Schauerliteratur - 1. Band

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So lange noch der Schall von Horváths Schritten auf Gang und Treppe zu hören war, verharrte Ferencz in zerschmetterter Haltung, die ihm in seiner Gegenwart so gute Dienste geleistet hatte; dann aber schnellte er aus der gebückten Stellung empor; das kaum noch tiefgesenkte Auge funkelte, sich wieder erhebend, von Selbstbewusstsein, das farblos blasse Antlitz glühte vor Freude und ein hässliches Lächeln hämischen Spottes zuckte um die noch schreckensbleichen Lippen. – »Nichts, gar nichts wissen sie,« rief er, raschen, schwunghaften Schrittes die Stube auf und nieder messend, »nur dumme Selbstquälerei war es, die mich heute Nacht halt verrückt machte! Aber nun ist alles gut, selbst dass er mir den Abschied gegeben! Zur Entscheidung musste es doch einmal kommen und diesmal bin ich meiner Sache gewiss; die Czenczi habe ich fest!« Aus diesen und andern Gedanken weckten ihn die Hufschläge des Pferdes, das Horváth nach Vásárhely trug; die Zeit seiner Entfernung musste benutzt werden, jetzt oder nie rasch und entschieden gehandelt werden. Hastig seinen Anzug vollendend überlegte er, welche Wege er einzuschlagen hätte, erwog die Hindernisse, die ihm entgegentreten könnten, die Mittel, die ihm zu Gebote stünden, sie zu beseitigen, und eben da er endlich seinen Entschluss gefasst hatte, sah er Czenczis schlanke Gestalt den Hofraum entlang dem Garten zu schweben, wohin er ihr augenblicklich folgte.

Die Züge des jungen Mannes, die noch von Siegesfrohlocken und hämischer Zuversicht strahlten, als er die Stufen zur Gartentür emporstieg, hatten den Ausdruck tiefen Schmerzes und mühsam errungener Fassung angenommen, als er dem jungen Mädchen sich nahte, das ihm mit der rührendsten Hingebung entgegeneilte und ihm mit zärtlicher Besorgnis nach dem Zustande der bösen Augen fragte, die ihr gestern so viel Kummer gemacht hätten. Seine Antwort war kurz, ernst, gemessen; mit gepresster Stimme, aus deren Klang das Ohr der Liebe unterdrückte Tränen heraushörte, berichtete er ihr das harte Urteil, das ihr Vater ihm gesprochen, und schloss mit zärtlichen Abschiedsworten und heißen Segenswünschen für die Zukunft der Geliebten, wenn auch die seine für immer vernichtet und ein früher Tod fortan das einzige Ziel sei, dem er noch hoffend entgegenschaue! Die Wirkung, die diese Worte auf Czenczis tatkräftige und feurige Seele machen mussten, war eine wohlberechnete gewesen. Einen Moment von Schreck und Schmerz überwältigt, raffte sie sich bald empor, schloss ihn in die Arme und fragte ihn, ob er an ihr zweifle, ob sie ihm nicht Treue, unverbrüchliche Treue verheißen, ob er sie für wortbrüchig halten könne, und durch das schmerzliche Lächeln, mit dem Ferencz diese Frage erwiderte, nur noch mehr bewegt und erregt, überhäufte sie ihn mit Liebkosungen und Vorwürfen und schwor ihm zu, sich noch heute ihrem Vater zu Füßen zu werfen und vor aller Welt zu gestehen, dass sie ihn liebe, dass sie ihm, nur ihm angehöre und dass nicht Drohung, Gewalt noch jahrelange Trennung ihr Herz jemals dem seinen entfremden könnte! Diesem Überströmen der Leidenschaft setzte Ferencz das düstere Schweigen hoffnungslosen Schmerzes, die dumpfe Ruhe der Verzweiflung entgegen. Was ihre Bitten fruchten würden? Fragte er sie endlich; ob sie meine, der stolze Horváth werde im Handumdrehen sich entschließen, dem von der Straße aufgelesenen Schreiber die reiche Erbtochter in die Arme zu werfen? Ob sie die besten Tage des Lebens, den Frühling ihrer Jugend vertrauern wolle, um ihn nach jahrelanger Trennung endlich über dem Grabe ihres Vaters die Hand zu reichen? Nein, hier gelte es, jede Selbsttäuschung sich fern zu halten; nur ein Mittel gäbe es, die berechtigte Forderung ihrer Herzen, roher Willkür gegenüber, durchzusetzen und den Vater zum Glücke seines Kindes zu zwingen, und dieses eine Mittel – er zögerte es auszusprechen; endlich sprach er es doch aus – dies eine Mittel sei – Flucht aus dem Vaterhause!

