DER ENGEL DES SCHRECKENS

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»Von mir?« Das junge Mädchen war ehrlich überrascht. »Offen gestanden habe ich eigentlich nicht besonders viel für Rechtsanwälte übrig, und...«

»Kann ich sehr gut begreifen«, murmelte Mr. Glover.

»Selbstverständlich liegt mir nicht daran, Sie mit Ihren Kompagnons auseinanderzubringen.«

»Die Angelegenheit ist doch bedeutend ernster«, warf Mr. Rennett, der an ihrer Seite saß, ein. »Die Sache verhält sich folgendermaßen. Wir handeln, ich sage Ihnen das ohne weiteres, in jeder Beziehung wider Recht und Gesetz. Berichten Sie Einzelheiten über das, was wir vorhaben, der Polizei, so bedeutet das sicheren Ruin für uns. Sie werden jetzt schon sehen, dass das ganze Abenteuer für uns, wenigstens in diesem Augenblick, bedeutend wichtiger ist als für Sie. So, da wären wir!«, schnitt er weitere Fragen des jungen Mädchens ab.

Der Wagen bog in eine schmale Auffahrt ein, fuhr durch eine lange Allee hoher Bäume und hielt dann vor dem Portal eines großen Hauses, das sich im gleichen Augenblick öffnete.

Rennett war ihr beim Aussteigen behilflich und führte sie in eine große, getäfelte Diele.

»Bitte hier entlang. Darf ich vorausgehen?«

Er öffnete eine Tür, und sie fand sich in einem großen, wundervoll ausgestatteten Salon, den zwei prachtvolle silberne Kronleuchter erhellten.

Zu ihrer Erleichterung kam ihr eine ältere Dame entgegen.

»Meine Frau, Miss Beale«, sagte Rennett. »Muss ich hinzufügen, dass Sie sich in meinem Haus befinden?«

»Ihr habt also die junge Dame wirklich gefunden«, sagte Mrs. Rennett freundlich lächelnd. »Und was sagt nun Miss Beale zu eurem Vorschlag?«

In diesem Augenblick kam der junge Glover herein. Er hatte seinen Mantel abgelegt und erwies sich als typisches Beispiel der sportlichen englischen Jugend. Aber er sah gut aus, wie Lydia mit weiblicher Inkonsequenz bemerkte, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der Vertrauen einflößte. Er nickte lächelnd zu Mrs. Rennett hinüber und wandte sich dann an Lydia.

»Ich weiß nicht, Miss Beale, ob ich Ihnen die nötigen Aufklärungen zu geben habe oder ob mein Kollege es vorzieht, mir diese Unannehmlichkeit zu ersparen.«

»Ich nicht - auf keinen Fall«, rief der ältere Mann hastig. »Ich halte es für das beste«, wandte er sich seiner Frau zu, »wir lassen Jack Glover mit der jungen Dame allein; er kann dann in Ruhe mit ihr sprechen.«

»Ja, aber habt ihr denn Miss Beale noch gar nichts gesagt?«, fragte Mrs. Rennett überrascht, und Lydia musste unwillkürlich lachen, obwohl sie nicht dazu aufgelegt war.

Die möglichen Unannehmlichkeiten im Büro, diese abenteuerliche Entführung und jetzt noch dies neue Geheimnis, das alles zusammen genügte, um auch die ruhigsten Nerven aufzuwühlen.

Glover wartete, bis sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. Er stand eine Zeitlang vor dem Feuer, biss sich unruhig auf die Lippen und blickte überlegend auf den Teppich.

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich beginnen soll, Miss Beale«, sagte er. »Und jetzt, da ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe, rührt sich mein Gewissen doppelt und dreifach. Das Beste ist, ich fange von vorne an. Sie haben doch von dem Bulford-Mord gehört?«

Das junge Mädchen starrte ihn an. »Bulford-Mord?«, wiederholte sie ungläubig, und er nickte. »Ja, natürlich, den Fall kennt doch jeder.«

»Dann habe ich es, Gott sei Dank, nicht nötig, Ihnen die einzelnen Umstände auseinanderzusetzen«, sagte Jack Glover.

