Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung

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Edgar Dahl

Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung

Ein Plädoyer für den ärztlich-assistierten Suizid

Impressum

© NIBE Media © Edgar Dahl

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Manfred Rehbinder in Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

„Stirb zur rechten Zeit!“

Eine kurze Geschichte des Freitods

„Gott segne Amerika“

Die Praxis des ärztlich-assistierten Suizids in Oregon

“Nimm dein Kreuz auf dich!“

Die moraltheologischen Einwände

„Auch werde ich niemandem ein Gift geben!“

Die medizinethischen Einwände

„Wehret den Anfängen!“

Die sozialethischen Einwände

„Im Zweifel für die Freiheit!“

Ein Vorschlag zur Regelung des ärztlich-assistierten Suizids

Literatur

Nichts ist demütigender,

als von anderen vorgeschrieben zu bekommen,

wie man zu sterben habe.

Ronald Dworkin

Vorwort

Patrick C. Robertson ist bereit, seinem Schöpfer gegenüber zu treten. Der 67-jährige Schriftsteller und Katholik aus Portland in Oregon nimmt seine Krebserkrankung mit nahezu stoischer Gelassenheit. Wenn sich der Lungenkrebs ausbreiten und seine Leber befallen sollte, wird er das Fläschchen Nembutal öffnen, das er sorgfältig in seinem Schreibtisch verwahrt hält, und seinem Leben ein Ende setzen. Der Tag, an dem er dies tun wird, steht noch nicht fest. Doch er weiß, es wird ein Tag sein, bevor ihm Atemnot, Erbrechen und Schmerzen das Leben zur Hölle machen werden. An diesem Tag, so sagt er, werde er seine engsten Freunde um sich versammeln, seine kostbarsten Bücher verschenken und schließlich von all seinen Weggefährten einzeln Abschied nehmen. Es soll keine Trauerfeier werden, sondern eine „Feier auf das Leben“. „Ich will Satchmos ‚What a Wonderful World’ hören, wenn ich diese Welt verlasse.” Wenn er das Barbiturat zu sich nimmt, erwartet er binnen weniger Minuten friedlich einzuschlafen. “Ich habe mein Leben mit Anstand gelebt und will es auch so beenden.“

Dass er die Zeit, den Ort und die Umstände seines Todes so genau planen kann, verdankt Robertson dem Umstand, in Oregon zu leben, einem relativ kleinen Bundesstaat im Nordwesten der USA, der am 4. November 1997 den so genannten „Death With Dignity Act“ erlassen hat. Dieses Gesetz erlaubt es unheilbar erkrankten Patienten, sich von ihrem Arzt eine tödliche Dosis eines Medikamentes verschreiben zu lassen, mit dem sie sich für den Fall, dass ihr Leiden unerträglich werden sollte, selbst das Leben nehmen können.

Seit der Legalisierung des ärztlich-assistierten Suizids in Oregon sind nunmehr zwanzig Jahre verstrichen – zwanzig Jahre, in denen sich zeigte, dass eine Praxis der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung ohne jede Form von Missbrauch funktionieren kann. Von dem neuen Gesetz profitieren nicht nur die relativ wenigen Patienten, die tatsächlich von ihm Gebrauch machen, sondern buchstäblich alle unheilbar erkrankten Menschen in Oregon. Denn sie alle wissen, dass es „für den Fall der Fälle“ jederzeit ärztliche Hilfe gibt.

Warum, so frage ich in diesem Buch, können wir uns nicht an Oregon ein Beispiel nehmen und den ärztlich-assistierten Suizid auch in Deutschland erlauben? Ich weiß, dass ich mit dieser Frage nicht allein dastehe. Buchstäblich Millionen von Menschen stellen sich hierzulande dieselbe Frage. Denn repräsentative Bevölkerungsumfragen zeigen immer wieder, dass sich mehr als 75 Prozent der Menschen in Deutschland eine Zulassung der Sterbehilfe wünschen. Auch wenn letztlich nur sehr wenige von ihnen den ärztlich-assistierten Suizid wirklich in Anspruch nehmen würden, wollen sie doch in dem Wissen leben, dass es – wenn es hart auf hart kommt – einen Ausweg gibt. Ludwig A. Minelli, der Gründer der Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“, hat die Einsicht, dass es sich leichter lebt, wenn man leichter sterben kann, denn auch mit unübertroffener Klarheit auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Sterbehilfe ist immer auch Lebenshilfe!“