Czenczi, schon in der Wiege der Mutter beraubt, hatte sich während der häufigen und langwierigen Reisen des Vaters und bei dem geringen Ansehen, das die alte Margit dem feurigen, lebhaften Sinne des jungen Mädchens gegenüber zu behaupten vermochte, frühzeitig mit großer Entschiedenheit des Willens und seltener Selbstständigkeit des Geistes entwickelt. Zwang und Willkür waren ihr verhasst, aber so heilig berechtigt sie sich fühlte, ihr Glück auf eigenem Wege zu suchen und zu finden, ebenso innig überzeugt war sie auch, dass dies nicht auf Kosten anderer, am wenigsten auf die ihres raschen und heftigen, aber sie so zärtlich liebenden Vaters geschehen dürfe. Es war ein harter Kampf, den Ferencz zu kämpfen hatte, bis das Pflichtgefühl des Kindes dem Drange der Leidenschaft erlag; endlich aber siegte er doch. Die Flucht wurde beschlossen und als der geeignetste Zeitpunkt sie anzutreten, die erste Nacht festgesetzt, die auf Horváths Abreise nach Ofen folgen würde, weil sie dann hoffen durften, wenigstens die ersten Tage unverfolgt zu bleiben. Schwieriger war die Lösung der weiteren Frage, wo Ferencz bis zu jenem Zeitpunkt sich aufhalten solle. Sich in der Nähe zu verbergen, erschien bei dem einmal erweckten Misstrauen Horváths gefährlich; die Wahl eines entfernten Verstecks aber stellte einesteils bei der Schwierigkeit, sich gegenseitig in Kenntnis etwa eintretender hindernder Wechselfälle zu erhalten, das Gelingen des Fluchtplans in Frage; andernteils hatte Czenczi sich mit solchem Widerstreben herbeigelassen, mit ihrer Vergangenheit so gewaltsam zu brechen, und zeigte sich von ihrem Unrecht so durchdrungen, dass Ferencz nur den fortdauernden Einfluß seiner Anwesenheit und die auf Czenczis Seele gewälzte Verantwortlichkeit für die Sicherheit seiner Person als ein hinlängliches Gegengewicht erkannte, um die Zweifelnde, ängstlich hin und her Schwankende, bei dem kaum gefaßten Entschlusse festzuhalten.

Bei dieser Lage der Dinge musste gewagt werden, um zu gewinnen, und so erklärte denn Ferencz, dass er sich von Czenczi nicht trennen könne, dass er bleiben und im Hause sich verborgen halten müsse, wenn ihr Vorhaben gelingen solle. Czenczi ließ sich von der Richtigkeit dieser Ansicht überzeugen und ein sicheres Versteck wurde nach kurzem Überlegen ausgefunden. Ein Stübchen, das Horváth im untersten Geschosse seiner weitläufigen Keller hatte herstellen lassen, um dort während der Weinlese in aller Bequemlichkeit die Einlieferungen der Erträgnisse seiner Weingärten überwachen und nach derselben mit dem Abnehmen seiner Weine, die Weinproben gleich vom Faß weg durchkostend, über die Preise der verschiedenen Sorten sich behaglich besprechen zu können, erschien zu diesem Zwecke um so geeigneter, als es in dieser Jahreszeit nie benutzt und erst nach der Heimkehr Horváths vom Ofener Markte für seine Bestimmung wieder instand gesetzt zu werden pflegte. Nachdem die Liebenden sich über die Wahl dieses Verstecks geeinigt und sich noch in wenigen hastigen Worten über die Art und Weise, in der Ferencz es beziehen sollte, verständigt hatten, trennten sie sich, um ihr Vorhaben noch vor Horváths Heimkehr ins Werk zu setzen.

Ferencz eilte in seine Kammer zurück, packte schleunig seine Habseligkeiten zusammen, schloss sein Felleisen und begab sich gegen Mittag in das Gemach der Frau Margit, um ihr das Vorgefallene mitzuteilen und von ihr Abschied zu nehmen. Die gute Alte geriet über die Nachricht von der Verabschiedung ihres Günstlings völlig außer Fassung. Ferencz aber bat sie mit der Gebärde des tiefsten Schmerzes, den Hausgenossen seine letzten Grüße darzubringen, denn ihm selbst gebräche es dazu an Mut; dann erbat er sich ihren Segen und nachdem er ihn empfangen und ihr empfohlen hatte, sein Felleisen in Obhut zu nehmen, bis er es abholen lassen würde, entwand er sich den Armen der schluchzenden und vor Schreck und Kummer halb gelähmten Alten, um, wie er sagte, einsam in die weite, weite Welt hinauszuwandern. Ehe Frau Margit sich recht besinnen und dem Fortstürzenden das Geleit geben konnte, war er die Treppe hinabgeeilt, hatte sich, an der Küche vorüberschlüpfend, überzeugt, dass das Hausgesinde sich daselbst wie gewöhnlich um diese Stunde zum Mittagmahl versammelt habe, und war zum Tore hinausgesprungen.

