Tales of Beatnik Glory, Band II, (Deutsche Edition)

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Tales of Beatnik Glory, Band II, (Deutsche Edition)
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

— DEUTSCHE EDITION —

Ed Sanders

Tales Of Beatnik Glory

Band II

East Side Blues

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Schmid

FUEGO

Über dieses Buch

— Band II der vierbändigen Ausgabe —

Allen Ginsberg nannte das dokumentarische Rock ’n’ Drug-Epos Tales of Beatnik Glory über »Die Freaks von Greenwich Village« ganz ohne Neid einen »satirischen Lobgesang auf radikale visionäre Politik, wie man sie im 21. Jahrhundert mit der Einstellung den alten Ägyptern gegenüber betrachten wird«, und einen »Meilenstein historischer Archäologie«. Es ist eine Sammlung von höchst vergnüglichen und schrägen Geschichten um einen Dichter aus dem Hinterland, der zuerst in New York landet und von dort aus die verschiedenen Phasen der alternativen Szene der USA erlebt.

»East Side Blues« führt in die subkulturelle Szene der Lower East Side in das New York der Jahre zwischen 1963 und 1965, wo wir in verschiedenen Stories die Szene-Freaks bei schrägen Kunstaktionen, dem »Großen Marsch nach Washington«, dem Kampf gegen Krieg und Rassismus, sowie bei ausgiebigen Sex- und Drogenexperimenten begleiten. Sanders schlägt in »East Side Blues« einen weiten Bogen von den jüdischen Sozialisten und Aktivisten der Vorkriegsjahre hin zu den Beatniks und Anarchisten der Sechziger, die mutig in die Südstaaten reisten, um dem rassistischen Schrecken des Ku-Klux-Klan die Stirn zu bieten.

»Als die Beatniks den Hippies weichen mussten, war Ed Sanders dabei. Er stand auf der Kreuzung, dirigierte den Verkehr und formte die Dekade.«

William S. Burroughs

ICH HABE EINEN TRAUM

Einige schliefen ein, aber die meisten unterhielten sich aufgeregt und begannen alle paar Minuten unter Klatschen und Stampfen zu singen auf dieser langen Morgenfahrt nach Washington. Immer wieder stimmten sie die Hymnen an, die sie bewegten, die Melodien zu ihren philosophischen Passionen: »If I Had A Hammer, »Solidarity Forever«, »Ain’t Gonna Study War No More«, »Dona nobis pacem«. Ein besonders stürmisches Kontingent führte den Bus durch »Cuba Si, Yankee No«, »We Shall Wear The Red And Black« und die »Internationale«, jenes schöne Lied aus den Tagen der Pariser Kommune von 1870.

Sam und seine Freunde saßen ganz hinten und ließen diskret Joints und Alkohol kreisen, und schließlich setzte man sie am Morgen müde und hungrig am Rand des Parks ab, in dem das Washington-Monument steht.

Sam hatte etwas zu erledigen und so winkte er Cynthia, Talbot und Nelson zu und lief los. Unter einer bestimmten Ulme rechts vom Lincoln Memorial wollte man sich später wieder treffen.

Obwohl es über dreißig Grad hatte, trug Sam besonders dicke — schlangensichere — Schaftstiefel, eine orangefarbene, an den Hüften ausgestellte Reitjacke mit Fischgrätmuster, ein kragenloses gewürfeltes Hemd und einen australischen Militärhut, dessen Krempe mit einem NO HOPE WITHOUT DOPE-Button hochgesteckt war (»Keine Hoffnung ohne Dope«). Der Button gab ihm zu denken, und so nahm er ihn ab und ersetzte ihn durch einen, auf dem AHIMSA zu lesen war.

Die hatte er bis zwei Uhr morgens vervielfältigt, dann war es Zeit für den Bus gewesen. Deshalb war er so müde.

Sein Ziel war die Library of Congress, zu der es mehr als anderthalb Kilometer waren.

»Ich würde mir gern Ezra Pounds Radiosendungen ansehen«, sagte Sam Thomas, seine Lunge eine Thermosflasche voll Scherben, da er die ganze Strecke gelaufen war.

