Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition)

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Es war dies ein gutes Omen eines Nachmittags, an dem Zeit, Geist, Nervenkitzel, Tanz & Musik in einem vogelwahrsagerischen Zusammenspiel aus gutem Willen und Rauscherfahrung für den Zeitraum von ein oder zwei Stunden an einem warmen Frühlingstag für das Spontaneous Ballet of Avenue A in Goof City eins wurden.

D AS PSYCHEDELICATESSEN

Das Psychedelicatessen eröffnete in diesem Frühjahr auf der Avenue A nördlich der Zehnten Straße, neben der bretterverschlagenen alten Total Assault Cantina, einem Rebellencafé, das vor vier Jahren zugesperrt hatte, nicht lange, nachdem Präsident Kennedy erschossen worden war. Während dieser Jahre — wobei vier eher wie vierzig zu sein schienen — dämmerte die leere Total Assault Cantina ungenutzt von irgendeinem Mieter an der Avenue dahin, als wäre sie zu ehrwürdig, um berührt zu werden, und erwarb sich einen an Poe gemahnenden mystischen Ruf bei den Hippies, die sich, wenn sie daran vorbeigingen, an Geschichten ihrer ein wenig älteren Vorläufer aus der Beat-Generation erinnerten, Geschichten über die glorreichen Jahre der Jazz-Poetry, des Bebop und der Bongos, der Versammlungen für die Freedom Riders und den neuartigen Reiz der von Mandoline, Dulcimer oder Skiffle Band begleiteten Folk Tales.

Das urige vorpsychedelische Schild über der Tür verlor bereits seine Buchstaben: TOTAL A SAULT C NTINA, was das ganze nur noch besser machte im Sinne von Poe, wirklich. Hippies, die von Acid high waren, starrten durch die Ritzen in den mit Brettern vernagelten Fenstern, als könnten sie noch die Chianti-Flaschen der Beatniks mit roten Kerzen drin sehen und eine Gruppe von Baskenmützentypen, die nickten und einen Bürgerrechtskämpfer anfeuerten, der gerade »Howl« las, um sich auf Touren zu bringen, bevor es gegen den Klan in Mississippi ging.

1967 ging es unverhohlener zur Sache als 1961 und deshalb stellte das Psychedelicatessen seine Botschaft, dass Psychedelika eine epochemachende Erweiterung in der Geschichte der Gattung seien, in prahlerisch schreienden Primärfarben zur Schau. In den Schaukästen gab es Zubehör zum Marihuanarauchen, Haschischverstecke, Wasserpfeifen, Brillengläser, die das Licht brachen, Kaleidoskope, Pfauenfedern, Kleider, die mit Perlen aus bemalten Hanfsamenkörnern geschmückt waren, Runensteine, Tarotkarten, Massageöl, eine in verschiedenen Geschmacksrichtungen angebotene Substanz namens Orgienbutter, Salbeibüschel für den rituellen Gebrauch, aromatische Stirnbänder, welche nach Myrrhe dufteten, Voodoofiguren, Erdmuttersymbole, Rock ’n’ Roll-Poster, Körperfarben, Moiré-Scheiben für Stirn oder Nippel, kleine Glücksbringer für den Nabel, Merlin-Schuhe, stroboskopische Leuchten, Flaschenkürbisrasseln mit perlenverzierten Griffen für Peyotezeremonien, Kräutertees für den Morgen danach, magische Gefäße, in den Ganges getauchte Eisenholzstäbe zur Steigerung der poetischen Ausdruckskraft, Zebraschädel für die Anbetung, silberne Wasserpfeifen, Untergrundzeitungen und Bücher über Drogen, Aphrodisiaka, zeremonielles Gerät und Marihuana.

Als der Innenraum des Psychedelicatessen umgestaltet wurde, schwebte den Leuten eine indianische Höhlenwohnung vor. Es gab zwei ebenerdige Räume, von denen einer sich zur Straße hin öffnete, und einen Kellerraum sowie ein Obergeschoss, das über eine Leiter aus mit Hanfseil verknoteten Tipi-Sprossen erreicht werden konnte, die vom Vorderraum durch eine Öffnung in der Decke führte. In diesem Obergeschoss residierte die kommuneartige Gruppe, der das Psychedelicatessen gehörte.