Er schlug den Weg nach der Stadt ein; um die Ecke des Hauses gekommen, bog er abermals links ab, lief an der Gartenmauer hin, bis er an das angelehnte Hinterpförtchen gelangte und durch dasselbe sich wieder ins Haus stehlend, an der Hinterwand der Stallungen sich fortschleichend, den Holzhof erreichte. Dort erwartete ihn Czenczi mit einem mit Esswaren gefüllten Korbe an der Kellertür und geleitete ihn die Treppe hinab in das Kellerstübchen, das in einer Ecke des untersten Kellergeschosses aus starken, mit Backsteinen verkleideten Bohlenwänden erbaut war und in das die Fürsorge der Liebe schon früher Betten, Kerzen und was sonst zur Bequemlichkeit des freiwillig Gefangenen dienen konnte, hinuntergeschafft hatte. Hier verließ sie ihn mit dem Versprechen, nachts, wenn alles zur Ruhe wäre, Nachricht zu bringen, wie es im Hause stehe: Ferencz aber, nun des Gelingens seines Anschlages gewiss und voll der sichern Hoffnung, dem Hause, in dessen einsamsten Winkel er nun sich verbergen musste, dereinst als Herr und Eigentümer zu gebieten, erquickte sich an den im Korbe befindlichen Lebensmitteln und streckte sich dann auf das ihm zubereitete Lager, um die entbehrte Nachtruhe nachzuholen.

Horváth kehrte erst spät nachmittags von Vásárhely zurück; die Niedergeschlagenheit Czenczis und ihre verweinten Augen schien er nicht zu bemerken; die alte Margit, die in unkluger Geschwätzigkeit die Entfernung ihres Lieblings zur Sprache zu bringen versuchte, fertigte er kurz und barsch ab und ging dann, Geschäfte vorwendend, nach der Stadt, wahrscheinlich um Nachforschungen anzustellen, ob Ferencz sich nicht irgendwo in der Nähe verborgen halte. Die Ergebnisse seiner Wanderungen schienen ihn befriedigt zu haben, denn wieder heimgekehrt, zeigte er sich milder und gesprächiger als früher; des Schreibers gedachte er mit keiner Silbe, dagegen erklärte er beim Nachtmahl, dass die Weinlese dieses Jahr so ergiebige Ausbeute verspreche, dass er, um das nötige Geschirr, die Fechsung aufzunehmen, verlegen sei und genötigt sein würde, selbst alte, schon halb ausgediente Fässer wieder in Gebrauch zu nehmen, und da er, um nach Möglichkeit wieder auszubessern, auf morgen den Küfermeister mit seinen Gesellen bestellt habe, so könne er erst übermorgen die Reise nach Ofen antreten. Diese Nachricht war für Ferencz allerdings eine bittere Zutat zu den Leckerbissen, die Czenczi in tiefer Nacht ihm zitternd in das Kellerstübchen hinunterschmuggelte, denn er sah dadurch nicht nur seine Gefangenschaft verlängert, sondern auch ihre Bequemlichkeit wie seine Sicherheit wesentlich beeinträchtigt. Zwar befanden sich die Fässer, die wiederhergestellt werden sollten, im Obern Kellergeschosse, aber wie leicht konnte es Horváth oder einem der Küfer beifallen, auch in das untere hinabzusteigen? Er musste nicht nur, da ihm sonst das ganze untere Kellergewölbe zu Gebote stand, sich fortan streng auf den engen Raum des Stübchens beschränken, sondern auch, wenigstens während der Arbeitszeit der Küfer, auf alle Beleuchtung verzichten, damit ihn nicht etwa der Lichtschimmer, der durch eine Ritze der Tür dringen konnte, verrate; ja es schien sogar nötig, die Tür des Stübchens, damit kein Unberufener, absichtlich oder zufällig, sie öffne, zu verschließen, was nur von außen geschehen konnte, da an der Inneren Seite derselben Schloss oder Riegel anzubringen bei der Bestimmung des Stübchens niemals auch nur in Frage gekommen war. Wie lästig und unangenehm alles dies auch sein mochte, es musste gleichwohl von Ferencz als ein Unvermeidliches ruhig ertragen werden, wenn nicht die Unruhe und Beklommenheit Czenczis, die mit jedem Augenblicke zuzunehmen schien, sich zur vollkommenen Fassungslosigkeit steigern sollte. Dieser Gefahr zu begegnen, bemühte er sich auf alle Weise, die Bedeutung ihrer Mitteilung zu verringern, durch Liebkosungen ihre Besorgnis zu übertäuben und als sie endlich halbgetröstet Abschied nahm, hieß er sie scherzend ihr Vöglein in seinem Käfig wohl verschließen, aber auch ja auf den Schlüssel wohl achtzuhaben, dass er nicht etwa durch ihren Verlust in seiner freiwilligen Haft zu einem höchst unfreiwilligen Fasten gezwungen werde.