Das Argument, auf dem dieses Buch beruht, ist ganz einfach und lässt sich in lediglich drei Sätzen zusammenfassen: In einem freiheitlichen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland hat jeder Bürger das von der Verfassung verbriefte Recht, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben, solange er nicht die Rechte anderer verletzt. Da das Sterben nun einmal ein Teil des Lebens ist, darf daher selbstverständlich auch jeder über die Art, den Ort und den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen. Denn wenn ein an einer unheilbaren Erkrankung leidender Mensch freiwillig seinem Leben ein Ende setzt, verletzt er niemandes Rechte.

Für den Fall, dass Sie meine Unart teilen, aus Büchern oft nur einige Kapitel zu lesen, sollte ich noch kurz etwas zum Aufbau dieser kleinen Streitschrift sagen. Das Kapitel „Stirb zur rechten Zeit!“ zeichnet die mitunter geradezu an Barbarei grenzende Sittengeschichte der Selbsttötung nach. Da diese Ausführungen eher von historischem als von argumentativem Wert sind, kann man sie getrost überschlagen.

Das Kapitel „Gott segne Amerika!“ gibt eine Übersicht zur Praxis des ärztlich-assistierten Suizids in Oregon. Da die zuständigen Behörden die dortige Praxis geradezu minutiös dokumentiert haben, können wir uns heute ein zuverlässiges Bild davon machen, wie viele Menschen aus welchen Gründen um eine Beihilfe zur Selbsttötung ersuchen. Allein die Beschreibung der Oregoner Praxis dürfte bereits die meisten Einwände, die gegenüber dem ärztlich-assistierten Suizid erhoben werden, im Keim ersticken. In diesem Fall ist es buchstäblich so, dass bereits die Fakten für sich sprechen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der größte Widerstand gegen den ärztlich-assistierten Suizid nach wie vor von den Theologen kommt. Das Kapitel „Nimm dein Kreuz auf dich!“ wird zeigen, dass die religiösen Einwände gegen die Selbsttötung, die nun schon seit Jahrhunderten vorgebracht werden, nicht überzeugend sind. Selbst Christen haben daher keinen Grund, sich den Dogmen der Kirche zu unterwerfen. Im Namen all derer, die sich dem christlichen Weltbild gar nicht verpflichtet fühlen, soll zudem noch einmal herausgestellt werden, dass die Kirchen in einem säkularen Staat nicht das geringste Recht haben, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben und zu sterben haben.

Das Kapitel „Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben!“ setzt sich mit den medizinethischen Einwänden der Bundesärztekammer auseinander. Zehn der siebzehn deutschen Landesärztekammern drohen den Medizinern, die eine Beihilfe zur Selbsttötung leisten, mit strengen Sanktionen, die von einer Geldstrafe bis hin zum Entzug der Approbation reichen. Ihre Behauptung, dass eine Beihilfe zur Selbsttötung „unärztlich“ sei, beruht dabei auf tönernen Füßen. Wie ich zeigen werde, ist es an der Zeit, dass sich die Funktionäre der Ärztekammern endlich zu den Aufgaben der Medizin bekennen – zu denen neben der Verlängerung des Lebens nun einmal auch die Linderung des Leidens gehört! – und sich nicht länger hinter dem „Eid des Hippokrates“ verstecken sollten.

Das Kapitel „Wehret den Anfängen!“ beschäftigt sich mit der Befürchtung, dass eine Zulassung des ärztlich-assistierten Suizids katastrophale Folgen für unsere Gesellschaft haben werde. Die am häufigsten beschworene Gefahr besteht darin, dass aus dem Recht zu sterben unweigerlich eine Pflicht zu sterben werde. Wie sich insbesondere mit den Erfahrungen aus Oregon belegen lässt, entbehren diese Befürchtungen jeder Grundlage. Statt den Schutz des Lebens zu gefährden, wird eine Zulassung des ärztlich-assistierten Suizids den Schutz des Lebens sogar verstärken.

Im abschließenden Kapitel „Im Zweifel für die Freiheit!“ schlage ich eine am Oregoner „Death With Dignity Act“ angelehnte Regelung des ärztlich-assistierten Suizids für Deutschland vor.