Man brachte ihm einen Karton mit Weiß-auf-Schwarz-Abzügen — offensichtlich von Filmnegativen — der Abschriften von Pounds italienischen Radiosendungen zwischen 1941 und 1943, die der Foreign Broadcast Intelligence Service aufgezeichnet hatte. Sam war zu aufgeregt, um sie sofort durchzugehen. Normalerweise dauerte es wenigstens zehn Minuten, bis sich seine Aufregung so weit legte, dass er hochgeistig arbeiten konnte. An diesem Tag riss er sich so sehr zusammen, dass seine ersten Notizen krakelig, fast unleserlich waren. Seine Nachforschungen galten der »Lb Q« oder »Pound Question«, wie Sam und einige Freunde es nannten. Nicht viele dachten an jenem Tag in Washington groß über die Lb Q nach, aber für Lyriker in der Tradition der Beats, der Black Mountain School, des Objektivismus oder Deep Image war sie ein ernstes Problem. Würden Blicke Papier abnutzen, die Seiten von Personae — einer Sammlung von Pounds frühen Gedichten — wären längst leer gewesen. Pounds unerbittliche Wissenschaftlichkeit, die Mischung aus knallharter und zärtlicher Lyrik, seine Liebe zum Griechischen und Lateinischen, das alles hatte Sam geholfen, Dichter zu werden.

Nach dem Krieg, Sam war in der ersten Klasse, hatte man Lb des Landesverrats angeklagt, für irre erklärt und ins Washingtoner St. Elizabeth’s Hospital abgeschoben. Es war unter Schriftstellern zu einer großen Debatte gekommen, als Pound, während er in der Anstalt war, für die Pisaner Gesänge den Bollingen-Preis verliehen bekam. Einige nannten ihn seiner Sendungen während des Krieges wegen einen Verräter; andere meinten, er sei ein großer Lyriker, und sein Werk hebe ihn über seine Sendungen hinaus; wieder andere nannten ihn eine alberne Schimäre aus alten Zeiten, die man am besten vergesse. 1963, zur Zeit des großen Marsches auf Washington, war Lb längst aus der Klapse entlassen und lebte wieder in Italien.

Sam wollte selbst sehen und entdeckte es auch sofort: Es wimmelte nur so von abfälligen Bezeichnungen über Juden wie »Itzig« und »Itzigenrat« — letzteres poundscher Code für Roosevelts Kabinett.

»Großer Gott, der Mistkerl war ja wirklich ein Antisem!«, entfuhr es Sam — etwas zu laut, sodass der Typ von der Ausleihe die Brauen hochzog.

Eine halbe Stunde genügte. Sam stand auf, eilte mit den Abschriften zurück zur Ausleihe, dankte dem Bibliothekar, schulterte seine Kamera und die Umhängetasche voller Dope, Fucking and Social Change: A Journal of the New America und verließ den marmornen Datentempel im Sprint; vorbei an Kapitol, Nationalgalerie, Smithsonian, Weißem Haus und Washington-Monument hielt er auf den Reflecting Pool vor dem Lincoln-Denkmal zu.

Aus irgendeinem Grund hatte er einen Meskalintrip im Stiefel verbunkert, und als der schmolz, sickerte das Dope durch die schweißnasse Socke in eine geplatzte Wasserblase, sodass er, als er die ungeheure Menschenmenge erreichte, die sich um Lincoln versammelt hatte, zarte Farbnuancen wahrzunehmen begann.

Sam hatte noch nie zweihunderttausend Leute gesehen. Als er die Bell & Howell auspackte und zu filmen begann, war er sich eines tiefen Grollens bewusst, eines Vibrierens, das von der Menge ausging. Es war Sams erste Erfahrung mit dem Summen einer Massendemo und dazu gehörte nicht nur das tosende Grollen der Menge, sondern auch die Hunderte von Leuten, die am Rand lauthals über ihr Engagement für was auch immer sprachen und dabei eine Vielzahl von Flugblättern, Magazinen, Wimpeln, Buttons, Pamphleten und Flugschriften für linke, linksliberale, Friedens- und Bürgerrechtsgruppen verteilten. Sam war in seinem Element. Es war, als lege sich ein Amphetamindunst über seine Sinne. Er ahnte es nicht, aber es lagen fünfzehn Jahre dieses Summens vor ihm.

Nervös vor Angst, sie nicht wiederzufinden, durchkreuzte Sam im Zickzack die mit Transparenten bewehrten Kontingente auf der Suche nach den Freunden. Joan Baez war auf der Bühne und stimmte gerade »We Shall Overcome« an, das im Sommer 1963 — eben als Nationalhymne akzeptiert — die Leute zu bewegen vermochte wie kein anderes Lied.