 

Tags darauf erschienen am frühen Morgen wirklich der Küfer und seine Gesellen im Obern Kellergeschoß und weckten alsbald, den schadhaften Fässern neue Bänder und Reifen antreibend, mit dem Gepoche ihrer Schlägel den Widerhall seiner Gewölbe. Horváth ging ab und zu, überwachte den Fortgang der Arbeit, unterließ aber nicht, von Zeit zu Zeit in der Gegend herumzustreifen, um zu erkunden, ob Ferencz sich denn auch wirklich ganz und gar entfernt habe. Dem Kellerstübchen aber nahte den ganzen Tag hindurch weder er noch einer der Küfer, die, von allen Seiten in Anspruch genommen, nur auf Förderung ihrer Arbeit bedacht waren. Dagegen musste Ferencz, als Czenczi ihrem Gefangenen gegen Mitternacht wieder Speise und Trank zutrug, von ihr in Erfahrung bringen, dass der Vater, sei es der Küfer wegen oder weil das plötzliche, spurlose Verschwinden seines Schreibers ihn mehr beunruhigte als zufriedenstellte, seine Abreise wieder um einen Tag hinausgeschoben hätte. Ferencz nahm die Nachricht von dieser neuen Verzögerung bei weitem weniger gefasst und gleichmütig auf, als er sich am vorigen Tag der Notwendigkeit des engeren Verschlusses in seinen Käfig gefügt hatte.

Während Czenczi durch die wechselnden Gemütsbewegungen des vorigen Tages in solche Aufregung und in so fieberhafte Spannung geraten war, dass eben diese Steigerung ihres gesamten Seelenlebens ihr jetzt wieder, trotz aller Inneren Erschöpfung, den Anschein von Kraft, ja selbst von Ruhe gab, war bei Ferencz das Gegenteil eingetreten; seine Seelenstärke war infolge der einsam dunklen Haft erlahmt und haltlos in sich zusammengebrochen. Selbst die Aussicht, in naher Zukunft das Ziel langjährigen, unermüdeten Bestrebens zu erreichen und in Fülle des Reichtums die langentbehrten Mittel zur Fülle des Lebensgenusses zu besitzen, schien ihren Zauber für ihn verloren zu haben und unfähig geworden zu sein, die finstern Gestalten zurückzudrängen, die nachts in der lautlosen Stille des dunklen Kellerstübchens vor ihm emportauchen mochten. Er war es, der jetzt verwirrt, beängstigt und vor jedem Geräusch zusammenschreckend von Czenczi beruhigt und getröstet werden musste; Gefahren würde er mutig bestanden haben, den Schrecken der Einsamkeit vermochte er nicht die Stirn zu bieten; und als Czenczi Abschied nahm und wieder die Tür des Stübchens hinter sich verschließen musste, hielt er sie zurück und gehabte sich nicht anders, als sollte er für immer von Licht, Luft und Leben abgeschieden werden.

