkte mich Mr. Glovers Feindschaft nicht so sehr, wie Sie vielleicht annehmen könnten.

Glauben Sie mir, bitte, dass ich in diesen schweren Tagen mit Ihnen fühle. Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, dass ich von ganzem Herzen eine glückliche Zukunft für Sie erhoffe.

Ihre Jean Briggerland

Sie steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb die Adresse und nahm sich dann ein Buch aus einem reichlich gefüllten Bücherregal.

Als ihr Vater eine Stunde später hereinkam, saß sie vor dem Kaminfeuer und las eifrig. Er blickte über ihre Schulter und brummte unwillig, als er den Titel des Buches zu Gesicht bekam.

»Ich begreife nicht, wie du dich mit solchen Büchern abgeben kannst.«

Es war der zweite Band des bekannten Werkes Berühmte Verbrecher. Jean blickte lächelnd auf.

»Das begreifst du nicht? Und die Erklärung liegt doch auf der Hand. Es ist eines der - lehrreichsten Werke meiner Sammlung.«

»Lebensläufe ganz gemeiner Verbrecher«, knurrte er. »Ihre ekelhaften letzten Worte, wie sie hingerichtet wurden - puh!«

Sie blickte lächelnd auf das Buch in ihrem Schoß. Der weiße Rand der Seiten war mit Anmerkungen in ihrer Handschrift bedeckt.

»Ganz hervorragende Denkaufgaben«, sagte sie. »Jeden einzelnen Fall habe ich durchstudiert und danebengeschrieben, wie der Verbrecher Entdeckung oder Verhaftung hätte vermeiden können. Aber die Leute waren ja alle so phantasielos und so erschreckend dumm. Die Polizei jener Zeit brauchte sich wirklich nichts darauf einzubilden, so dumme Verbrecher gefasst zu haben. Und mit unseren modernen Verbrechern ist es genau dasselbe...«

Von einem anderen Regal nahm sie zwei starke Bände herunter, die Zeitungsausschnitte enthielten.

»Gott, wie dumm - jeder von ihnen«, wiederholte sie, als sie die Seiten überflog.

»Auch die Klugen werden manchmal gefasst«, bemerkte Briggerland düster.

»Niemals.« Jean klappte das Buch energisch zu. »In England, Frankreich, Amerika, beinahe in jedem zivilisierten Lande laufen heutzutage Mörder herum; Mörder, denen der größte Respekt erwiesen wird; Mörder, deren Verbrechen der Polizei unbekannt geblieben sind. Aber nun hör mal zu!« Sie schlug das Buch wieder auf. »Hier ist der Fall Rell; der Mann brachte einen unbequemen Gläubiger mit Rattengift um. Die ganze Stadt wusste, dass er Rattengift gekauft hatte, jedermann wusste, dass er verschuldet war. Welche Chance hatte Rell, unbestraft zu bleiben? Und hier Jewelville - er tötete seine Frau, vergräbt sie im Keller und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, indem er ausreißt. So unglaublich dumm! Was haben wir hier? - Gordon, der seine

Schwägerin umbringt - sie war hoch versichert; am helllichten Tage kauft er Gift, und dann findet man noch das Fläschchen in seiner Tasche. Solche Leute verdienen doch nichts anderes, als gehängt zu werden.«

»Wenn du doch, um Himmels willen, nur nicht vom Hängen reden wolltest«, sagte Briggerland kläglich. »Du bist unmenschlich - wirklich, Jean, du bist...«

»...ein Engel«, lachte sie, »und ich kann es dir beweisen. Ich habe genug Zeitungsausschnitte, die das behaupten! Der Daily Recorder brachte eine ganze Spalte über mich, mein Äußeres, mein Auftreten als Zeugin - bei der Verhandlung gegen James Meredith, weißt du!«

Er sah den Brief auf dem Schreibtisch liegen und nahm ihn auf.

»Du hast also doch an die Dame geschrieben! Schickst du ihr die Schmucksachen?«

Sie nickte.

»Du hast doch wohl keine Dummheiten vor?«, fragte er argwöhnisch.

»Mein lieber Vater.« Jean zog die Worte in die Länge. »Nach der Vorlesung, die ich dir über die mangelnde Intelligenz des Durchschnittsverbrechers gehalten habe, glaubst du da wirklich, dass ich mir irgendeine - Dummheit zuschulden kommen lasse?«

Achtes Kapitel

»Und was gedenken Sie nun anzufangen, Mrs. Meredith?«, fragte Jack Glover.