»Ich weiß nur«, unterbrach das junge Mädchen, »dass Mr. Bulford von einem Mr. Meredith erschossen wurde, der eifersüchtig auf Bulford war, und dass Mr. Meredith sich seiner Braut gegenüber abscheulich benommen hat.«

»Ganz richtig«, nickte Glover, in dessen Augen es belustigt aufflackerte. »Mit anderen Worten - Meredith wehrte sich energisch gegen die Behauptung, eifersüchtig gewesen zu sein, und schwor, dass er die Verlobung mit Miss Briggerland bereits aufgehoben und nicht die geringste Ahnung von den Beziehungen zwischen Bulford und Miss Briggerland gehabt habe.«

»Das sagte er ja nur, um sein Leben zu retten«, entgegnete Lydia ruhig. »Miss Briggerland hat doch beschworen, dass eine derartige Entlobung nie stattgefunden hat.«

Glover nickte.

»Was Sie aber nicht wissen, Miss Beale«, begann er mit tiefem Ernst, »ist folgendes: Jean Briggerland ist die Cousine Merediths und wird, falls sich nicht ganz bestimmte Dinge ereignen, ungefähr sechshunderttausend Pfund von Meredith erben. Ich muss Ihnen gleich sagen, dass Meredith einer meiner besten Freunde ist. Man hat ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, aber deshalb bleibt er doch mein Freund. So genau, wie ich weiß, dass Sie mir hier gegenübersitzen, so genau weiß ich im Übrigen, dass Meredith den armen Bulford nicht getötet hat. Meiner Meinung nach war alles eine abgekartete Geschichte, um den Tod oder die Gefängnisstrafe meines Freundes herbeizuführen - und Mr. Rennett denkt wie ich. Es ist Tatsache, dass Meredith mit dem Mädchen verlobt war, er erfuhr aber verschiedene Dinge über sie und ihren Vater, die nicht zu ihren Gunsten sprachen. So schön sie ist, wirklich geliebt hat er sie nie - er ist, ich kann das ruhig sagen, eingefangen worden. Als er sah, wie sich die Dinge zuspitzten, ging er an jenem Abend zu ihr, um die Verlobung aufzuheben.«

Lydia hatte einigermaßen verdutzt diese ausführliche Erzählung angehört.

»Ich sehe aber immer noch nicht ein, was das alles mit mir zu tun hat.«

»Kann ich mir denken«, nickte Glover, »ich werde Ihnen jetzt aber einen anderen Teil dieser Geschichte erzählen, einen Teil, der der großen Masse unbekannt geblieben ist. Merediths Vater war ein etwas exzentrischer alter Herr, der viel von dem Sprichwort Jung gefreit... und so weiter hielt. Sein Testament enthielt die Bestimmung, dass sein ganzes Vermögen an seine Schwester oder deren Erben gehen solle, falls Meredith nicht bis zu seinem dreißigsten Geburtstag verheiratet wäre. Seine Schwester war die schon seit längerer Zeit verstorbene Mrs. Briggerland. Ihre Erben sind ihr Mann und ihre Tochter - Miss Briggerland.«

Er schwieg, und das junge Mädchen blickte nachdenklich ins Kaminfeuer.

»Wie alt ist Mr. Meredith?«

»Morgen, Montag, wird er dreißig«, erwiderte Glover ruhig, »und er müsste sich bis dahin verheiraten.«

»Im Gefängnis?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wäre das möglich gewesen, so hätten wir schon die nötigen Schritte unternommen, aber der Justizminister hat eine dahingehende Anfrage unberücksichtigt gelassen und sich geweigert, die Erlaubnis zu einer derartigen Trauung zu geben. Ich muss seinen Gründen übrigens zum Teil beipflichten - vergessen Sie nicht: Meredith verschwindet für zwanzig Jahre hinter Gefängnismauern.«

»Ja - aber dann...«, begann Lydia.

»Lassen Sie mich Ihnen die Sachlage etwas verständlicher machen«, sagte Glover mit dem ihm eigenen kleinen Lächeln. »Glauben Sie mir, Miss Beale, unser Plan erscheint mir jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, längst nicht mehr so gut wie vorher. Gesetzt den Fall...«, er sprach kühl, beinahe geschäftsmäßig, »es wäre uns möglich, James Meredith morgen früh hierherzubringen... würden Sie ihn heiraten?«

»Ich?«, fuhr Lydia hoch. »Einen Mann heiraten, den ich nie gesehen habe, und noch dazu einen Mörder?«

»Meredith ist kein Mörder«, versetzte er ruhig.

»Aber das ist... das ist unmöglich«, rief sie. »Warum denn gerade ich?«

Er schwieg einen Augenblick.