 

Edgar Dahl Gießen, im Frühjahr 2018

Wenn der eine Tod unter Qualen,

der andere aber einfach und leicht sich vollzieht,

warum sollte diesem

nicht die Hand nachhelfen dürfen?

Seneca

„Stirb zur rechten Zeit!“

Eine kurze Geschichte des Freitods

In seinem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ schrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche: „Warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttötung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttötung zu sterben pflegten.“

Wie weithin bekannt, haben die Griechen und Römer den Suizid tatsächlich mit ganz anderen Augen betrachtet. Heute ist es kaum noch vorstellbar, doch im antiken Athen konnte ein Mann, der auf Grund unerträglicher Leiden seinem Leben ein Ende setzen wollte, geradewegs zum „Rat der 600“ gehen und sich dort den berühmten „Schierlingsbecher“ aushändigen lassen. Der Staat hielt jederzeit einen genügend großen Vorrat an Gift bereit, mit dessen Hilfe sich seine Bürger einem als unerträglich oder auch nur als unwürdig empfundenen Leben entziehen konnten.

In der Antike waren es vor allem zwei philosophische Schulen, die sich für ein Recht auf den selbstbestimmten Tod einsetzten: der Epikureismus und der Stoizismus. Zu den Epikureern zählten neben seinem Namensgeber Epikur vor allem Horaz und Lukrez. Zu den Stoikern zählten dagegen Zenon, Seneca und Marc Aurel.

Beide Schulen sind nicht nur zur selben Zeit und am selben Ort entstanden, nämlich im Athen des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, sondern hatten auch ein und dasselbe Ziel: Sie wollten den Menschen die „Eudaimonia“, das irdische Lebensglück, lehren. Ohne die Menschen auf ein zweifelhaftes Jenseits zu vertrösten, versuchten sie, ihnen ein Rezept dafür zu geben, wie man auch im Diesseits ein sinnvolles und erfülltes Leben führen kann. Das Rezept der Epikureer lautete „Ataraxia“, das der Stoiker „Logos“.

Mit der Ataraxia ist die Seelenruhe gemeint. Nach den Epikureern sollen die Menschen ein möglichst bescheidenes und zurückgezogenes Leben führen, indem sie sich dem Lärm der Welt entziehen, ihre Gelüste nach Ehre, Ruhm und Reichtum bezähmen und sich mit einfachen Genüssen wie intellektuell anregenden Gesprächen mit guten Freunden begnügen. Wenn jedoch, wie es insbesondere durch körperliches Leid und seelische Pein geschehen kann, die Seelenruhe unwiderruflich gestört wird und die Ataraxia für immer unerreichbar bleibt, darf der Mensch durchaus Hand an sich legen. Neben dem „Carpe diem“ oder „Genieße den Tag“ des Horaz gehört daher das Diktum „Es gibt keinen Zwang zu leben!“ wohl zu den berühmtesten Sentenzen der Epikureer.

Mit dem Logos ist die Vernunft gemeint. Nach den Stoikern sollen die Menschen ein von Vernunft, Freiheit und Würde geprägtes Leben führen. Ein solches Leben setzt etwas Ähnliches wie die Ataraxia, nämlich die Apatheia, voraus, die man am besten mit der sprichwörtlich gewordenen „stoischen Ruhe“ oder der „stoischen Gelassenheit“ übersetzen kann.

Anders als die Epikureer, die der Selbstgenügsamkeit das Wort redeten und der Devise „Lebe im Verborgenen!“ folgten, setzten die Stoiker ihre Kraft oft in den Dienst des Staates. Mark Aurel, der in den Jahren von 161 bis 180 Kaiser des Römischen Reiches war und sich selbst als den „ersten Diener des Staates“ bezeichnete, beteuerte wieder und wieder: „Die Menschen sind füreinander da.“

Doch wie die Epikureer, so waren auch die Stoiker der Ansicht, dass sich das Leben nur lohnt, solange man in der Lage ist, seiner Bestimmung zu folgen. Wenn ein Mensch unter so großen körperlichen Schmerzen oder so starken seelischen Qualen leidet, dass er kein vernunftgemäßes Leben mehr zu führen vermag, durfte er seine Existenz jederzeit beenden. So schrieb etwa Seneca:

„Wenn der Körper den Dienst versagt, was sollte dann den Leidenden davon abhalten, der Seele ihre Freiheit zu geben? Unter Umständen müsste man sich noch eher dazu entschließen als es sein muss, um nicht, wenn es sein muss, unfähig dazu zu sein. Ich werde auf das Greisenalter nicht verzichten, wenn es mich mir ganz bewahrt. Aber wenn es Miene macht, an meinem Geiste zu rütteln, wenn es mir nicht das Leben, sondern nur das leibliche Dasein übriglässt, dann werde ich den Sprung nicht scheuen, um herauszukommen aus dieser morschen und zusammensinkenden Behausung.“

Wie im alten deutschen Sprichwort „Wer sich ertränken will, findet überall Wasser“, weist auch Seneca auf die Vielzahl der Wege hin, um einem nur noch zur Last gewordenen Dasein jederzeit entfliehen zu können: „Der Ausgang aus dem Leben ist dir leichter gemacht als der Eingang. Sieh dich nur um, überall kannst du dein Elend endigen. Siehst du jene steile Stelle? Dort hinab geht’s in die Freiheit! Siehst du jenes Meer, jenen Fluss, jenen Brunnen? Auf ihrem Grund wohnt die Freiheit! Dein Hals, deine Kehle, dein Herz: lauter Wege, der Sklaverei zu entrinnen. Sind dir diese Auswege zu qualvoll, fordern sie zu viel Mut und Kraft, fragst du nach dem leichtesten Weg zur Freiheit: Jede Ader deines Körpers ist ein solcher Weg!“

Ein oft übersehener, aber doch sehr bedeutsamer Unterschied zwischen dem Epikureismus und dem Stoizismus war der, dass es bei ersterem nur ein „Recht zu sterben“, bei letzterem aber geradezu eine „Pflicht zu sterben“ gab. Dadurch dass die Stoiker neben der Vernunft auch der Freiheit und der Würde einen so außerordentlich hohen Wert beimaßen, sahen sie eine Vielzahl von Umständen, die es den Menschen regelrecht gebieten konnten, aus dem Leben zu scheiden. Schon ein Leben in Armut oder ein Leben in Unfreiheit waren nach Ansicht des Stoizismus nicht mehr lebenswert.

Die Geschichte der Antike ist denn auch voll von Beispielen, in denen Menschen in stoischer Manier ihr Leben ein Ende setzten. Lief eine griechische Polis in kriegerischen Auseinandersetzungen Gefahr, von einem übermächtigen Gegner erobert zu werden, stürzten sich die Männer und Frauen lieber in den Tod als ihrer Freiheit und Würde verlustig zu gehen und ein Leben in Schimpf und Schande zu leben. Denn nach dem Stoizismus war selbst „der schmutzigste Tod der saubersten Knechtschaft vorzuziehen.“

Zum stoischen Ethos gehörte aber nicht nur die Pflicht zu sterben, sondern auch die Pflicht, auf die würdevollste Art zu sterben. Vor einem Freitod durch Gift hatte man beispielsweise weit weniger Respekt als vor einem Freitod durch den Venenschnitt. Für den Tod durch Erhängen hatte man nur Verachtung übrig. Wirkliche Bewunderung fand dagegen der Tod durch freiwilliges Verhungern.

Anders als Nietzsche in seiner zu Beginn dieses Kapitels zitierten Bemerkung suggeriert, herrschte in der Antike aber nie wirkliche Einigkeit über die Ethik der Selbsttötung. Denn neben dem Epikureismus und dem Stoizismus gab es zeitgleich noch den Platonismus und den Aristotelismus, die den Menschen das Recht auf einen selbstbestimmten Tod in geradezu rigoroser Weise absprachen. Wie nicht weiter verwunderlich, fanden die Argumente von Platon und Aristoteles in dem unter Kaiser Konstantin erstarkten Christentum große Resonanz.

Kaum zur Macht gekommen, berief die katholische Kirche ein Konzil nach dem anderen ein, um den nun als „Selbstmörder“ gebrandmarkten Suizidenten in Acht und Bann zu tun. Das Konzil von Arles erklärte im Jahre 452, dass Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen, vom Teufel besessen seien. Auf dem Konzil von Braga im Jahre 563 wurde beschlossen, dass Selbstmördern das kirchliche Begräbnis zu verweigern sei. In Toledo wurden 693 die Fürbittgebete für Selbstmörder im Gottesdienst verboten. Und Menschen, die sich eines Selbstmordversuchs schuldig gemacht hatten, wurden fortan für zwei Monate aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und das Sakrament der Kommunion verwehrt.