Der zweite ebenerdige Raum des Psychedelicatessen stand beinahe zur Gänze für den Verkauf und das Abbrennen von Kerzen zur Verfügung. Es waren tatsächlich immerzu ungefähr fünfzig Kerzen am Brennen, große, kleine, parfümierte, solche, deren Dochte Funken sprühten oder Rauch in roten oder blauen Farbtönen abgaben, was dem ungelüfteten Raum eine mystische Verrauchtheit weihevoller Psychodüsternis und meditativen Eingestimmtseins gab. Dieser Raum mit den brennenden Kerzen bot auch eine Ausstellung zur spirituellen Kraft der Steine an. Es waren (verkäufliche) Poster an der Wand, vom Plymouth Rock, dem Stone of Scone und vom Omphalos der Gaia in Delphi. Es gab alte Hockey-Schachteln, die mit weißen Kieseln angefüllt waren, und einen Tonsandsteinklotz von einer halben Tonne, welcher »der heilige Tropfstein« genannt wurde und mit dem der Laden sozusagen seine Ehrerbietung gegenüber dem, was als »das strukturlose Wesen des Amorphen« bezeichnet wurde, zum Ausdruck brachte. Auf dem »heiligen Tropfstein« standen immer brennende Kerzen, sodass seine Seiten mit dicken, reizvoll vielfarbig schimmernden Schichten überzogen waren.

Der Raum, der dem strukturlosen Wesen des Amorphen geweiht war, war gemeinhin als der Tropfenraum bekannt, und meist gab es ein paar Meditierende oder Dichter, die an seinem Rand auf Polstern saßen und sich Notizen machten. Hin und wieder kam auch jemand in den Tropfenraum, um einen Einberufungsbefehl in der Kerze auf dem Tropfstein knisternd verbrennen zu lassen.

In einem Winkel des Tropfenraums war eine Öffnung im Boden, durch welche das Ende einer Leiter ragte, über die die Eingeladenen nach unten steigen konnten in die Kiva, einen mit Postern, stroboskopischer Beleuchtung, Matratzen und Polstern zur Meditation und für psychedelische Zeremonien ausgestatteten Kellerraum.


Vorbeieilende, deren Mägen gerade knurrten, sahen von draußen den Teil des Schildes, der -TESSEN verkündete, also kamen sie herein und wollten Bagels, Knishes oder Räucherlachs. Das führte unter dem Personal zu zahlreichen geistreichen Witzeleien über eine Speisekarte, die zum Beispiel Vorspeisen wie Marihuanasamen und Ziti, Spiegeleier mit Acid oder Peyote-Chips mit Haschöl/Jalapeño-Sauce anbieten würde. Spaß beiseite, die Sache mit dem »-tessen« war der Tupfen auf dem »i«, was den Gewinn betraf, und bald war es möglich — falls man vertrauenswürdig genug war — sich spezielle Bestellungen wie einen Haschisch-Auflauf oder eine Pilzkasserole zusammen mit einem eigenen Tripbegleiter in die Wohnung oder zur Eröffnung der Galerie liefern zu lassen.

In diesem Frühjahr flocht das Schicksal, das den Großen Teppich wob, ein zusätzliches Muster ein, welches drei Frauen zur Arbeit ins Psychedelicatessen führte. Die Erste hatte gerade den Namen Vera Kommissarzhevskaya angenommen, die Zweite war die Frau, die sie Lilona of the Space Shadows nannten, und die Dritte war eine Modedesignerin namens Indian Annie, die eine Kommune in der Siebten Ost betrieb.

Alle drei Frauen — Vera, Lilona und Annie — waren kurz zuvor aus Ehen geflüchtet und wollten nach New York, nachdem sie herausgefunden hatten, dass ihre Männer jeweils ein Verhältnis mit ihren Schwestern hatten. Vera, Lilona und Annie kamen bestens miteinander aus, erzählten einander am ersten Arbeitstag ihre Geschichten und waren zusammen im Tropfenraum neben dem großen blauen Felsen, der dem »strukturlosen Wesen des Amorphen« geweiht war, als ihnen unter abergläubischen Ausrufen wie »O nein!«, »Verdammte Scheiße!« und »Du heiliger Strohsack!« die Parallelen in ihren Schicksalen aufgingen.

Die Frau namens Vera war vor kurzem noch Kathy Grieve aus Seattle gewesen. Als ihre Schwester schwanger wurde und die Wahrheit herauskam, war Kathy barfuß durch die Straßen gezogen und hatte geheult, gekreischt und sich selbst ins Gesicht geschlagen und Klagelieder, die zwischen den tiefsten und den höchsten Tönen wechselten, über den schrecklichen Betrug ihres Mannes und ihrer Schwester, die dessen Geliebte geworden war, angestimmt. Dies hatte immerhin unter den Hippies in der Nachbarschaft soviel Aufsehen erregt, dass eine Untergrundzeitung in Seattle einen Artikel über »Liebesleid durch die Schwester« veröffentlichte.