»Als wir uns zu diesem Plan entschlossen hatten, suchten wir jemand, dem eine solche Heirat Vorteil bringen würde. Rennett kam auf den Gedanken, die Akten der Londoner Gerichtshöfe zu durchstöbern, um auf diese Weise ein junges Mädchen zu finden, das in großen Geldnöten wäre. Es gibt kein sichereres Mittel, finanzielle Schwierigkeiten aufzudecken, als die Terminregister und Akten der Gerichtshöfe zu studieren. Wir fanden vier junge Damen, aber nur eine kam für unseren Zweck in Frage - und diese eine waren Sie. Bitte, hören Sie mir noch einen Augenblick zu«, bat er, als sie widersprechen wollte. »Wir haben genaue Erkundigungen über Sie eingezogen, leider zu genaue, denn die Briggerlands rochen Lunte und sitzen uns schon seit einer Woche auf der Fährte. Wir wissen, dass Sie nicht verlobt sind, dass Sie die für Sie große Schuldenlast Ihres Vaters auf sich genommen haben und dass Sie weder Verwandte noch Freunde besitzen - von den Kollegen in Ihrem Büro abgesehen. Hier ist der Vorschlag, den wir Ihnen machen, und glauben Sie mir bitte, Miss Beale, ich komme mir recht erbärmlich vor, dass gerade ich es sein muss, der Ihnen dieses Angebot macht: Sie erhalten bis an Ihr Lebensende eine jährliche Rente von fünftausend Pfund, außerdem sofort die Summe von zwanzigtausend Pfund und die feste Zusicherung, dass Sie vom Augenblick der Heirat an niemals - ich sage noch einmal: niemals - von Ihrem Gatten belästigt werden.«

Lydia hörte dies alles wie in einem Traum - es war zu unwahrscheinlich. Gleich würde sie aufwachen und Mrs. Morgan mit einer Tasse Tee und einem Teller ihrer unverdaulichen Kuchen neben ihrem Bett stehen sehen. So etwas gibt es doch gar nicht, sagte sie sich, und doch - da stand ein junger Mann, mit dem Rücken zum Feuer, der ihr im alltäglichen Ton einen Vorschlag machte, der in das Reich der Romantik - und einer recht unwahrscheinlichen dazu - gehörte.

»In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander«, sagte sie schließlich. »Das muss doch erst überlegt werden, und wenn Mr. Meredith im Gefängnis ist...«

»Mr. Meredith ist nicht mehr im Gefängnis«, unterbrach sie Glover. »Vor zwei Tagen wurde er in ein Krankenhaus eingeliefert, um sich dort einer leichten Operation zu unterziehen und - er ist jetzt hier im Haus.«

Sie konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren, und Jack fuhr fort: »Die Briggerlands wissen, dass er entflohen ist; sie nahmen wahrscheinlich an, dass er hier sei, denn wir hatten die Polizei heute Nachmittag hier, die das ganze Grundstück sorgfältig durchsuchte. Scotland Yard weiß natürlich, dass Rennen und ich die juristischen Berater Merediths waren, aber wir waren auf den Besuch der hohen Obrigkeit vorbereitet. Wie es möglich war, dass er nicht entdeckt wurde, gehört ja nicht hierher. Und nun, Miss Beale, wie ist Ihre Antwort? Entscheiden Sie sich bitte möglichst rasch!«

 

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, versetzte Lydia hilflos. »Ich muss träumen, und wenn ich genug Mut hätte, um mich tüchtig zu kneifen, würde ich aufwachen. Und doch möchte ich gar nicht aufwachen. Die ganze Sache ist so verlockend phantastisch, so unmöglich.«

Er lächelte.

»Kann ich Mr. Meredith sehen?«

»Nicht vor morgen früh. Ich möchte noch hinzufügen, dass alle Vorbereitungen für eine Trauung getroffen sind. Die Erlaubnis zu einer Eiltrauung ist in unseren Händen, und morgen früh acht Uhr - nebenbei bemerkt, sind Trauungen vor acht und nach drei Uhr in England nicht gültig - wird ein Pastor hier sein, um die Zeremonie vorzunehmen.«

Ein langes Schweigen folgte. Lydia hatte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. Glover blickte ernst und mitleidig auf sie hinunter und verwünschte sich selbst, dass er es sein musste, der diesem jungen Mädchen einen so unerhörten Plan vorzuschlagen hatte. Endlich sah sie auf.