Er fand die Freunde bei Limonade unter der großen Ulme mit den schön gezackten Blättern, die sie den Friedensbaum tauften. Eilig huschte er neben seinen Freund John Barrett, der wie Sam etwas Selbstgebasteltes mitgebracht hatte — eine Lyra mit dem Panzer einer Schildkröte als Resonanzkörper nach dem Vorbild auf einer griechischen Vase.

»Ich habe mir in der Kongressbibliothek ein paar von Pounds Sendungen angesehen«, sagte er und gab John seine Notizen.

John sah sie sich an:

»Es kann sich niemand als Historiker des letzten halben Jahrhunderts qualifizieren, der nicht die Protokolle (der Weisen von Zion) gelesen hat.« 20.04.43

»Talmudische Juden, die gern alle anderen Rassen beseitigt sähen, die sich nicht unterjochen lassen.« 20.04.43

»Die amerikanischen Lynch-Gesetze haben ihren Ursprung im Ruin des amerikanischen Südens durch den Juden.« 15.06. 042

»Wenn ihr keinen Führer findet, dann werdet ihr womöglich auf einen gutherzigen Bayern oder Ungarn warten müssen, der euch von den New Yorker Juden befreit.« 06.03.42

»Ich sagte, die Republikaner hätten 1944 das ganze Judentum und seinen geballten Profit gegen sich.« 16.03.43

»Seit zwei Jahrhunderten, seit der viehische Cromwell ihn zurück nach England geholt hat, saugt der Itzig an euren lebenswichtigen Organen.« 15.03.42

»Der ganze Abschaum aus den ehemaligen europäischen Gettos hängt jetzt am Hals des amerikanischen Volkes.« 23.03.42

»Die USA werden weder sich selbst noch sonst jemandem nützen, bevor sie nicht den Itzig und Mr. Roosevelt los sind.« 11.03.42

»Hitler, der den Juden auf die deutsche Demokratie hat kotzen sehen, war es um Verantwortung ...« 20.04.42

John hörte zu lesen auf, weil der Zettel zu zittern begann.

 

»Und das sind alles Zitate aus den Sendungen?«

Sam nickte.

Er und John waren in jenem Sommer per Autostopp kreuz und quer durch die Staaten gefahren. Jeden Morgen, bevor sie losgetrampt waren, hatten sie Die Gesänge studiert; »Pfundige Runden« (Round Pounds) hatten sie diese Sitzungen scherzhaft genannt. John zerriss das Blatt, zerknüllte die Fetzen, warf sie Sam zu.

»Meiner Ansicht nach war der zwei Leute«, sagte Sam, »mindestens. Einerseits der Redneck aus dem antisemitischen Herzland, ein jähzorniger Typ, der nicht mit Mostrich zu genießen war. Aber auf der anderen Seite ein sensibler Typ, der ausgesucht schöne chinesische Naturlyrik schrieb.« Sams Wasserblase bescherte ihm ein Techni-Color-Bild von Pound in der Sendekabine, sein knorriger Bart vor einem jener Knollenmikros im runden Metallrahmen — ein tollwütig geifernder Hinterwäldler.

Pound war augenblicklich vergessen, als Talbot Jenkins zum Kreis der Lower-East-Siders stieß. Talbot kam eben von der Rednerbühne auf der Treppe des Memorials. Er hatte breite Schultern, einen mächtigen Wuschelkopf und merkwürdige Lider, durch die seine Augen irgendwie schräg wirkten; wegen all der Jahre, die man ihn bei seinem Kampf um die Integration des Südens geschlagen, in Handschellen abgeführt und mit Elektroschlagstöcken traktiert hatte, war er unter seinen Freunden als Talbot der Große bekannt.

Talbot der Große war in Harlem aufgewachsen, wo sein Vater Geistlicher und seine Mutter Chorleiterin einer Kirche war. Er hatte Football gespielt, als fullback, und er war ein Star gewesen, bis der Klan bei den Freedom Rides von ’61 an der Stadtgrenze von Birmingham den Bus überfallen hatte, in dem Talbot saß. Einer von ihnen hatte ihm mit einem Bleirohr das Knie demoliert und damit seiner angehenden Karriere als Footballprofi ein Ende bereitet. Selbst jetzt zog er das Bein noch ein wenig nach.