In einem vor Kummer unternommenen LSD-Trip taumelte Kathy in eine Acid-Phantasie, in deren Verlauf sie eine Stimme hörte, die ihr verkündete, sie wäre die Reinkarnation einer gewissen Vera Kommissarzhevskaya. Sie erlebte sich auf einer Bühne in Moskau, wie sie nach einer Aufführung von Maxim Gorkis Nachtasyl unter tosendem Beifall immer wieder vor den Vorhang geholt wurde. »Vera! Vera! Vera!« rief das begeisterte Publikum.

Nach dem LSD-Trip erfuhr Kathy in der Schulbibliothek (sie hatte damals Theater als Hauptfach), dass Vera Kommissarzhevskaya eine große russische Schauspielerin des späten neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhunderts gewesen war, zum Star des Moskauer Künstlertheaters wurde und später ihr eigenes Theater gründete, in welchem sie sich auf die Stücke von Tschechow spezialisierte. Dann der Schock: Die russische Vera hatte sich ebenfalls von ihrem Ehemann getrennt, nachdem er sie mit ihrer eigenen Schwester betrogen hatte! Die Drogenvision und die Übereinstimmungen ihres Liebesleids waren nur allzu erschreckend. Kathy war überzeugt, dass in ihrem kleinen Winkel des Universums die Götter sie riefen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.

Die Vera Kommissarzhevskaya, über die sie las, war voller Energie und hatte ein schmales Gesicht. Für sie war das Theater ein heiliger Auftrag und die Kunst ein eifersüchtiges Wesen, unter dessen Sohlen alles zermalmt wurde, was sich ihm nicht unterwarf. Die große russische Vera verwandelte sich durch die Inspiration, die ihr die Arbeit mit einem lebendigen Publikum brachte, in ein Genie, und Kathy aus Seattle hatte entdeckt, dass auch sie ein Genie war, wenn es darum ging, ein Publikum in Erregung zu versetzen.

Im Russland des Neunzehnten Jahrhunderts wurden Schauspielerinnen mit einer beinahe religiösen öffentlichen Begeisterung verehrt. Manchmal wurde Kommissarzhevskaya am Ende eines Stücks bis zu fünfzigmal vor den Vorhang gerufen. Schließlich kehrte sie noch mit Mantel und Hut in der Hand vor ein in Tränen aufgelöstes Publikum zurück, das sie nicht gehen lassen wollte. »Gehen Sie nicht! Verlassen Sie uns nicht! Verschwinden Sie nicht! Bleiben Sie bei uns!« Sie bebte und weinte: »Ich gehöre euch!« Es gab Leute, die inmitten von soviel kollektiver Hysterie in der Menge bewusstlos wurden.

 

»Ja!«, hauchte Kathy Grieve. »Das ist es, wonach ich mich stärker sehne als nach Freiheit oder Berührung!« Sie identifizierte sich völlig mit der großen Schauspielerin, die die Rolle der Möwe verkörpert hatte, und nahm schon am nächsten Tag den neuen Namen an. Kathy spielte die Rolle der Kommissarzhevskaya perfekt, mit großen, dunklen Augen und einer musikalischen Stimme, deren Vokale sich melodiös dehnten bis zum Sprechgesang. Sie fand eine Fotografie in einem Buch: Wow! Sie sah sogar so aus wie Vera Kommissarzhevskaya!! Von da an trug Vera ihr dunkelrotes Haar entgegen der allgemeinen Mode — nämlich ganz kurz —, und ihre Augen, ohnehin fast schon zu groß, ruhten mit der Intensität athenischer Eulen in einem prächtigen schockroten Rahmen.

Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft in New York begann Vera ihre Karriere in einem Theater mit unzähligen Offs — einer Off-Off-Off-Off-Off-Broadway-Produktion mit dem Titel Acid & Communism: Yes. Nach dieser tastenden Anfangserfahrung hoffte sie, sich zumindest bereits in Richtung Überschwemmungsgebiet des Off-Broadway-Stroms zu bewegen, deshalb arbeitete sie freiwillig als Platzanweiserin beim Luminous Animal Theatre auf der Bowery, wo sie alsbald Rollen bekam. Es war erstmals auf der Bühne des Luminous Animal, nach Tausenden Proben von (gezeichnet von Tausenden Schnipseln von Probebändern), dass Vera Kommissarzhevskaya in ihrer Ära einen herausragenden Eindruck hinterließ. In den späten sechziger Jahren lockte und begeisterte sie ihr Publikum und versetzte es in Spannung. Sie verkörperte Starqualität, Starpotential und Starhunger.