»Ich nehme an«, sagte sie leise, »aber - in der Zahl der Urteile gegen mich haben Sie sich geirrt. In den letzten zwei Jahren waren es dreiundsiebzig - und ich möchte keinen Anwalt mehr hören und sehen.«

»Ich danke Ihnen«, war Jack Glovers höfliche Antwort.

Viertes Kapitel

Die ganze Nacht hindurch saß Lydia in dem kleinen Schlafzimmer, das ihr Mrs. Rennett zur Verfügung gestellt hatte, und dachte - grübelte - überlegte. Vergeblich hatte sie versucht zu schlafen und war dann im Zimmer auf und ab gelaufen, vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster. Ihre Gedanken hatten sich noch nie ernsthaft mit einer Heirat befasst, und eine solche wie die ihr vorgeschlagene würde keine besonderen Schrecken für sie gehabt haben, wenn das Vorspiel dazu weniger aufregend gewesen wäre. Die Aussicht, nur dem Namen nach Frau zu sein, der Gedanke, dass ihr Gatte die nächsten zwanzig Jahre im Kerker verleben würde, beunruhigte sie jedoch nicht. Warum - wusste sie nicht, aber sie glaubte Jack Glover, dass Meredith unschuldig sei.

Sie fragte sich, was Mrs. Morgan wohl sagen werde und welche Erklärung sie im Büro geben könne. Die Arbeit dort war ihr nicht sehr ans Herz gewachsen, sie würde sie mit Vergnügen aufgeben und sich ernsthaft dem Kunststudium widmen. Fünftausend Pfund im Jahr! Sie könnte in Italien leben, bei den berühmtesten Malern studieren, ein eigenes Auto haben - die Möglichkeiten waren ja beinahe unbeschränkt. Aber was waren die Nachteile?

Sie zuckte die Achseln, als sie sich diese Frage zum hundertsten Male vorlegte. Ja, welche Nachteile könnte es da geben? Eine andere Heirat war allerdings ausgeschlossen, aber sie wollte ja gar nicht heiraten. Sie gehörte nicht zu denen, die sich leicht verlieben, war viel zu unabhängig und nüchtern dazu, kannte die Männer und ihre Schwächen nur zu gut.

»Der liebe Gott hat mich zur alten Jungfer bestimmt«, sagte sie halblaut.

Um sieben Uhr morgens - welch ein trüber und trauriger Morgen, dachte Lydia, als sie zum Fenster hinausblickte - brachte ihr Mrs. Rennett eine Tasse Tee.

»Ich glaube, Sie haben überhaupt nicht geschlafen, arme Kleine«, sagte die alte Dame mit einem Blick auf das unberührte Bett. »Ich kann Ihnen das nachfühlen.«

Sie legte ihre Hand auf den Arm des jungen Mädchens und drückte ihn mitleidig.

»Es ist nicht leicht für Sie und für uns auch nicht.« Sie lächelte ein wenig. »Ich befürchte, wir alle werden die größten Unannehmlichkeiten haben.«

Den gleichen Gedanken hatte auch Lydia, als ihr die düstere Schilderung Glovers einfiel.

»Wird es nicht sehr ernsthafte Folgen für Sie haben, wenn die Polizei herausbekommt, dass Sie bei einer Flucht mitgeholfen haben?«

»Flucht, mein liebes Kind?« Mrs. Rennetts Gesicht war eine Maske. »Ich habe nichts von einer Flucht gehört. Wir wissen nur, dass der arme Mr. Meredith in Erwartung der Erlaubnis des Justizministers alle nötigen Vorbereitungen für eine Trauung in unserem Haus getroffen hat. Wie Mr. Meredith hierhergekommen ist, entzieht sich vollkommen unserer Kenntnis«, sagte die diplomatische alte Dame, und Lydia musste unwillkürlich lachen.

Langsam beendete sie ihre Toilette, und Punkt acht klopfte Mrs. Rennett zum zweiten Mal an die Tür.

»Man wartet auf Sie«, sagte sie leise mit zitternden Lippen; ihr Gesicht war sehr bleich.

Aber Lydia war jetzt die Ruhe selbst; ihr Entschluss war gefasst.

Im Salon warteten vier Herren; zwei waren ihr bekannt: Glover und Rennett. Den dritten erkannte Lydia an seiner geistlichen Kleidung. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den vierten, einen hochgewachsenen Mann, unrasiert, mit kurzgeschnittenem Haar, Gesicht und Körper so abgemagert, dass sein Anzug an ihm zu hängen schien. Ihre erste Empfindung war Widerwillen, Abscheu, aber dann kam ein tiefes Mitleid über sie - James Meredith schien schwer krank zu sein. Er wandte sich ihr zu, als sie hereinkam, blickte sie forschend an und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Miss Beale? Es tut mir leid, unter derartig peinlichen Verhältnissen Ihre Bekanntschaft zu machen. Glover hat Ihnen die Sachlage auseinandergesetzt?«

Sie nickte.