Er hatte den größten Teil des Vormittags mit der neuen Erbin verhandelt, und Lydia hatte sprachlos zugehört, als er ihr eine lange Liste von Aktien, Grundstücken, Mietverträgen, Bankabrechnungen und ähnlichen Dingen vorlas, deren Besitzerin sie jetzt geworden war.

»Was ich anfangen werde?« Lydia schüttelte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß es nicht, habe nicht die geringste Ahnung, Mr. Glover. Mein Kopf kann das nicht fassen. Soll mir wirklich alles gehören, was Sie da vorgelesen haben?«

»Noch nicht ganz.« Jack lächelte. »Aber es gehört Ihnen schon so weit, dass wir allein auf das Testament hin bereit sind, Ihnen jede nur gewünschte Summe zur Verfügung zu stellen. Das Testament muss erst anerkannt und bestätigt werden. Sind aber diese gesetzlichen Formalitäten erfüllt und die sehr hohen Erbschaftssteuern bezahlt, können Sie über Ihr Vermögen ganz nach Gutdünken verfügen - könnten das übrigens jetzt schon«, fügte er hinzu.

»Auf jeden Fall ist ein weiterer Aufenthalt hier in der Brinksome Street für Sie gänzlich ausgeschlossen, und ich habe mir gestattet, eine möblierte Wohnung für Sie zu mieten. Einer unserer Klienten ist nach dem Kontinent verzogen und hat mir die Weitervermietung seiner Wohnung übertragen. Die Miete ist sehr niedrig, ungefähr zwanzig Pfund pro Woche.«

»Zwanzig Pfund«, stammelte das junge Mädchen entsetzt, »um Gottes willen, das kann ich ja niemals...«

Aber dann wurde ihr klar, dass sie konnte.

Zwanzig Pfund in der Woche bedeuteten schließlich gar nichts für sie. Dieser kleine Vorfall brachte ihr mehr als alles andere den Umfang ihres Vermögens zum Bewusstsein.

»Ich glaube auch, ich muss hier ausziehen. Mrs. Morgan will das Haus aufgeben und hat mich schon gefragt, was ich für Absichten habe. Ich glaube, sie würde ganz gern als Haushälterin zu mir kommen.«

»Das passt ja ausgezeichnet«, nickte Jack. »Ein Kammermädchen brauchen Sie auch, und dann müssen Sie natürlich für die Nacht Jaggs in Ihrer Wohnung haben.«

»Jaggs? Wer ist denn das?«

»Jaggs«, wiederholte Jack Glover feierlich, »Jaggs ist - Sehen Sie, Miss... ich bitte um Verzeihung, Mrs. Meredith... sehen Sie, ich mache mir große Sorgen um Ihre Sicherheit und hätte gerne, dass Sie in der Nacht einen Wächter in Ihrer Wohnung haben, auf den Sie sich verlassen können. Sie halten mich für eine überängstliche alte Frau«, fügte er hinzu, als er Lydia lächeln sah, »und meine Besorgnisse für grundlos, aber nach Ihren eigenen Erfahren in der letzten Woche werden Sie mir wohl zugeben, dass auch in London alles möglich ist.«

 

»Aber ich bitte Sie, Mr. Glover - Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich mich in Gefahr befinde? Ja, vor wem, vor was denn?«

»Vor einer ganzen Menge Menschen«, sagte er diplomatisch.

»Vielleicht vor der armen Miss Briggerland?«, sagte sie herausfordernd, und ihre Augen zogen sich zusammen.

»Die arme Miss Briggerland«, antwortete er bedächtig. »Sie ist sicher viel ärmer, als sie erwartete.«

»Unsinn«, rief das junge Mädchen gereizt. »Mein lieber Mr. Glover, warum verfolgen Sie eigentlich das arme Ding mit Ihrer Rache? Glauben Sie wirklich, ihr gegenüber fair zu handeln? Seien Sie ehrlich, Mr. Glover - spricht da nicht Ihrerseits verwundete Eitelkeit mit?«

Er starrte sie verblüfft an.

»Verwundete Eitelkeit? Sie meinen, ich wäre gekränkt, beleidigt?«

Sie nickte.

»Und warum sollte ich denn gekränkt oder beleidigt sein?« frage er langsam.

»Das müssen Sie selbst am besten wissen!«

Jetzt ging ihm langsam ein Licht auf.

