Tales of Beatnik Glory, Band I (Deutsche Edition)

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DIE DICHTERLESUNG

Cluthberts Schwester Agatha war nun schon zum fünften Mal an diesem Tag dabei, ihn mit ihrer seichten Art am Telefon zu nerven. Warum konnte sie ihn bloß nicht in Ruhe lassen? »Hör mal zu, Agatha, das werde ich nie im Leben gutheißen, dass du das Haus verkaufst. Mein letztes Wort.«

Cuthbert hauste im Colburne Hotel am Washington Place, nicht weit vom Washington Square, in einer düsteren Bude, in der etwa vierzig bis fünfzig verhutzelte Apfelsinenschalen herumlagen. »Also diese Apfelsinenschalen weißt du, die werden noch die Schlangen anziehen«, hatte ihn seine Schwester gewarnt.

»Hier, mitten in Greenwich Village?«

»Man kann nie wissen! Ich wette, dass die in deiner Nachbarschaft mindestens eine Schlange als Haustier haben, unter all den schrägen Vögeln, die sich da so einnisten.«

Cuthbert hatte weißes, schimmerndes Haar. Seine Augenlider waren meist rosig, ebenso seine Wangen, die sich als ziemlich regelmäßige rosige Ovale abzeichneten. Immer wenn er Gedichte las, schob sich seine Oberlippe nach vorn und in die Höhe. Er war einundsechzig. Und seit vierzig Jahren schrieb er jetzt schon in aller Gemütsruhe seine Gedichte. Das Hotelzimmer war von oben bis unten vollgestopft mit Erinnerungen ans literarische Leben des Village seit den zwanziger Jahren.

»Also, Agatha, ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss in ein paar Minuten los zu einer Dichterlesung im Gaslight Café

»Willst du da etwa auch lesen?«

»Ja. Die anderen werden wohl alle gut 45 Jahre jünger sein als ich — es ist eine offene Lesung, verstehst du? — das wird also auf jeden Fall ein denkwürdiger Abend, entweder ein totaler Reinfall oder wahnsinnig aufregend. Und noch was — lass mich doch bitte mal für ein paar Tage in Frieden, okay?«

Cuthbert stand nackt in der Mitte des Zimmers, kaute auf einer Gurke herum und überlegte, welchen Stapel er gestern angehabt hatte. Der Poet hatte nämlich eine Kleiderordnung entwickelt, bei der er alles weggeworfen hatte bis auf sieben komplette Kombinationen, die er im Abstand von etwa einem Meter stapelweise übers Zimmer verteilt hatte. Um die Klamotten des jeweiligen Tages herauszufinden, brauchte er bloß das Bündel vom vorangegangenen Tag suchen, seine Augen entgegen dem Uhrzeigersinn einen Kleiderstapel weiterwandern zu lassen und in dieses Bündel zu steigen. Auf diese Weise entdeckte er, dass er bloß noch alle neunundvierzig Tage große Wäsche machen musste.

Das Gaslight war zum Bersten voll. Ein paar Zeitungsfritzen drückten die Leute aus dem Weg, um bessere Photos schießen zu können. Jemand fragte die Frau, die vorn die Eintrittskarten zu einem Dollar das Stück verkaufte, flüsternd: »Ist Ginsberg auch dabei?« Cuthbert schätzte die Beats zwar nicht besonders, zollte aber der Aufmerksamkeit, die von Ginsberg, Burroughs, Corso, Kerouac und Konsorten auf die moderne Dichtung und ihre Schöpfer gelenkt wurde, höchsten Respekt, ganz egal wie sie ausfiel, ablehnend, wohlwollend oder sonst wie. Das Beatfieber der Studenten griff um sich. Für Dichterlesungen waren von heute auf morgen nur noch Stehplätze zu kriegen. Die New York Daily News hatte die Lesung von letzter Woche in ihrem Mittelteil gebracht. In New York ansässige Magazine hatten mehrere Stories über die Beats veröffentlicht, die allerdings von Zynismus und Verachtung nur so trieften; allen voran eine mit dem Titel »Zen Hur«, die kürzlich in der Times erschienen war. Der ganze Mist, der von diesen abgetakelten Sprachrohren der Mittelklasse verzapft wurde, trug dazu bei, die Bewegung noch weiter aufzuplustern. Cuthbert war fest davon überzeugt, dass einer, der sich mit den ausgeblasenen Eierköpfen des Time Mag anlegt, in jedem Fall auf der richtigen Seite steht. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er bei der Lost Generation von Paris schon mal eine Chance verpasst, und nun hegte er keineswegs die Absicht, sich eine neue erfolgreiche Literatengeneration durch die Lappen gehen zu lassen — besonders wenn es sich um ein Phänomen handelte, das so unaufhaltsam und interessant zu sein schien wie dieses hier. Also beschloss er, einzusteigen und am selben Strang zu ziehen wie die Beats. Was hatte er schon zu verlieren?