Nach und nach übernahmen auch die weltlichen Gesetzgeber die kanonischen Strafen der katholischen Kirche. So wurden im Mittelalter Selbstmörder sogar nachträglich „hingerichtet“. In vielen Ortschaften Europas wurde der Leichnam an einem Baum aufgehängt oder vor die Tore der Stadt geschleift, um ihn den Hunden und Vögeln zum Fraß zu überlassen. In München wurde der Körper eines Selbstmörders in einem Fass in die Isar geworfen. In Paris zerrte man den Leichnam mit dem Gesicht nach unten über das Kopfsteinpflaster und hängte ihn am Richtplatz an den Füßen auf. Am weitesten verbreitet war jedoch das Begraben an einer Weggabelung, wobei man dem Leichnam einen Holzpfahl in die Brust schlug, um sicher zu stellen, dass der Tote die Lebenden nicht als Geist heimsucht.

In seiner „Constitutio Criminalis Carolina“ oder „Peinlichen Halsgerichtsordnung“ von 1532 verfügte Kaiser Karl V. in Paragraph 135 die Konfiskation aller Güter eines Selbstmörders. Nur für den Fall, dass der „Täter“ nachweislich unzurechnungsfähig gewesen war, konnte der Besitz in die Hände der rechtmäßigen Erben fallen.

Mit der Renaissance erlebte auch die Philosophie der Antike eine Wiedergeburt. Obgleich man nicht davon sprechen kann, dass auch die Lehren des Epikureismus und des Stoizismus sogleich eine Wiederauferstehung erlangten, machte sich nun doch zumindest wieder ein gewisses Verständnis für die Menschen breit, die unter dem „taedium vitae“, also dem Lebensüberdruss, litten. So schrieb etwa der Humanist Erasmus von Rotterdam in seinem 1509 geschriebenem „Lob der Torheit“:

„Schmerzvoll und schmutzig ist der Sterblichen Geburt, nur mit vieler Mühe werden sie großgezogen, Unbilden haben sie in der Kindheit zu überstehen, die Jugend bringt ihnen große Mühen, das Alter ist eine stete Quelle von Beschwerden – und eine Härte ist der Tod. Und während des ganzen Lebens, welche Fülle von Krankheiten, welche Unzahl von Zufälligkeiten und Unannehmlichkeiten! Keine Freude, die nicht durch Kummer und Sorge geprägt wäre! Wer aber waren vornehmlich diejenigen, die sich aus Lebensüberdruss selbst den Tod gaben? Waren es nicht die Freunde der Weisheit?“

Der Humanist Thomus Morus ging sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter, als er in seinem 1516 erschienenen Buch „Utopia“ das Bild einer gerechten und auf den Leitsätzen der Vernunft beruhenden Republik beschrieb, die sich auch der Sterbenden annahm: „Indessen wenn die Krankheit nicht nur unheilbar ist, sondern auch noch den Kranken beständig quält und martert, dann reden die Priester ihm zu, er möge bedenken, dass er allen Berufspflichten seines Lebens nicht mehr gewachsen, anderen zur Last fallen und sich selber schwer erträglich sei und somit seinen eigenen Tod bereits überlebe; deshalb möge er nicht darauf bestehen, die Seuche und Ansteckung noch weiter zu nähren und nicht zaudern, in den Tod zu gehen, da ihm das Leben doch nur eine Qual sei; somit möge er getrost und guter Hoffnung sich selbst aus diesem schmerzensreichen Leben wie aus einem Kerker oder einer Folter befreien oder willig gestatten, dass andere ihn der Qual entrissen. Daran werde er weise handeln, da er durch den Tod ja nicht die Freuden, sondern nur die Marter des Lebens abkürze; zugleich aber werde es eine rechtschaffene und fromme Tat sein, da er damit nur dem Rat der Priester gehorche, die Gottes Willen auslegen. Wen sie mit diesen Gründen überzeugen, der endet sein Leben freiwillig durch Fasten oder findet in der Betäubung ohne eine Todesempfindung seine Erlösung. Gegen seinen Willen aber schaffen sie niemanden beiseite, vernachlässigen auch um der Weigerung willen in keiner Weise die Pflege des Kranken.“

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