»Habe ich vielleicht Miss Briggerland - unglücklich geliebt?«

»Das müssen Sie wissen«, wiederholte sie.

»Allmächtiger!«, rief er und brach dann in schallendes Gelächter aus, das gar nicht aufhören wollte.

»Ich nehme an, ich habe sie mit meinen Anträgen verfolgt, und sie war entrüstet, dass ich meinen Freund so hintergehen konnte, und dann gab sie mir den Laufpass - und darum bin ich so wütend auf sie?«

»Sie haben ein vorzügliches Gedächtnis«, sagte Lydia spitz.

»Mein Gedächtnis ist leider nicht so gut wie Miss Briggerlands Erfindungsgabe«, sagte Jack. »Fällt Ihnen denn nicht auf, Mrs. Meredith, dass ich heute gar nicht hier sein könnte, wenn es wirklich so gewesen wäre, wie Sie annehmen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich meine«, erwiderte Jack Glover eindringlich, »dass ich es in diesem Fall gewesen wäre, den man durch eine telefonische Mitteilung aus dem Club gelockt und veranlasst hätte, vor Miss Briggerlands Tür in der Berkeley Street zu warten - ich, und nicht Bulford. Ich wäre es gewesen, den Miss Briggerlands Vater vom Fenster des Salons aus niedergeschossen hätte.«

Lydia blickte ihn sprachlos an.

»Wie können Sie eine so unerhörte Verdächtigung aussprechen!«, rief sie empört. »Wollen Sie vielleicht behaupten, dass das junge Mädchen Beihilfe bei einem Mord geleistet hat?«

»Ich behaupte nicht nur, dass sie Beihilfe geleistet hat, sondern ich setze auch mein Leben zum Pfand, dass sie es war, die den ganzen Plan entworfen hat.«

»Aber die Pistole wurde doch neben Bulfords Leiche gefunden«, rief sie triumphierend. »Das können Sie doch nicht abstreiten.«

Jack nickte.

»Die Entfernung von Bulfords Leichnam zum Salonfenster betrug genau neun Fuß. Es war möglich, die Waffe so zu werfen, dass sie in seine Nähe fiel. Auf Anweisung Miss Briggerlands wartete Bulford vor der Tür. Wir haben den Telefonanruf in Bulfords Club feststellen können - er kam aus Briggerlands Haus in der Berkeley Street, und der Clubangestellte kann beschwören, eine Frauenstimme erkannt zu haben. Das haben wir leider erst nach der Verhandlung herausgefunden. Der arme Meredith befand sich in Briggerlands Diele, als der Schuss fiel - das Signal zum Feuern wurde in dem Augenblick gegeben, als Meredith die Hand auf die Türklinke legte. Er hörte den Schuss, stürzte hinaus und sah den Mann auf der Straße liegen. Ob er die Pistole aufnahm oder nicht, weiß ich nicht. Jean Briggerland sagte unter Eid aus, Meredith habe sie in der Hand gehalten, aber Miss Briggerland ist eine ganz hoffnungslose Lügnerin.«

»Ich glaube, Sie wissen selbst nicht, was Sie da sagen«, versetzte Lydia leise. »Das ist ja eine furchtbare Anklage, die Sie da aussprechen - und gegen ein junges Mädchen, dessen Gesicht allein Ihre unsinnigen Behauptungen Lügen straft.«

»Ihr Gesicht ist ja ihr Haupttrumpf«, sagte Jack bissig, nahm sich aber sofort bedauernd zusammen. »Verzeihen Sie bitte, wenn ich ausfallend wurde, aber schon allein die Erwähnung des Namens Jean Briggerland bringt mich in Aufruhr. Aber Jaggs? - Sie werden doch meine Bitte erfüllen?«

»Was ist er denn?«

»Ein alter, pensionierter Soldat. Ein merkwürdiger Kerl, aber trotz seines Alters sehr kräftig.«

»Ach so, alt ist er?«, fragte sie mit einer gewissen Erleichterung.

»Alt und in gewisser Beziehung arbeitsunfähig. Er kann seinen rechten Arm nicht gebrauchen und ist auf einem Fuß nicht ganz sicher. Die Folgen einer Kriegsverletzung.«

Lydia musste lachen.