Talbot hätte am liebsten für den Rest seines Lebens einen Bogen um Birmingham gemacht, aber zwei Jahre später, im letzten Frühjahr, hatte man dazu aufgerufen, den hundertsten Jahrestag der Unterzeichnung der Emanzipationserklärung zu feiern — mit einem groß angelegten Versuch, Birmingham zu integrieren, wo eine bösartige weiße Machtclique dafür sorgte, dass die Stadt nach Rassen getrennt blieb, und zwar total. Man verwehrte Schwarzen jede Art von Arbeit außer Putz- und Dienstbotenjobs, und überall in der Stadt — über Wasserspendern und Imbisstheken, an Toilettentüren und in den Umkleidekabinen der Geschäfte — wimmelte es nur so von beleidigenden Schildern. Organisator war der Southern Christian Leadership Council unter dem Vorsitz von Martin Luther King, und Talbot folgte dem Ruf.

Die Presse berichtete darüber wie über einen Krieg; im Fernsehen und auch sonst überall waren die Bilder zu sehen. Die Welt sah, wie Kinder von Wasserwerfern niedergemäht wurden, wie Hunde sich in die Armen friedfertiger Leute verbissen, und das Foto eines Polizistenknies am Hals einer auf dem Gehsteig liegenden Frau; aus den Fenstern der Gefängnisse drangen Kirchenlieder aus Kinderkehlen.

Zunächst gab man Talbot ein Walkie-Talkie und setzte ihn als Koordinator auf der Straße ein. In der Brieftasche hatte er ein Foto des Mannes, der ihm das Knie zerschlagen hatte — nur für den Fall, dass er ihm noch mal über den Weg laufen sollte. Als die Organisatoren erfuhren, wie flink und gut er schrieb, kommandierte man ihn dazu ab, Flugblätter zu verfassen — Presseerklärungen und eilige Bulletins ans Justizministerium. Es waren verrückte Tage. Er schrieb und schrieb und schrieb, von früh bis spät. Er führte Tagebuch und fand sogar noch Zeit für Gedichte. Nach vierunddreißig Tagen Demos und Tausenden von Verhaftungen flog Talbot mit dem Manuskript seines ersten Gedichtbands zurück nach New York.

Jedermann dachte, man würde Talbot beim großen Marsch um eine Rede bitten. Er schrieb eigens ein Gedicht dafür und übte es insgeheim tagelang ein. Bei der Aussicht auf ein Publikum von einigen Hunderttausend jedoch ist das Gerangel ums Mikrofon groß und so war kein Platz für Talbots Gedicht. Talbot tat es lachend ab, aber seine Freunde regten sich auf. Als Talbot nun von der Rednertribüne zurückkam, sprach er von Zensur. Je größer die Menge, desto größer die Einflussnahme auf den Text. Mit Empörung hatte er gesehen, wie einer der Redner hinter der Bühne auf einer Reiseschreibmaschine seine Ansprache hatte umschreiben müssen. Der Mann hatte beabsichtigt, die Regierung Kennedy zu kritisieren, die im Süden rassistische Bundesrichter ernannt hatte. Außerdem hatte er Kennedys Vorlage zur Bürgerrechtsgesetzgebung angegriffen — sie sei zu lasch und komme zu spät.

Präsident Kennedy hatte am 11. Juni in einer Fernsehansprache über die Bürgerrechte gesprochen. Tags darauf hatte man in Jackson, Mississippi, Medgar Evers, einen Offiziellen der NAACP, ermordet. Am 19. Juni hatte Kennedy die Gesetzesvorlage dem Kongress vorgelegt. Die Kennedy-Brüder waren erst gegen den Großen Marsch gewesen; sie hatten befürchtet, dass er der Vorlage schaden könnte. Eine Gruppe von Organisatoren des Marsches hatte sich im Weißen Haus eingefunden und sie beruhigt. Man einigte sich darauf, den Marsch als »kreatives Lobbying« zu betrachten, er würde der Regierung allzu harte Kritik ersparen, und so hatte Kennedy sich denn bereit erklärt, sich dahinter zu stellen.