Seine tiefliegenden Augen hielten sie wie in einem magnetischen Bann.

»Die Einzelheiten und Bedingungen sind Ihnen klar? Glover hat Ihnen mitgeteilt, warum diese Heirat stattfinden muss? Glauben Sie mir bitte«, fügte er leiser hinzu, »ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie auf meine Wünsche eingegangen sind.«

Ohne ein weiteres Wort an sie wandte er sich dem Geistlichen zu.

»Wir können beginnen«, sagte er einfach.

Die Zeremonie erschien dem jungen Mädchen so unwahrscheinlich, dass ihr deren Bedeutung nicht einmal zum Bewusstsein kam, als sich ein Ring - er war viel zu groß, denn Glover hatte ihn nach Gutdünken gewählt - über ihren Finger schob. Sie kniete nieder, um den feierlichen Segen zu empfangen. Dann stand sie mühsam auf und blickte ihren Gatten mit starren Augen an.

»Ich glaube... ich werde ohnmächtig?«

Jack Glover fing sie gerade noch auf und trug sie zum Sofa. Als sie wieder zu sich kam, hatte sie die verworrene Idee, dass jemand versucht habe, sie zu hypnotisieren; sie öffnete die Augen und blickte in das ernste Gesicht Merediths, der sich über sie beugte.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte er ängstlich. »Ich befürchte, die letzten vierundzwanzig Stunden waren zu aufregend für Sie, und geschlafen haben Sie ja auch nicht, wie Mrs. Rennett uns erzählte. - Auf jeden Fall werden Sie heute Nacht sicherlich besser schlafen als ich«, fügte er lächelnd hinzu. Dann wandte er sich an Rennett, der unruhig seinen Bart strich und ihn ernsthaft und ängstlich beobachtete. »Mr. Rennett, in Gegenwart der hier anwesenden Zeugen muss ich Ihnen mitteilen, dass ich aus dem Krankenhaus entflohen bin, in dem ich durch die Milde des Justizministers Aufnahme gefunden hatte. Als ich Ihnen mitteilte, dass ich gleichfalls die Erlaubnis erhalten hätte, heute Morgen hierherzukommen, um mich in Ihrem Hause trauen zu lassen, sprach ich die Unwahrheit.«

»Ich bedaure, das hören zu müssen«, erwiderte Rennett höflich. »Es ist selbstverständlich meine Pflicht, Mr. Meredith, Sie der Polizei zu übergeben.«

Das gehörte alles zum Spiel. Lydia beobachtete mit gespanntem Interesse den Vorgang; sie wusste, jedes Wort, jede Handlung war sorgfältig überlegt, um Rennett und Glover die Anklage der Beihilfe zu ersparen.

Rennett hatte kaum zu Ende gesprochen, als laut und ungestüm an die Haustür geklopft wurde. Jack Glover eilte in die Halle, um zu öffnen. Es war nicht die Polizei, die er erwartet hatte. Eine junge Dame, bis zu den Augen in einen Pelzmantel gehüllt, stand vor ihm. Sie stieß Jack beiseite, flog durch die Halle und betrat den Salon.

Lydia stand zitternd neben Mrs. Rennett, als die unerwartete Besucherin hereinkam und langsam die Knöpfe ihres Pelzes öffnete. Überrascht fuhr Lydia zusammen. Es war das schöne junge Mädchen, das sie am letzten Abend im Theater gesehen hatte.

»Was verschafft uns das Vergnügen?«, fragte Glovers Stimme spöttisch.

»Ich verlange meinen Verlobten - Meredith«, sagte sie kurz.

Glover lachte leise.

»Verlangt haben Sie ihn schon seit recht langer Zeit, Miss Briggerland - das kann ich begreifen. Sie kommen leider etwas zu spät.«

Ihre Augen blickten auf den Geistlichen.

»Zu spät?«, sagte sie langsam. »Er ist also schon verheiratet?«

Sie biss sich auf die Lippen und nickte, dann blickte sie Lydia an. Ihre blauen Augen waren ausdruckslos.