Endlich, am dritten Tage gegen Mittag, machte sich Horváth fertig, die längst beschlossene Reise nach Ofen anzutreten. Der Wagen war angespannt und Horváth, von Base Margit und seiner Tochter begleitet, trat aus dem Hause, vor dem sich das Gesinde, der Abfahrt ihres Herrn gewärtig, versammelt hatte. Horváth erteilte seine letzten Aufträge; den Knechten befahl er, das Haus vor Zigeunern, Bettlern und anderem Gesindel in acht zu nehmen und Tor und Türen wohl verschlossen zu halten; die Mägde hieß er Feuer und Licht behüten, und nachdem er Frau Margit die Aufsicht über das Gesinde und die während seiner Abwesenheit zu vollendenden Arbeiten, vorzüglich jene der Küfer, ans Herz gelegt hatte, wandte er sich zu seiner Tochter. Diese, in tiefster Seele von Vorwürfen und Reue zerrissen, und gefoltert von dem Bewusstsein, ihren alten, liebevollen Vater so grausam täuschen und für lange Zeit, vielleicht für immer, unkindlich verlassen zu wollen, warf sich krampfhaft schluchzend in seine Arme, und so groß war ihre Erschütterung, dass es nur wenig rührend eindringlicher Worte bedurft hätte, dem schwerbeladenen Gemüte des verirrten Kindes sein Geheimnis abzulocken und die Anschläge Ferencz' für immer zu vereiteln. Aber der Unstern Horváths hatte über ihn verhängt, dass er, wie früher durch törichten Leichtsinn, jetzt durch unzeitige Strenge begünstigen sollte, was er am liebsten vermieden hätte. Er zog das zitternde Mädchen auf die Seite und sagte ihr in rauem, barschem Tone, das Gewesene und Geschehene wolle er vergessen und vergeben, aber auch ferner eitle Ausflüchte nicht mehr gelten lassen; er habe Herrn Farkas, dem reichen Spezereihändler in Fünfkirchen, ihre Hand zugesagt und vor Allerheiligen müsse sie Hochzeit gemacht haben. Mit diesen Worten wälzte sich wieder der Grabstein des Trotzes über die Tiefen ihrer in kindlichem Vertrauen sich öffnenden Seele; sie weinte, aber sie schwieg, und als Horváth, von den besten Wünschen der Hausgenossen begleitet, dahingerollt war, schwankte sie stumm und blass in ihre Kammer zurück, um die wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer Flucht mitzunehmen gedachte, in ein Bündel zusammenzuraffen. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihren Vorsatz auszuführen; denn der Rückschlag der übermäßigen Aufregung, der verzehrenden Unruhe, in der sie die letzten Tage zugebracht hatte, machte allmählich in dumpfer Abspannung des Geistes, in gänzlicher Erschöpfung ihrer Kräfte immer fühlbarer seine Rechte auf sie geltend. Bleierne Schwere lagerte auf ihre Glieder; bald von Frost geschüttelt, bald in Fieberhitze glühend, vermochte sie nicht mehr die Wucht des heißen, von dumpfem Schmerz wie mit einem Eisenringe umfangenen Kopfes aufrechtzuhalten, und erschöpft und leidend wie sie war, streckte sie sich auf ihr Lager, um in erquickender Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Dort lag sie stumpf und still, die zuckenden Hände über die Brust gefaltet, und vor ihren halbgeschlossenen Augen zogen in langer, buntverworrener Reihe die Bilder ihres Lebens schattenhaft vorüber. Hier lächelten die Spiele der Kindheit sie an, dort saß sie, eine emsige Schülerin, an Ferencz' Seite; auch Antals Züge sah sie lauernd durchs Fenster hereingrinsen, wie damals, als Ferencz zum ersten Mal die Liebeglühende umschlang; dann vernahm sie Herrn Steidlers Stimme, die von der Marzipan-Lise erzählte, das Aufstöhnen Ferencz' und das Drohen und Schelten des Vaters, und dann – dann ward es trüb' und dunkel vor ihren Augen, schwarz wie die Nacht, in der sie dem Vaterhause den Rücken kehren sollte, und finster wie die Zukunft, der sie entgegenging.

Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet, von ihrem Lager auf, langte nach ihrem Bündel und mit der Blendlaterne versehen, die sie schon früher auf ihren nächtlichen Wanderungen begleitet hatte, verließ sie ihr Stübchen. Auf der Schwelle stand sie still und blickte zurück in den friedlichen, trauten Raum des Gemachs, in dem sie heiter und sorglos, unberührt von allen Stürmen des Lebens, vom Kinde zur Jungfrau aufgeblüht war, als ob sie jetzt erst, da sie es verlassen sollte, empfände, was sie verließ! Aber Ferencz wartete ihrer, sie durfte nicht säumen! Sie schritt leise über den Gang hin, den nur der blasse Schimmer des von dichten Wolken halbbedeckten Mondes erhellte. An die Tür gekommen, die in das Gemach des Vaters führte, stockten ihre Schritte. Es war ihr, als öffnete sie sich, als träte seine hohe mannhafte Gestalt daraus hervor, sie zu fragen, was sie suche, wohin sie gehe? Aber es war nur der Wipfel des Lindenbaumes draußen im Garten, der seinen zitternden Schatten auf die Türe hinwarf, und sie musste fort, denn Ferencz wartete. Sie war die Treppe hinabgeeilt und nun im Hofe angelangt, wehte ihr die frische Herbstluft erquickend und kräftigend entgegen. Sorgfältig den Schimmer der Laterne verbergend, schlüpfte sie, an den Wänden sich hindrückend, dem fernen Holzhof zu; endlich war der Keller erreicht und pochenden Herzens öffnete sie mit den mitgebrachten Schlüsseln die Tür. Im Begriff die ersten Stufen hinabzusteigen, war es ihr, als ob ihr von unten, wo die Treppe zum untersten Geschosse sich hinabdrehte, ein Lichtschimmer entgegendränge. Was war das? Von Ferencz, der im Kellerstübchen eingeschlossen war, konnte das nicht kommen. Sollte ein Fremder in den Keller sich eingeschlichen haben? Hier war Vorsicht nötig! – Ihre Knie zitterten, aber Mut und Entschlossenheit verließen sie keinen Augenblick. Sie verlöschte das Licht der Laterne, damit sein Schimmer sie nicht verrate, und drückte sich hinter einen Pfeiler, zu erwarten, was da kommen würde. Aber es kam nichts; alles blieb still und stumm wie zuvor. Nach einer Weile streckte sie lauschend den Kopf hinter dem Pfeiler hervor; der Lichtschimmer war verschwunden und nur schwarze Finsternis glotzte ihr entgegen. Sollte jene Lichterscheinung nur Selbsttäuschung gewesen sein oder war die veranlassende Ursache derselben im unteren Kellergeschoß zu suchen? – Mit einem Male erfasste sie eine niegefühlte Beklommenheit; ihre Pulse hämmerten, ihre Zähne klapperten aneinander; aber Ferencz harrte ihrer und wenn er etwa in Gefahr wäre – - diese Rücksicht überwog alle Bedenken und hastig stieg sie beiläufig die Hälfte der Treppe hinunter, als plötzlich dort, wo die Treppe zum untersten Geschoß hinabbog, sich wieder ein dämmernder Lichtschimmer zeigte, der eine weibliche Gestalt in dunklen Gewändern zu umfließen schien, die mitten auf der Treppe mit weit ausgebreiteten Armen ihr drohend und abwehrend entgegenwinkte. Rasche Flucht war bei diesem Anblick die erste Bewegung des zitternden, halb ohnmächtigen Mädchens, und schneller als sie hinabgestiegen, war sie die Stufen der Treppe wieder hinaufgeeilt. An der halb offenen Kellertür stand sie still; sie schämte sich ihrer Flucht und zweifelhaft, ob sie nicht wieder umkehren sollte, wendete sie sich atemlos, die Hand auf das krampfhaft zuckende Herz drückend, nach rückwärts und sah kaum, betroffen und erstaunt jenen Lichtschimmer abermals verschwunden, als er jetzt auch schon dicht vor ihren Füßen wieder aus dem Boden aufdämmerte und in seinem grauen Schimmer ein Weib vor ihr emportauchte, das, die welken, runzligen Züge grinsend verzerrt, mit stechenden, zornglühenden Augen sie anstarrte und, währen Czenczis Blicke wie magisch angezogen an der feuerfarbenen Schleife ihrer Flügelhaube und ihrem grellgelben Halstuche hafteten, aus dem schwarzen Halbmäntelchen dürre Hände mit gekrümmten, klauenähnlichen Fingern nach ihrem Halse streckte. – Da zuckte es wie ein Blitz durch Czenczis Seele! »Die Marzipan-Lise!« schrie sie gellend auf, sprang zum Keller hinaus, warf die Türe hinter sich zu, wankte taumelnd noch einige Schritte in den Hofraum hinein und brach dann dumpf ächzend bewusstlos zusammen.

Zwei Knechte des Hauses, die sich in der Schenke verspätet hatten und lange nach Mitternacht auf Schleichwegen ihr Lager suchten, fanden die erstarrt und wie leblos Hingestreckte, erkannten sie mit namenlosem Erstaunen und trugen sie nach dem Hause zurück, wo alsbald, von dem Lärmen und Jammern der Mägde geweckt, Frau Margit herbeieilte und den ganzen Schatz ihrer Heilmittel an der Bewusstlosen versuchte, ohne sie jedoch aus ihrer todesähnlichen Betäubung erwecken zu können. Selbst die Kunst des mittlerweile herbeigeholten Arztes zeigte sich lange erfolglos, und erst gegen Morgen gelang es der sorgfältigsten Bemühung, in der Ohnmächtigen ein halbes Bewusstsein zurückzurufen, aber nur, um es sogleich wieder in den wilden Phantasien eines wütenden Fieberanfalls untergehen zu sehn. Dem Irrereden und dem ersten entsetzlichen Ausbruche unheimlicher Tobsucht folgte dann bald gänzliche Erschöpfung und dumpfes gedankenloses Hinbrüten, aus dem die Kranke nur, wenn das Gehämmer und Gepoche der Küfer vom Keller her ihr Ohr erreichte, in grauenvollen Zuckungen und krampfhaft ängstlichem Stöhnen emporfuhr, so dass Frau Margit alsbald den Küfern ihre Arbeit gänzlich einzustellen und den Keller zu schließen befahl. Als nun aber der Arzt gegen Abend achselzuckend erklärte, es unterliege keinem Zweifel mehr, dass Czenczi von einem in der Umgebung herrschenden, höchst bedenklichen und mörderischen Nervenfieber ergriffen sei, wurde unverzüglich Herrn Horváth ein reitender Bote nachgesandt, um ihn schleunigst an das Krankenlager seines einzigen Kindes zurückzurufen.