Das Ereignis war als offene Lesung für Beat-Poeten angekündigt; es stellte sich aber sehr schnell heraus, dass von den echten Beats gar keiner auftauchen würde. Dafür erschienen aber schätzungsweise vierzig andere Poeten, und neunzehn davon trugen sich drüben am heiligen Listentisch zum Lesen ein. Eine Frau regte sich über das Fünfzigcentminimum auf. »Wir sollten wenigstens ’nen Kaffee dafür kriegen, dass wir den ganzen Weg machen, bloß um hier zu lesen!«, zeterte sie.

Aber der Manager war auch nicht auf den Mund gefallen: »Genauso gut kann man sagen, ihr seid uns was schuldig, weil ihr hier lesen dürft!«

Die Dichter wurden gebeten, sich auf jeweils drei Gedichte oder höchstens fünf Minuten zu beschränken, aber die meisten machten locker mindestens sieben Minuten draus, ehe die nervösen anderen Dichter im Publikum vor lauter Wut finster vor sich hinstarrten und unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten. Der Besitzer des Cafés kam nach vorne und kündigte an, dass jeglicher Applaus zu unterlassen sei, weil sich sonst die Nachbarn über den Lärm beschwerten. Zusammen mit der Polizei hatte man sich darauf geeinigt, das Händeklatschen durch Fingerschnippen zu ersetzen. Die Dame am Listentisch beugte sich tief über ihren Stenoblock und notierte die Namen der Dichter der Reihe nach in einer Liste, die zumindest offiziell demokratisch war: Der Erste, der sich eintrug, war auch zuerst mit Lesen dran. Aber der Mann, der vor Cuthbert stand, forderte mit herrischer Stimme: »Setzen Sie mich bitte an den Anfang vom ersten Set« — er trug ein pelzbesetztes Cape und hielt einen silberbeschlagenen Spazierstock in der Hand, — »... ich habe nämlich vor, ein kurzes Versstück mit dem Titel Theseus und die Zeitmaschine zu rezitieren und brauche einen besonders günstigen Zeitpunkt für den Vortrag, denn schließlich ...«, hier senkte er den Kopf und knallte die Hacken seiner mit Spucke gewienerten Reitstiefel zusammen, »ist es das Werk eines Genies!«

Cuthbert war für den zweiten Auftritt des dritten Sets vorgesehen; also würden seine Ohren erst mal eine ganze Weile von den Versblizzards seiner Vorgänger strapaziert werden, was er auch keineswegs bereute, ganz im Gegenteil, er liebte es gradezu, anderen Dichtern zu lauschen. Andererseits wollte er mit seinem Platz auch nicht gelinkt werden und schielte während der ganzen Lesung ständig mit einem Auge rüber zum Listentisch, immer auf der Hut vor faulen Tricks. Tatsächlich kriegte er auch ein oder zwei Mal mit, wie einer auf den Tisch zuschlenderte, sich runterbeugte, womöglich charmant lächelte und der Dame was ins Ohr flüsterte – und siehe da! Sie strich doch wirklich mal hier einen Namen aus und setzte dort einen ändern ein! Cuthbert scherte sich nicht drum, was mit den anderen war, solange es im Set Drei, Platz Zwei bei »Cuthbert Mayerson« blieb.