Wo schon vom Hunger die Rede ist: Die Schauspielerinnen von 1967 schienen immer am Rande einer durch schlechte Ernährung bedingten Abmagerungskur zu stehen, die sie dünn bleiben ließ. Bestimmt war es vor dreitausend Jahren, wenn Künstler Eintagsproduktionen in Zelten am Rand des Tals der Könige aufführten, dasselbe, wie wenn Vera Kommissarzhevskaya fast eine Woche lang ohne Nahrung zur Arbeit gehen musste und im Psychedelicatessen Kerzen und Duftstoffe verkaufte, damit sie überleben konnte.

Es war eine Ära, in der das Wort »freak« verschiedene Bedeutungen hatte, von denen die meisten positiv waren: freak-out, freaky, freako, freaking, oder »mich dürstet es nach den ungeplanten Tagen des freak-goof.« Das Wort hatte aber auch die Bedeutung von Besessenheit. So stellte sich zum Beispiel bei der Arbeit heraus, dass Vera ein Sauberkeits- und Reinlichkeitsfreak war. Sie trug dieselbe detailversessene Energie ins Psychedelicatessen, die sie in ihre Rollen im Luminous Animal Theatre gelegt hatte — jede Reihe mit indischen Duftstoffen, jeder Kristall, in dem sich das Licht brach, jedes Stück spirituellen Glitzerzeugs arrangierte sie auf den Millimeter genau auf den Ladentischen und Regalen. Sie wischte sogar die Wachstropfen von den Kerzen im Tropfenraum mit einem feuchten Tuch weg.

Die zweite Frau, die im Psychedelicatessen arbeitete, war Lilona of the Space Shadows, deren durch die Untreue ihres Ex-Ehemanns gebrochenes Herz und eine Neigung zu allem Religiösen, welche durch Unmengen von Acid und Meskalin noch verstärkt wurde, sie ständig in Richtung des Raum-Zeit-Kontinuums streben ließ. Sie war sozusagen und schlechthin die Allererste unter den Astronauten des inneren Raums. Sie war out there, von der Außenwelt abgeschnitten, in der Regenbogenzeitzone, während sie den gigantischen Meeresschwamm in den Meeren des Jenseits ritt, und der Sturzbach ihrer manchmal kaum vernehmbaren Worte entsprang ihrer Seele mit einer vibrierenden Kraft, wie wenn ein Singvogel, den ein Habicht fasst, Federn lässt. Und dennoch gelang es Lilona, diese aus ihrer Seele gepeitschten Federn zu belangvollen Raum-Zeit-Botschaften zu verweben, welche die Leute gerne hörten und zitierten. Für ihre Ära versinnbildlichte Lilona of the Space Shadows das eigentliche Wesen dessen, was sich, sofern solch ein sprachliches Unding erlaubt ist, als der codex spacia cadetia bezeichnen ließe.

Sie war darüber hinaus das, was Balzac in einer seiner Geschichten — La Torpille — einen tollen Stechrochen nannte. Sie hatte ungemein blondes Haar, das von ihrem Kopf flatterte wie ein Zierstrauch. Sie verbarg ihren sinnlichen und umschwärmten Körper hinter zahllosen Raum-Zeit-Schichten — hinter wallenden Gewändern, Westen, Pullovern, Schals, Gürteln, Capes und Schleiern. Sie wollte nach ihrem Schmerz ihren Körper verstecken, denn ihr Körper war wie ein zorniges Meer. Unter ihrer aufsehenerregenden Kleidung sahen ihre am besten bekannten Merkmale hervor: Lilona of the Space Shadows trug fast immer einen kniehohen silbernen und einen kniehohen roten Stiefel.