 

Als Horváth am vierten Tage nach dem Ausbruche der Krankheit wieder in Weßprim eintraf, fand er die Kranke eher schlimmer als besser, noch immer besinnungslos in dumpfer Betäubung daliegend, aus der sie aber regelmäßig gegen Mitternacht in peinlicher Unruhe erwachte, nach den Kellerschlüsseln verlangte, Miene machte, das Bett zu verlassen, und nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte, bis sie dann, plötzlich mit einem lauten Angstschrei in sich zusammenbrechend, wieder in den früheren fieberhaften Halbschlummer zurücksank; dabei nahmen ihre Kräfte so sichtlich ab, und ihr Aussehen veränderte sich so auffallend, dass der Arzt nicht umhin konnte, den Zustand der Kranken als höchst bedenklich, ihre Rettung als sehr zweifelhaft zu bezeichnen.

So war die siebente Nacht seit dem Beginne der Krankheit herangekommen. Die Kranke hatte den Abend ruhiger als sonst zugebracht und lag in heftigem Schweiße. Hinter dem Wandschirme, der das Krankenbett umfing, kniete Herr Horváth, der die Erkrankung des geliebten Kindes in verzweifelndem Schmerze einzig und allein seiner lieblosen Härte zuschrieb, und betete brünstig um seine Erhaltung, während Frau Margit, erschöpft von den Anstrengungen sechs durchwachter Nächte, an Czenczis Bett eingenickt war. Es mochte Mitternacht sein, als die Kranke mit einem tiefen Seufzer die Augen aufschlug und erstaunt und wie allmählich sich besinnend umhersah. Als sie mühsam ihre Gedanken gesammelt hatte, versuchte sie sich aufzurichten, ein Versuch, der bei ihrer Kraftlosigkeit gänzlich misslang und keine andere Folge hatte, als dass Frau Margit, durch denselben geweckt, emporfuhr und sich besorgt über sie hinbeugte. Wie froh erstaunt war die gute Alte, als sie den sonst trüb' und gläsern vor sich hinstarrenden Blick des lieben Auges ruhig und klar dem ihrigen begegnen sah, als es ihr leise von Czenczis entfärbten Lippen entgegentönte: »Base, liebe Base Margit!« In einen lauten Freudenruf ausbrechend, umarmte sie die geliebte Kranke; diese aber winkte ihr, zu schweigen. »Ihr müsst mir einen Dienst erweisen, Base,« flüsterte sie in unruhiger Hast ihr zu, »einen wichtigen Dienst! Ihr müsst mir in den Keller hinabsteigen!« – »Ach lieber Gott, nun redet sie wieder irre!« seufzte Frau Margit. – »Nein, ich rede nicht irre!« versetzte Czenczi, »ich weiß, was ich sage, und ich sage Euch, Ihr müsst vollbringen, woran mich gestern mein plötzliches Erkranken verhinderte! Ferencz ist im Kellerstübchen eingeschlossen; Ihr müsst ihn befreien!« – »Gestern? Du Unglückselige!« stammelte Frau Margit, bestürzt die Hände ringend – In diesem Augenblick wurde der Wandschirm zurückgeschoben und Horváth stürzte nicht minder entsetzt als Frau Margit aus seinem Versteck hervor. »Du barmherziger Gott, Ferencz im Kellerstübchen!« rief er und damit riss er die Kellerschlüssel von der Wand, schrie nach Licht und eilte mit einigen Knechten, die er schleunig geweckt hatte, dem Keller zu.