Meredith war verschwunden. Verzweifelt blickte Lydia um sich. War er der Polizei entgangen, um sich selbst zu stellen? Plötzlich fiel ein Schuss. Der Knall musste aus dem Garten kommen.

Glover rannte hastig durch die große Halle zur Tür. Es schneite, kein Mensch war zu sehen. Er lief den Weg hinunter, der parallel mit dem Haus lief, dann um die Ecke ging und in vielen Windungen durch das dichte Gehölz zu einem kleinen Schuppen führte. Plötzlich blieb Jack entsetzt stehen. Dicht vor ihm lag ein Mann mit ausgestreckten Armen in einer Blutlache, seine Hand umklammerte eine Pistole.

Mit einem unterdrückten Aufschrei beugte sich Jack über den Liegenden.

Es war James Meredith - tot!

Fünftes Kapitel

Jack Glover hörte Schritte und sah einen Mann auf sich zukommen, der den Detektiv deutlich erkennen ließ. Er wandte sich ab und sah schweigend auf den Leichnam zu seinen Füßen, als der Mann neben ihn trat.

»Wer ist das?«, fragte der Beamte scharf.

»James Meredith«, antwortete Jack einfach.

»Tot?«, rief der andere. »Hat er Selbstmord begangen?«

Jack antwortete nicht und beobachtete den Inspektor, der eine kurze und schnelle Untersuchung der Leiche vornahm. Die Kugel war durch die linke Schläfe eingedrungen, die Pulverspuren waren deutlich auf dem stillen Gesicht zu sehen.

»Sehr unangenehme Sache, Mr. Glover«, begann der Beamte ernst. »Können Sie eine Erklärung für die Anwesenheit des Mannes hier geben?«

»Er kam hierher, um sich zu verheiraten. Das überrascht Sie, wie es scheint, aber es verhält sich tatsächlich so. Er ist vor noch nicht zehn Minuten getraut worden. Wenn Sie mit mir ins Haus kommen wollen, werde ich Ihnen alles Nähere erklären können.«

Der Detektiv zögerte, aber in diesem Augenblick erschien einer seiner Kollegen am Schauplatz, und Jack führte ihn durch einen Nebeneingang in Mr. Rennetts Arbeitszimmer.

Der Anwalt schien sie dort erwartet zu haben; er war allein.

»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie Inspektor Colhead von Scotland Yard«, sagte Glover.

»Ganz richtig«, nickte der Beamte. »Aber, unter uns gesagt, Mr. Glover, würde ich an Ihrer Stelle keine Aussagen machen, die Sie nicht später öffentlich wiederholen können.«

Mit einem leisen Lächeln erkannte Jack die Bedeutung dieser Warnung und begann, die Vorgänge zu beschreiben.

»Ich kann Ihnen nur sagen«, war seine Antwort auf eine weiterte Frage, »dass Mr. Meredith heute Morgen um drei Viertel acht das Haus betreten und sich Mr. Rennett zur Verfügung gestellt hat. Um acht Uhr, wie Sie selbst wissen, teilte Mr. Rennett Scotland Yard telefonisch mit, dass sich Mr. Meredith in seinem Hause befinde. In der Zwischenzeit ließ er sich trauen.«

»War denn gerade ein Pfarrer da?«, fragte ihn der Beamte sarkastisch.

»Ja, ein Pfarrer war gerade da«, erwiderte Jack ruhig, »weil ich es veranlasst hatte. Ich wusste, Mr. Meredith würde hierherkommen, falls dies im Bereich der Möglichkeit läge, und kannte seinen Wunsch zu heiraten. Die Gründe wird Ihnen mein Kompagnon auseinandersetzen.«

»Haben Sie ihm bei der Flucht geholfen? - Eine derartige Frage sollte ich eigentlich nicht stellen«, sagte der Detektiv lächelnd.

Jack schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihnen in völliger Aufrichtigkeit die Antwort geben, dass ich damit ebenso wenig zu tun hatte wie der Justizminister, als er Meredith die Erlaubnis gab, ein Krankenhaus aufzusuchen.«

 

Bald darauf ging der Beamte zum Schuppen im Garten zurück, und die beiden Herren waren allein.

»Nun«, sagte Rennett mit schwankender Stimme. »Was ist eigentlich passiert?«

»Er ist tot!«

»Selbstmord?«

Jack sah ihn bedeutungsvoll an.

»Hat damals Bulford Selbstmord begangen?«

»Und wo steckt der - Engel?«

»Mit Mrs. Rennett und Miss Beale im Salon.«

»Mrs. Meredith«, verbesserte Jack ruhig.