Während Vera Kommissarzhevskaya bloß ein einziges Mal ausgeflippt war und mit dem Wehklagen der von der eigenen Schwester Betrogenen durch die Straßen von Seattle gezogen war, wurde Lilona alle paar Monate von allem überwältigt, sodass sie einen Tag oder eine Nacht lang auf die Straße ging und ihren Hauch aus flügelflatternden Worten in stöhnendem Geflüster von sich gab, als hätte jemand ein Federpolster aus einem Fenster im dritten Stock ausgeleert. Im Jahr ’67 waren die Straßen von New York noch sicher genug, sodass Lilona in Weltraumschmerz und grenzenloser Verzweiflung barfuß durch den Schnee laufen konnte, über dem Kopf ein Buch mit Versen schwenkend, während sie in den Himmel starrte, um den in der schmutzigen Luft kaum zu erkennenden Neumond zu sehen.

Ihre an Straßenecken dargebotenen Sinnsprüche waren in der psychedelischen Szene überaus geschätzt. Wer sie in einer bestimmten Verfassung hörte, für den klangen ihre Verkündigungen wie psychedelische Rocktexte. Und tatsächlich verwendeten zahlreiche Sänger und Musiker Zeilen von ihr in Songs, und sie half großzügig jungen Folk-Acid-Rockern, die Qualität ihrer bisweilen wirklich grauenhaft fehlerhaften Texte zu verbessern.

Lilona fand ihr Heil in der Poesie, in deren Diensten sie eine überaus praktische Veranlagung zeigte. Sie organisierte regelmäßig Dichterlesungen in nicht bloß einem oder zwei Cafés oder Buchhandlungen, sondern in zehn! Sie war am Telefon dermaßen hartnäckig, dass viele berühmte Dichter, die normalerweise nur an Veranstaltungsorten uptown wie dem Y in der Zweiundneunzigsten Straße lasen, sich Lilona zuliebe auf einmal in irgendeinem Club in der Lower East Side einfanden, der dermaßen obskur war, dass es draußen nicht einmal ein Schild gab.

Lilona gab eine Literaturzeitschrift heraus, Nightlace, die sie auf dem Matrizendrucker der Kommune im Peace Eye Bookstore herstellte, und sie betrieb einen Kleinverlag, den sie Huge nannte, weil sie davon überzeugt war, dass er sich in einen gewaltigen finanziellen Erfolg verwandeln würde.

Lilona of the Space Shadows war, wie Tausende andere auf der East Side, bereit für die Revolution, aber sie wollte die revolutionären Strukturen auf Dauer durchgesetzt sehen, nicht nur in Form von psychedelischen Barrikaden an den Straßenecken. Sie glaubte an Wahrheit und Ehre, selbst im Getümmel des revolutionären Chaos, und sie wollte eine Revolution, die auch die reiferen Jahre mit einbezog, mit einem klaren Konzept für eine saubere Welt voller Spaß, in der die Poesie und die Kinder ihren sicheren Ort haben. Deshalb sprach sie, wie abgehoben auch immer, von der Notwendigkeit einer Tagesbetreuungsstätte am Tompkins Square bereits Jahre bevor es wirklich dazu kam. Sie stand während des Sommers der Liebe im Park neben den Schaukeln und dem Planschbecken und sah die Mütter und Väter — meist Mütter — mit ihren Hippiekindern — »Stone Flame! Spritz bitte Yucca nicht an!« und träumte von einem Amerika der Kommunen, in dem alles für alle in Hülle und Fülle vorhanden war, von einem Ort, wo sie ihre eigenen Kinder großziehen könnte!

»Der große Ozean ist zornig, er will das perfekte Kind«, schrieb der Barde Charles Olson, und Lilona of the Space Shadows zitierte diese Zeile wieder und wieder. Ahh, wie sie sich nach dem perfekten Kind sehnte! Ihr war bewusst, dass sein Vater vielleicht bald wieder weg wäre, hoffte aber, dass er sanft und hilfsbereit sein würde, sodass das Kind diese Eigenschaften erben würde, um die friedfertige Natur noch zu unterstreichen, die das Baby mit Sicherheit von ihr mitbekommen und erlernen würde. Sie wollte ihr Baby in einer kooperativen Kommune aufziehen, in der die täglich notwendigen Arbeiten untereinander geteilt würden und die ihr Sicherheit gab und genug freie Zeit, um sich mit ihrer Poesie zu beschäftigen.

Lilona zählte darauf, dass ihre Mitarbeiterin Indian Annie, die auch der Kommune vorstand, in welcher Lilona lebte, die Führung übernehmen würde.