Es war ein grässlicher Anblick, der sich ihnen darbot, als sie das Kellerstübchen betraten. Sein unglückliche Bewohner hatte an zwei Stellen die Wände desselben zu durchbrechen versucht und auch die innere Seite der Tür trug sichtliche Spuren der gewaltsamen Anstrengung an sich, mit der an der Öffnung derselben gearbeitet worden war. Erschöpfung schien den Verzweifelnden genötigt zu haben, seine fruchtlosen Bemühungen aufzugeben, denn man fand den Leichnam des unglückseligen Ferencz in seinem Blute schwimmend, auf dem Lager hingestreckt, das ihm von Czenczi zubereitet worden, und auf dem er, sei es, um seinen brennenden Durst mit seinem eigenen Blute zu stillen oder um den Folterqualen langsamen Verschmachtens in diesem Hungerturme durch raschen Tod zu entgehen, mit einem Taschenmesser sich die Adern geöffnet und in Verzweiflung und Entsetzen geendet hatte.

Czenczi war schon durch die überraschende Erscheinung des Vaters an ihrem Krankenlager und die unwillkürliche Einweihung desselben in ihr Geheimnis aufs tiefste erschüttert worden und hielt nur mit äußerster Anstrengung die Besinnung fest, zu der sie kaum wieder erwacht war. Als nun aber die unbedachte Geschwätzigkeit einer der Mägde ihr die Kunde von dem grässlichen Ende des Geliebten hinterbrachte, stieß sie einen Schrei aus, geriet in furchtbare Zuckungen und Krämpfe und bald steigerte sich die Wut des Fiebers, in das sie zurückfiel, zu solcher Höhe, dass der Arzt jede Hoffnung aufgab und stündlich ihr Ende erwartete. Allein die Vorsehung hatte anders beschlossen. Horváth, hatte nun Kummer und Schrecken seine Gesundheit untergraben oder vergiftete sie sein hartnäckiges Verweilen am Krankenlager Czenczis, der starke, rüstige Horváth war es, der, von der Krankheit dieser letztern ergriffen, in wenig Tagen ihr erlag, während das schwache Mädchen nach mondenlangem Siechtum siegreich aus dem Kampfe hervorging, in dem sie unfreiwillig um den Preis ihrer Jugend und ihrer Jugendblüte das nackte Leben gewonnen hatte. Sich selbst als Mörderin des Vaters wie des Geliebten anklagend, verlebte sie die Tage des Winters in stillem, dumpfem Trübsinn, dem sie nur zeitweise die Sorge um Base Margit entriss, die, von übermäßigen Anstrengungen und verzehrender Gemütsbewegung erschöpft, nun ihrerseits zu kränkeln und sichtlich hinzuwelken begann. Mit dem herannahenden Frühjahr aber erwachte in Czenczis Seele der Wunsch, den Angehörigen des geliebten Ferencz einen Teil des reichen Besitzes zuzuwenden, den sie einst mit ihm zu teilen geträumt hatte. In der Hoffnung, über den ihr unbekannten Aufenthaltsort derselben vielleicht einige Andeutungen in Ferencz' Papieren zu finden, beschloss sie das Felleisen zu öffnen, das der Hingeschiedene in Base Margits Verwahrung zurückgelassen hatte. Ihre Erwartung wurde auch nicht getäuscht; in dem Felleisen fanden sich wirklich einige Papiere, die zwar auf den Namen Anton Lenhart lauteten, aber nichtsdestoweniger sich ganz entschieden auf Ferencz zu beziehen schienen; eines derselben war nämlich ein Schreiben von weiblicher Hand, womit Anton Lenhart in Beziehung auf eine frühere mündliche Verabredung aufgefordert wurde, nicht zu säumen, sich auf den Weg zu machen und die Straße über Grätz und Marburg nach Kroatien einzuschlagen, denn auf dieser werde er nicht verfolgt werden. Dieser Ermahnung waren einige Worte des Abschiedes und die Erklärung beigefügt, nach dem Vorgefallenen könne eine weitere Verbindung zwischen der Schreiberin des Briefes und dessen Empfänger nicht mehr bestehen; sie bäte ihn daher um Zurückstellung ihres Porträts, wie sie ihm hier das seine zurückstelle. Das dem Brief beiliegende Porträt zeigte aber unverkennbar Ferencz' Züge, der also früher den Namen Anton Lenhart geführt und sich in Steiermark aufgehalten haben musste. Diese Umstände bewogen Czenczi, die aufgefundenen Papiere an Herrn Steidler, den Geschäftsfreund ihres Vaters, einzusenden und ihn um Auskunft über Anton Lenhart zu ersuchen, obwohl sie nur schaudernd des Mannes gedachte, der einst das furchtbare Bild der Marzipan-Lise ihrer Seele eingeprägt hatte.

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