»Alles Bullshit. Liberales Gefasel«, schimpfte Talbot. »Ich habe einen Durchschlag. Sie wollten nicht, dass er die Wahrheit sagt — nämlich dass Kennedy im Süden tatsächlich rassistische Bundesrichter ernannt hat. Und dass die Bürgerrechtsvorlage nun mal zu lasch ist und zu spät dran. Sie ist ein Teller trockenes, bröseliges, unfertiges liberales Gebäck — und der Teller hat einen Sprung.«

So um die Zeit hatte die Demo einen Durchhänger wegen einiger langweiliger Reden, und so verteilte Sam seine Zeitschrift, spazierte um den Friedensbaum und drehte dabei Drei-Minuten-Rollen 16-mm-Film mit seiner Bell & Howell. Als Mahalia Jackson »I’ve been ’buked and I’ve been scorned« zu singen begann, kam Talbot herüber zu Sam. »Als Nächster kommt King.«

Sam hatte Martin King nie sprechen hören. Er war bereit, ihn höhnisch abzutun, da er die Art Predigerkamellen erwartete, die er auf anderen Bürgerrechtsmärschen in zahllosen Kirchen des Südens gehört hatte.

Er hatte die menschliche Stimme nie für ein Machtinstrument gehalten, aber er hatte auch noch nie eine Rede wie diese gehört. Es war Blakes »Stimme des Barden, die Vergangenheit und Gegenwart sieht«. Sie sorgte an jenem Tag für eine wunderbare Einigkeit unter der Menge. Hoch über den Lautsprechern war die mächtige Statue des sitzenden Lincoln zu sehen. Sam spürte ein Kribbeln auf der Haut, ein Prickeln, die Härchen stellten sich auf.

King war noch nicht einmal bei der Hälfte seiner Rede angelangt, da standen Sam und seine Freunde im Halbkreis unter dem Friedensbaum und hielten einander an den Händen — Sam, Rebecca Levy, Cynthia Pruitt, John Barrett, Louise Adams, Claudia Pred, Talbot der Große, Nelson Saite und Kameraden vom Living Theatre, dem Committee for a Non-Violent World und dem Catholic Worker.

Sam sah sich um und wünschte sich, jede einzelne Hand in dieser Menge aus allen Winkeln der Vereinigten Staaten halten zu können. Dann entdeckte er eine Gruppe von Männern, die zwischen den Demonstranten herumhuschte. Hier und da blieben sie kurz stehen, beugten sich über Leute, die sich gesetzt hatten, und machten dann eine merkwürdig ruckartige Geste in Richtung ihrer eigenen Nase. Was war da los? Die Gruppe kam näher, und Sam sah die weißen Ringe ihrer Armbinden und die schwarzen Hakenkreuze darauf.

Sie kamen am Friedensbaum vorbei. Einer der Nazis gab leise Laute von sich, so als spucke er aus, und beschimpfte sie flüsternd. Mit zwei zusammengelegten Fingern machte er vor manchen Menschen, die er offenbar für Juden hielt, ein lange Nase. Aber alle lauschten King, und niemand wollte sich ablenken lassen.

Sam war wütend. Er konnte nicht tatenlos zusehen, wie diese teuflischen Ofenschergen alles verunglimpften, was ihm lieb und teuer war. Jemand musste ihnen die Stirn bieten. Er schulterte die Kamera in genau dem Augenblick, als King sagte: »Juden und Christen, Protestanten und Katholiken werden fähig sein, einander die Hände zu reichen und die Worte des alten Negerspirituals zu singen. Endlich frei! Endlich frei! Dank sei Gott, dem Allmächtigen, wir sind endlich frei!«

King war fertig; das Tosen einer meilenweiten Muschelschale hob an, und die Ofenschergen huschten davon. Talbot und Nelson eilten einem der Grüppchen nach, Sam einem anderen.

Sam musste an Ezra Pound denken, als er hinter den Heizern des Teufels hertrabte. Pound, der ihm geholfen hatte, Dichter zu werden. Pound, auf den er sich einst verlassen hatte, wann immer Kraft und Ideen für die kreative Revolte angesagt waren. Pound, der ihn in der Kongressbibliothek im Stich gelassen hatte.

»Ich habe was sehr Wichtiges von dir gelernt, Ez«, sagte Sam vor sich hin und blieb dann stehen, um eine der Hakenkreuzbinden zu filmen.

Er schrie auf eine Art auf die Nazis ein, die nicht gerade im Geiste von Gandhis Gewaltlosigkeit war: »He, ihr Drecksnazis! Wisst ihr eigentlich, was für Kroppzeug ihr seid? Kommt her, ich hab hier was für euch, ihr Kotzbrocken, ihr dreckigen!«

Das schien zu genügen, um sie zum Umdrehen zu bewegen; sie kamen auf Sam zu, und seine Kamera bannte alles auf Zelluloid.