Indian Annie war eine robuste Chippewa-Indianerin aus Wisconsin, die aus einer Ehe, in der ihre Schwester zur Geliebten ihres Mannes wurde, ausgebrochen war, zwar nicht in Tränen, aber versessen darauf, alleine zurechtzukommen. Anders als Lilona und Vera, die über Telefon oder brieflich eine kämpferische Verbindung mit ihren Müttern aufrechterhielten, hatte Annie jeglichen Kontakt abgebrochen. Ihrem Identitätsgefühl nach war sie ein Opfer als Angehörige einer ganzen Kultur, aber sie fühlte sich auch als Opfer ihrer Familie, und deshalb ließ sie diese nicht an sich heran.

Ihre Familie hatte sich über ihre Arbeit als Designerin lustig gemacht, weil Annie sich gern auf eine Art kleidete, welche die annähernde Nacktheit gewisser Körperzonen mit eleganten Girlanden aus Leinen, Rinde, Spitze, kleinen durchbohrten Steinen, Lederkopfschmuck, Federn und Metallblech auf eine Art und Weise kombinierte, die in der Modewelt bald als bis an die Zähne bewaffneter Hippielook berühmt wurde. In der Lower East Side mietete sie einen Laden, wo sie ihren eigenen Lindenfaserzwirn drehte, um damit ihre Kleider zu nähen, mit denen sie zunehmend Aufmerksamkeit erregte.

Indian Annie vermisste das ländliche Leben und drohte ständig damit, aufs Land zu ziehen, aber ihr Geschäft mit den Kleidern wurde langsam ein Erfolg. So hatte etwa Bloomingdales einige ihrer Modelle gekauft und sie wurde zunehmend in Klatsch- und Modekolumnen erwähnt, obwohl es schwierig blieb, regelmäßig genug zu verkaufen, um die Miete zu bezahlen, weshalb sie eine Teilzeitarbeit im Psychedelicatessen annahm.

Indian Annie war ebenfalls eine Revolutionärin. Während Vera Kommissarzhevskaya eher Ordnung in den leblosen Raum bringen wollte und Lilona die Ordnung in ihren Versen suchte, brachte Indian Annie den Menschen Ordnung bei — vor allem den jungen Hippietypen. Die beiden Wohnungen über ihrem Laden verwandelte sie in einen Lebensraum, der irgend etwas zwischen Pennbude und Kommune war — vielleicht eine »Penn-mune«. Eines ihrer Ziele war es, von den jungen Männern, die in ihre Kommune kamen, so viele wie nur möglich zu ändern.

Deshalb wurde Annies Domäne so etwas wie die Abschlussklasse so einer Penn-mune. Annie ließ den Kerlen keinerlei Unordnung durchgehen. In den mit Matratzen ausgelegten Unterkünften, in denen die Gänge dazwischen so eng waren, dass sie ihre Arme wie eine Seiltänzerin ausbreiten musste, um während der Inspektionen von einem Ende zum anderen zu gelangen, brachte sie den jungen Männern bei, wie sie ihre indischen Bettdecken sauber und straff zu spannen hatten.

Ihr fiel ein beunruhigendes Muster unter den männlichen Hippies auf, die sich am späten Nachmittag in der Kommune einfanden und Platten hörten und Hasch rauchten, während die Hippiefrauen kochten. »Alles, was ihr Typen wollt, ist ein barbusiges Hippiemädchen, welches euch automatisch jeden Tag um halb sechs ganze Eimer voll Spaghetti kocht«, empörte sie sich. »Los! Alles aufgestanden und ab in die Küche! Ich werde euch zeigen, was zu tun ist!«

Sie brachte ihnen bei, das Gemüse zu waschen und zu schneiden, sowie Pasta- und Getreidegerichte herzustellen, und sie zwang sie zu hygienischem Umgang mit der Nahrung. Sie hatte einen Dachgarten angelegt, und alle mussten mithelfen, ihn zu bearbeiten. Sie hängte einen verhassten Dienstplan an die Wand über der Wasserpfeife der Kommune, zwischen Janis-Joplin- und Doors-Postern, und berief abends vor jeder Party Versammlungen ein, um diejenigen bloßzustellen, die ihren Anteil an den Arbeiten nicht erledigten.

 

Sie hielt ihnen anstelle des Tischgebets kleine Vorträge vor den Mahlzeiten. Sie machte sie auf den Wert biologischer Ernährung aufmerksam, lange bevor das Biologische so sehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte, bestand darauf, dass sie ihr Essen nicht hinunterschlangen, und ermahnte sie, jeden Bissen zehnmal zu kauen.