»Kein besonders anziehender Schutzengel«, fuhr Jack fort. »Er ist ein alter, aber jedenfalls sauberer Vogel, obwohl ich zugeben muss, dass er nicht so aussieht, Ihnen und Ihrem Personal wird er überhaupt nicht lästig fallen. Geben Sie ihm irgendein Zimmer, wo er sich aufhalten kann, und wenn er dann noch ein Stück Brot und Käse und ein Glas Bier bekommt, ist er zufrieden. Sie werden ihn kaum zu Gesicht bekommen.«

Lydia hörte belustigt zu. Dass Jack Glover sich einbildete, sie habe einen Wächter nötig, war ja lächerlich, aber wenn er wirklich so viel Wert darauf legte, war der harmlose alte Jaggs jedem anderen vorzuziehen.

»Wann soll er denn kommen?«

»Jeden Abend gegen zehn Uhr, und er zieht morgens um sieben wieder ab. Wenn Sie es nicht wünschen, werden Sie ihn überhaupt nicht sehen.«

»Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«

»Ich kenne jeden Menschen«, antwortete der junge Mann großartig. »Vergessen Sie nicht, dass ich Anwalt bin und manchmal mit sehr merkwürdigen Leuten zusammenkomme.«

Er suchte die Papiere zusammen und legte sie in eine Mappe.

»Was haben Sie heute vor, wenn ich fragen darf?«

Seine selbstübernommene Vormundschaft missfiel ihr etwas, aber sie durfte ja nicht vergessen, was sie ihm zu verdanken hatte.

In unerklärlicher Weise hatte er es fertiggebracht, dass ihr Name im Meredith-Prozess nicht erwähnt wurde, dass sie nicht einmal als Zeugin bei der Leichenschau vorgeladen wurde. Ebenso war es ihm möglich gewesen, seinen Kompagnon und sich reinzuwaschen, und wenn der Ehrenrat der Rechtsanwälte eine Untersuchung eingeleitet hatte - davon war aber Lydia nichts bekannt -, so war es doch mehr als wahrscheinlich, dass keine nennenswerten Folgen für Rennett, Glover & Simpson entstehen würden.

»Heute Nachmittag bin ich bei Mrs. Cole-Mortimer zum Tee.«

»Mrs. Cole-Mortimer?«, sagte er schnell. »Woher kennen Sie denn die Dame?«

»Wirklich, Mr. Glover, Sie sind un... gezogen«, sagte sie, musste aber trotz ihrer Verstimmung lächeln. »Zwei oder drei Tage nach jenem tragischen Morgen machte sie mir einen Besuch. Sie kannte ja Mr. Meredith sehr gut und war eine langjährige Freundin der Familie.«

»In Wahrheit war sie mit Meredith kaum wohlvertraut«, sagte Jack eisig, »und sie war ganz bestimmt keine Freundin der Familie. Dagegen ist sie sehr gut mit Miss Jean Briggerland bekannt.«

»Jean Briggerland!«, rief Lydia außer sich. »Müssen Sie denn immer an sie denken! Wissen Sie, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ein so bekannter und angesehener Anwalt so voller Vorurteile sein könnte. Ich weiß genau, dass sie sehr gut mit Mr. Meredith bekannt war. Sie brachte mir sogar eine Fotografie von ihm mit - eine Aufnahme aus Eton.«

»Geliefert von Jean Briggerland«, versetzte Jack ungerührt. »Und wenn sie ein Paar Babysöckchen von ihm mitgebracht hätte, wären Ihnen wohl vor Rührung die Tränen in die Augen gekommen?«

»Sie sind abscheulich«, rief sie, »und ich habe noch viel zu tun.«

Jack wandte sich an der Tür noch einmal um.

»Vergessen Sie nicht, dass Sie schon von morgen ab nach Cavendish Mansions umziehen können. Ich werde Ihnen die Schlüssel schicken, und am Abend Ihres Einzugs wird der alte Jaggs frisch und vergnügt seinen Posten beziehen. Er spricht nicht viel und...«

»Ich glaube kaum, dass ich dem armen Menschen je die Möglichkeit dazu geben werde«, sagte sie schnippisch.

Neuntes Kapitel

Mrs. Cole-Mortimer besaß ein kleines Haus. Sie gab große Gesellschaften, aber niemand wusste, aus welchen Mitteln diese Oberst-Witwe ihren Aufwand bestritt. Ihr Haushalt war kostspielig, das ließ sich nicht leugnen. Sie hielt sich ein Auto, gab in der Saison große Diners und Tanzabende und verschwand aus London, sobald es korrekt war, nicht mehr in der Hauptstadt gesehen zu werden.

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