»Tod allem Nazigesocks!«

Das brachte die Stiefel ins Spiel. Sam rollte sich auf der Erde herum, um Bauch und Kamera zu schützen. Dummerweise exponierte er dabei die Nieren, und einer der Ofenschergen erwischte ihn.

Ein anderer hob den Stiefel, um ihm die Rippen einzutreten, also rappelte Sam sich wieder auf. Zu dem Zeitpunkt war die Parkpolizei eingetroffen, und die Ofenschergen suchten eilig das Weite. Einige wurden geschnappt.

Sam schrie hinter ihnen her. Er versuchte sich an die alte Quäkerweisheit zu erinnern, nach der der »Geist der Versöhnung etwas Überwältigendes« ist oder so ähnlich, aber so sehr ein Teil von ihm die Armbinden zu transformieren versuchte, der Rest hätte am liebsten das Messer gezückt. Die Sentenz fiel ihm einfach nicht ein.

Er sah sich von seinen Freunden getrennt, als er den Polizisten folgte, die die Nazis abführten. »Nazikotzbrocken! Nazigesocks!«

Er hielt nicht genügend Abstand. Die Polizisten verwarnten ihn; einer der Ofenschergen stürzte sich auf die Kamera, und dann nahm man auch noch Sam fest. Seine Freundin Cynthia Pruitt hatte ihn im Auge behalten, und sie erlaubten ihm, ihr Kamera und Tasche zu geben, wofür er mächtig dankbar war; nur ungern hätte er die nagelneue Ausgabe von Dope, Fucking and Social Change in den Akten des FBI landen gesehen.

Dem verhafteten und unter die Nazis gefallenen Sam schien Cynthia wie eine Vision aus dem Paradies. Sie war barfuß, die ausgefransten Säume ihrer Jeans hingen ins lange Gras; die Bluse hatte sie zu einem BH hochgeknüpft, wegen der Hitze; eine Feldflasche hing von einer der Schlaufen an ihren Jeans. Das Haar war sicherheitshalber mit einem Halstuch zusammengerafft, der provisorischen Gasmaske jener Zeit. Für einen Moment trafen sich ihre wilden Blicke. Nie würde er ihr Lächeln vergessen, die abgesprungene linke Ecke ihres linken Schneidezahns, den richten zu lassen ihr die Knete fehlte. Sie bückte sich, und Sam sah ihre hübschen Nippel aufblitzen, als sie seinen hellgrünen Feldhut aufhob, der auf der Erde gelandet war. Sie setzte ihn auf, und der rotweiße AHIMSA-Button hatte offensichtlich eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Sam stellte sich tot, und zwei Bullen trugen ihn fort. Er ließ den Kopf nach hinten hängen und sah sich schlagartig mit einem verkehrten Blick auf das Washington-Monument konfrontiert. Der weißgraue Obelisk nahm sich aus wie ein hyperrealistisches Gemälde: Die beiden Außenkanten bildeten eine titanweiße Doppellinie, die an der Spitze vor dem milchigen Blau des Himmels zusammenlief — lange, dünne Striche, die mit dem Streichmesser aufgetragen waren.

Während man ihn davontrug, konzentrierte er sich auf zwei dunkle Aussichtsfenster an der Spitze des Monuments, die für eine erschreckende Sekunde wie die Augen in einer himmelhohen Klanskutte aussahen.

Noch Jahre später konnte er sich lebhaft an die bestürzende Vision der riesigen Klanskutte erinnern, und mit dem zeitlichen Abstand sah er, dass es tatsächlich so etwas wie eine ungeheure Klanskutte gewesen war, was da im Amerika des Jahres 1963 das schöne Wetter zu verdüstern versuchte.

 

Zusammengeknüllt wurde Sam Thomas in die Wanne geworfen. Bevor die Tür zuschlug, hatte er gleich noch eine bestürzende Vision: Er sah das Gesicht des Geheimpolizisten J. Edgar Hoover über sich schweben, das — wie ein toter Karpfen an der Mündung einer Kloake — über den Himmel gepflastert war. Eine Zeit schieren Irrsinns würde Amerika in große Gefahr bringen. Er hörte das statische Knistern in Gehirnen, die des Wahnsinns Beute geworden waren, und sah ganze Dörfer unter Tieffliegern in Flammen aufgehen.