»Das bedeutet natürlich noch mehr Schwierigkeiten«, sagte Rennett, »aber ich glaube, wir werden uns so einigermaßen herauswickeln können, wenn auch die Geschichte recht schwarz aussieht.«

Sie fanden die drei Damen im Salon. Lydia, sehr blass, kam ihnen entgegen.

»Was ist vorgefallen?« Sie glaubte die Antwort in seinem Gesicht zu lesen. »Er ist doch nicht tot?«, fragte sie stockend.

Jack nickte, aber seine Augen lagen die ganze Zeit auf dem anderen jungen Mädchen. Die Winkel ihrer wundervollen Lippen hatten sich schmerzvoll gesenkt, und in ihren Augen lag ein Ausdruck von tiefem Kummer, der ihm den Atem raubte.

»Hat er sich erschossen?«, fragte sie leise.

Jack sah sie kühl an.

»Das einzige, was ich genau weiß, Miss Briggerland«, Lydia fuhr bei dem grausamen Ton seiner Stimme zusammen, »ist, dass - Sie ihn nicht erschossen haben.«

»Wie können Sie es wagen?«, fuhr Jean Briggerland auf. Die leichte Röte auf ihren Wagen war das einzige Zeichen ihrer Erregung.

»Wagen? - Ich kann noch mehr wagen«, erwiderte Jack kurz. »Sie fragten mich, ob es sich um Selbstmord handelt, und ich antworte Ihnen, dass dies nicht der Fall ist - es ist Mord! James Meredith wurde tot aufgefunden, seine rechte Hand umklammerte eine Pistole. Die Kugel drang in die linke Schläfe ein, und wenn Sie mir erklären können, wie irgendein Mann, der eine Schusswaffe in normaler Weise hält, dies fertigbringen kann, will ich Ihrer Selbstmordtheorie beipflichten.«

Ein langes, tödliches Schweigen.

»Und außerdem«, fuhr Jack mit einem leichten Achselzucken fort, »hatte der arme Meredith keine Pistole.«

Jean Briggerland stand mit gesenkten Augen und zusammengepressten Lippen da. Dann blickte sie auf.

»Ich kann Ihre Gefühle begreifen, Mr. Glover«, sagte sie sanft. »Kann sehr gut verstehen, dass Sie mich hassen müssen, wenn Sie so schreckliche Dinge von mir glauben.«

Ihre Lippen zitterten, ihre Stimme klang heiser vor tiefem Kummer. »Ich habe James Meredith geliebt«, sagte sie leise, »und er liebte mich.«

»Er liebte Sie so sehr, dass er eine andere heiratete.« Jacks Stimme klang eisig. Lydia war empört.

»Mr. Glover«, begann sie vorwurfsvoll, »halten Sie es für angebracht, derartige Dinge zu sagen, wenn der arme Mr. Meredith dort draußen liegt - tot?«

Langsam drehte sich Jack ihr zu, und in seinen Augen lag eine Härte, die sie für unmöglich gehalten hätte.

»Miss Briggerland hat Ihnen soeben mitgeteilt, dass ich sie hasse«, sagte er bedächtig, »sie hat die reine Wahrheit gesprochen: Ich hasse sie derartig - Sie können das gar nicht verstehen, Mrs. Meredith.« Er legte besonderen Nachdruck auf die letzten beiden Worte, und Lydia zuckte zusammen. »Und eines Tages, falls die... hm... Umstände mich verschonen...«

»...Umstände... verschonen«, warf Jean Briggerland ein. »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Glover - was wollen Sie damit sagen?«

Glover lachte, aber es war kein angenehmes Lachen.

»Vielleicht doch«, versetzte er kurz. »Und was den armen Jim betrifft, der Sie - so sehr liebte... nun, das werden Sie ja selbst am besten wissen. Ich bemühe mich, Ihnen gegenüber möglichst höflich zu sein und nicht zu sehr meine Befriedigung sehen zu lassen, dass Sie zu spät kamen, um diese Heirat zu verhindern! Soll ich Ihnen sagen, warum Sie zu spät kamen?« Seine Augen blitzten auf. »Weil ich mit dem Geistlichen von St. Peter heute Morgen neun Uhr vereinbart hatte. Ich wusste genau, Sie und Ihre kleine Armee von Spionen würden dies herausfinden und Sorge tragen, vor diesem Zeitpunkt hier zu sein. Aber ich, Miss Briggerland, wandte mich an einen guten Freund in Oxford, und heute Morgen, Punkt acht Uhr, war er an Ort und Stelle; er war nämlich schon gestern Abend hier eingetroffen.«

Sie sah ihn schweigend an, ohne etwas von der Entrüstung merken zu lassen, die nach Lydias Meinung sehr berechtigt gewesen wäre.