Manche waren eifrig bei der Sache, andere wurden mürrisch. Kein Vorstadtkind, das zum Rasenmähen verdonnert wird oder wegen einer schlechten Note nicht hinaus durfte, konnte derart trotzig und beleidigt sein wie einige der Hippiebürschchen, die von Indian Annie zum Kartoffelwaschen und -schälen abkommandiert wurden, zum Brotbacken fürs Abendessen oder zum Sauberkratzen eines Topfes mit angebranntem Reis. »Scheiß drauf«, meinte dann einer von ihnen, »ich wollte ein wenig im Zimmer herumhängen und mir Jimi anhören und mir einen reinziehen, Mann, und meinen Kopf für die wahren Aufgaben freimachen! Aber dies hier nimmt die Spannung völlig raus, Mann! Diese Indianerzicke ist eine harte Nuss!«

Und da waren sie also, verwoben in ein und denselben Schicksalsrahmen namens »67«, drei Frauen, deren intensives Wehklagen in Aktivität verwandelt worden war: Vera Kommissarzhevskaya, die hungrig darauf war, eine große Schauspielerin zu werden; Lilona of the Space Shadows, entschlossen, sich als Dichterin und Mutter zu verwirklichen; und Indian Annie, welcher ungemein daran gelegen war, den jungen Kerlen Benehmen beizubringen und als Modedesignerin ihren Weg zu machen.

Sie arbeiteten gut zusammen. Sie hatten so viel Elan, so viel Schwung und Lebenskraft — sie waren auf so interessante Weise penetrant und sie besaßen die Fähigkeit, keine Zeit verstreichen zu lassen zwischen Entschluss und Ausführung. Was waren sie doch für ein Team, als sie in den Sommer der Liebe schwebten!

Und dann kam der sechzehnjährige Johnny Ray Slage in den Laden, der vor seinem rassistischen Vater in Alabama geflohen war und ständig eine zerschrammte alte Gitarre mit sich herumschleppte, die einst Bob Dylan gehört hatte und ein Prachtstück war, das nur wenige kaltließ. Jemand hatte ihm seine Gitarre zu stehlen versucht, deshalb hatte er sie jetzt immer bei sich, und das ließ ihn zu einem besseren Spieler werden, da er nun zwischen dem Verpacken der verschiedenen Bestellungen, die über den Versandkatalog des Psychedelicatessen eintrafen, neue Griffe und Licks einübte.

Alle drei — Lilona, Vera und Indian Annie, hatten sich auf eine Zeit der Geilheit eingestellt, nachdem sie aus ihren Ehen geflohen waren, und nahmen gespannt Notiz von dem schönen Johnny Ray Slage mit seiner ausgeprägten hohen Tenorstimme und seiner magischen Gitarre. Er vermochte ihnen das Blut aus ihren Gesichtern zu jagen oder sie vor Begeisterung erröten zu lassen, wenn er sang. Er war solch eine Wucht, dass selbst sein Anblick schon genügte, dass ihnen die brennenden Räucherstäbchen aus der Hand fielen oder die Bissen von den Linsenlaibchen auf ihren Gabeln zu zittern anfingen.

Sie wollten ihm alle nahe sein und ihn berühren und so oft wie möglich mit ihm ins Gespräch kommen, sodass die drei Femmes fatales des Psychedelicatessen einander bald eine erstaunliche Tatsache zuflüsterten: Der Engel aus Alabama war eine Jungfrau!

Darauf folgte dann ein Streit, der sich am Rande des Unziemlichen bewegte, wer ihm die Jungfräulichkeit rauben dürfe. Ein Problem dabei war, dass er so, na ja, unerfahren war, dass er sogar Schwierigkeiten hatte, jegliche Form von sanftem Annäherungsversuch auch nur zu erkennen. Irgendwie wurde all dies unter den glühenden Maiden um den Tompkins Park publik, und an die zwanzig von ihnen frequentierten von nun an das Psychedelicatessen in der Hoffnung, Johnny Ray in ihre Bude abschleppen zu können.

Das erotische Trio namens die Wilden Weiber der Zehnten Straße schloss sich dem Bemühen an und kam mit dem Angebot, es ihm nach einem Konzert, das er eines Abends im Peace Eye Bookstore gab, zu dritt zu besorgen. Johnny verstand immer noch nicht, was sie ihm da vorschlugen, bis eine verzweifelte Enid Starkey es ganz trocken formulierte: »Johnny Ray, wir vier alle im selben Bett, keine Kleider und nur Spaß!«

Er kapierte, lehnte das Angebot jedoch ab. Es stellte sich zur Verblüffung aller heraus, dass Johnny Ray Slage religiös war und nur mit der Frau intim werden wollte, die mit ihm in die Kirche ginge!

Unter diesen Umständen übertrugen Lilona of the Space Shadows und Indian Annie die Sache an Vera Kommissarzhevskaya, da sie die Einzige war, die in ihrem Kleiderschrank ein Paar Kirchenschuhe, weiße Handschuhe und ein ordentliches Kleid behalten hatte.

Vera und Johnny probierten eine Reihe von Kirchen aus, entschieden sich aber schließlich für den Versammlungsort der Quäker im Village. An der Tür sah Johnny ein kleines Schild an einer von einem blauen Nagel hängenden goldenen Schnur, an welcher eine kleine getrocknete Blume befestigt war, mit der Aufschrift »Möge hier das Schweigen beginnen.«

Obwohl er nicht viel von seiner Heimat in Alabama vermisste, sehnte er sich nach Schweigen. Es war so laut auf der Avenue A. Selbst wenn er sich in der räucherduftschweren Stille der Kiva im Psychedelicatessen aufhielt, konnte Johnny Ray immer noch das ferne Rauschen der U-Bahn aus der Vierzehnten Straße wahrnehmen.

Er dankte Vera dafür, dass sie sich so früh an einem Sonntagmorgen schön angezogen hatte, und weinte, als er ihr erklärte, dass er bei seiner Verwandlung die Hilfe der Kirche brauche.

Sie fragte ihn, was er damit meine.

»Es genügt nicht, den Bann der Gewalt zu brechen«, meinte er. »Wir müssen darüber hinaus auch den Kreislauf der Gemeinheit durchbrechen. Ich trage solch eine Bürde mit mir. Wenn du in mein Herz kommen könntest, könnte ich dir die Spuren jahrhundertealter Gemeinheit zeigen.«

Während der stummen Andacht musste Johnny ständig das Bedürfnis zu singen unterdrücken. Anschließend fragte er die Frau, die der Gemeinde Vorstand, nach den Gepflogenheiten. »Was passiert, wenn jemand den Wunsch verspürt, die Stille durch Gesang zu unterbrechen?«

Sie sah Johnny ungefähr fünf Sekunden lang an und erwiderte dann: »Unsere Gründer ermunterten grundsätzlich zum spontanen Gesang. Die frühen Quäker sangen, wenn sie ins Gefängnis gesteckt wurden, ihren Wärtern aus freier Seele Melodien vor.« Sie führte Johnny Ray zur Bibliothek und reichte ihm einen Text aus der Apologie des Quäkerschriftstellers Robert Barclay: »Wir bekennen uns zum Gesang als eines Bestandteils des Gottesdiensts, welcher sehr lieblich und erfrischend ist, wenn er dem Herzen als reines Gefühl von Gottes Liebe entspringt.«

Mehr brauchte Johnny Ray Slage nicht zu hören. Am nächsten Sonntag brach er das Schweigen mit einem Gesang, einem freudigen und unheimlichen Klangbogen reiner Vokale, welcher die Gemeinde in seiner Schönheit in Erstaunen versetzte. Vera sang ebenfalls mit, und zwar harmonisch, indem sie das Uuuu russischer Zigeunergesänge über dasjenige von Johnny legte. Es gab natürlich damals noch keine tragbaren Minirekorder, sodass keine von Johnnys und Veras Quäker-Vokalsonaten auf Band festgehalten wurden.

Der Geist der großen Schauspielerin Vera Kommissarzhevskaya war nicht das einzige Stück Russland, das in diesem Frühling seinen Weg ins Psychedelicatessen fand. Ein anderes Bruchstück hier war von anderer Natur — es entsprang dem russlandfeindlichen Klima des Kalten Kriegs und dem Krieg gegen LSD.

Zu jener Zeit gab es eine große öffentliche Diskussion über den Stellenwert und die Frage der Harmlosigkeit psychedelischer Drogen. Bis vor nur wenigen Monaten war es gesetzlich erlaubt gewesen, im Besitz von LSD zu sein, und wer sich damit zu Forschungszwecken befasste, konnte es beim Pharmakonzern Sandoz erwerben. Es war eine Ära, in der die Leute in beträchtlichem Maße öffentlich für die Legalisierung von Drogen eintraten und wer vertrauenswürdig genug war, konnte LSD, Psilocybin, Marihuana, Meskalin und Peyote im Psychedelicatessen kaufen.