»Ich hatte nicht den Wunsch, diese Heirat zu verhindern«, sagte das junge Mädchen leise. »Wenn Jim es vorzog, sich in dieser Weise mit jemand zu verheiraten, der ihn nicht kannte, so kann ich nichts anderes tun, als seine Wahl anerkennen. Es tut mir so sehr leid, Mrs. Meredith, dass diese Tragödie in Ihr Leben kommen musste. Darf ich Ihnen ein größeres Glück wünschen als das, das Sie bisher fanden?«

Gerührt von der unverkennbaren Aufrichtigkeit und zu gleicher Zeit durch Glovers Rauheit etwas verletzt, ergriff Lydia die warme, kleine Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Sie war froh, einen mitfühlenden Menschen gefunden zu haben.

»Auch mir tut es leid«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Vielleicht mehr, als Sie ahnen.«

Jean Briggerland senkte die Augen, und wieder zuckten ihre Lippen. Dann wandte sie sich ab, zog den Mantel um sich und verließ ohne ein weiteres Wort den Salon.

Es war schon Mittag, als Rennetts Wagen Mrs. Lydia Meredith vor der Tür ihrer Wohnung absetzte.

Mrs. Morgan hatte die Sorge um ihre junge Mieterin beinahe von Sinnen gebracht, und sie vergoss Freudentränen, als sie Lydia vor sich sah.

»Oh, Miss, Sie können sich ja nicht denken, was ich mir für

Sorgen gemacht habe«, stieß sie hervor, »und vom Büro hat man geschickt, wo Sie stecken. Ich dachte schon, Sie wären überfahren worden, und das Daily Megaphone hat in allen Krankenhäusern angefragt und...«

»Ich glaube, ich bin wirklich überfahren worden«, sagte Lydia erschöpft. »Mein armer Verstand hat unter den Rädern von wenigstens einem Dutzend Bussen gelegen, und meine Seele musste hundert Zusammenstöße durchmachen.«

Mrs. Morgan starrte sie verständnislos an. Der Sinn für Vergleiche ging ihr ab.

»Es ist alles in Ordnung, Mrs. Morgan«, rief Lydia über ihre Schulter zurück, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging. »Ich meinte das nur so - ich habe ein paar recht aufregende Stunden hinter mir und - was ich noch sagen wollte, ich heiße Meredith.«

Mrs. Morgan fiel auf einen Stuhl in der kleinen Halle.

»Meredith?«, sagte sie ungläubig. »Aber ich kannte Ihren Vater und...«

»Ich habe mich verheiratet, das ist alles«, sagte Lydia bitter. »Sie haben mir erst gestern erzählt, dass ich eine sehr romantische Heirat haben würde, aber in Ihren wildesten Träumen würden Sie sich niemals die tolle, verzweifelte Heirat vorstellen können, die ich heute eingegangen bin. Ich lege mich jetzt hin.« Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah auf die behäbige Frau, die sprachlos zu ihr hinaufstarrte. »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin nicht zu Hause. Aber halt - dem »Megaphone« können Sie mitteilen, dass ich sehr spät nach Hause gekommen und zu Bett gegangen bin. Ich würde morgen ins Büro kommen und alles erklären.«

»Aber Miss«, stammelte die Frau, »Ihr Mann...«

»Mein Mann ist tot«, versetzte das junge Mädchen ruhig. Sie fühlte, ihre Worte klangen herzlos, aber sie konnte beim besten Willen nicht Kummer zeigen, wenn sie keinen fühlte. »Und wenn der Mensch von dem Rechtsanwalt wiederkommt, sagen Sie ihm bitte, dass ich morgen früh zwanzigtausend Pfund in meinen Händen habe.« Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich und ließ die arme Mrs. Morgan sprachlos auf ihrem Stuhl in der Diele sitzen.

Sechstes Kapitel

Die polizeiliche Durchsuchung des Hauses und Gartens von Dulwich Grange, Mr. Rennetts Besitzung, nahm den ganzen Vormittag in Anspruch. Weder Mr. Rennetts noch Jacks Unterstützung wurde verlangt oder angeboten.