Das Fingerschnipsen war irgendwie auch nicht ganz das Richtige, um den immensen Applausbedarf einiger Dichter zu decken. Nur ganz wenige schafften es, das Publikum so zu begeistern, dass es sich zu einer kurzen Brise von Schnipsern hinreißen ließ, wenn sie mit Lesen fertig waren — aber das klang dann auch höchstens wie das Knistern von dürrem Gestrüpp. Und nach einem Dichter, auf den die Zuschauer nicht so abfuhren oder den sie nicht verstanden (beispielsweise wenn er keinen Humor hatte), waren bestenfalls vier oder fünf armselige Schnipser fällig und dann kam ein langes Schweigen, das sich nur zögernd aufzulösen schien. Peinlich war es, wenn das Fingerschnipsen schon vorbei war, ehe der Dichter sich auf den Weg zurück an seinen Tisch gemacht hatte, und davor fürchtete sich Cuthbert ganz besonders. Böse Vorahnungen schossen ihm durch den Kopf: »Wenn mein Vorgänger bloß fünf Schnipser kriegt, mit wie viel kann ich dann wohl rechnen — drei?«

Cuthbert bemerkte im Publikum mehrere Dichter, die wie wild schrieben, solange einer auf der Bühne rezitierte, und nur dann eine Pause einlegten, wenn die anspornende Stimme dort oben aufhörte, grad so, als ob dieser Wortschwall ihren eigenen geschwätzigen Griffel erst so richtig in Fahrt brachte. Andere wappneten sich mit einer Jubelgarde von guten Freunden, die sich fürsorglich an ihren Tischen versammelten; und wenn einer auf die Bühne losmarschierte, um seine Verse aufzusagen, drehte die gesamte Tischrunde ihre Stühle so, dass sie ihn genau vor sich hatte, grinste anerkennend, lachte zustimmend und schnipste am Ende rhythmisch und besonders ausdauernd mit den Fingern.

Set 1, Platz A: der Schreihals. Er brachte das Ganze so richtig in Schwung. Carl Rothstein, frisch aus der Klapse entlassen, mit langem Pferdegesicht und Nickelbrille, das Haar glatt nach hinten gestriegelt, was ihm den richtigen Aldous-Huxley-Look verschaffte, deutete auf seine Elektroschocknarben und begann mit tiefer Stimme (die übrigens bei der offensichtlichen Jugend des Poeten etwas fehl am Platz schien): »Der gefräßige Verdauungsapparat von der Psychiatrischen Klinik in Shreveport hat mich erst vor Kurzem wieder ausgefurzt.« Dann riss er sich das Hemd vom Leib, dass die Knöpfe nur so zur Erde sprangen, und zeigte sein T-Shirt herum, auf das er mit krakeligen Buchstaben ICH WAR BUDDHA gemalt hatte. Schließlich fing er an:

Meine Mutter schenkte mir

einen Schlitten und sagte:

»Dort ist der Hügel.«

»Was für ein Hügel?«, erwiderte ich.

»Meinst du den Berg da drüben

mit den Abhängen und Schluchten?«

 

»Mach, dass du den Hügel runterkommst,

mein Sohn«, sprach sie und

verpasste mir einen raschen

fast möchte ich sagen rauen Schubs

mit ihrem Stiefel.

Und darauf folgte ein durchdringender Schrei, der offenbar illustrieren sollte, wie er mit dem Schlitten in die Tiefe stürzte, und der inklusive Atemholen mindestens fünf Minuten lang dauerte. Mann, konnte der schreien.

Als ihm endlich die Puste ausging und er wieder auf seinen Tisch zusteuerte, war das Publikum wie gelähmt; lumpige vier Fingerschnipser gaben dem allgemeinen Missfallen Ausdruck.

Unter den Zuhörern war auch ein Jazz-Fingerschnipper mit Baskenmütze, Oberlin-Sweatshirt, Sonnenbrille und einem schwarzen Seidenschal, den er im Nacken zusammengeknotet hatte. Etwa in der Mitte des Schreis hatte er angefangen, mit geschlossenen Augen verrückte abstrakte Rhythmen zu schnipsen, dazu wackelte er mit dem Kopf und wiegte den Oberkörper hin und her, seine Handgelenke zitterten, wie die eines Marakaspielers, und er flüsterte vor sich hin: »Hör dir das an!« und »Uuuuunglaublich!« — »Stark!« — »Leben!« — »Dhammapada, Mann.«

Nach dem Geschrei zog Jazz-Fingerschnipper eine Flasche Wein raus. An seinem Tisch saßen noch ein Mann und eine Frau mit zwei Kindern, offensichtlich eine Touristenfamilie. Er nahm einen Zug und gab die Flasche weiter an den Jüngsten der Familie. Der zögerte, schielte nach seinem Vater, zuckte die Achseln, nahm einen Schluck, bot sie seinem Vater und seiner Mutter an, die beide kein Wort rausbrachten, und gab sie dann zurück an Fingerschnippper. Die Mutter des Kleinen sah aus wie ein akuter Fall von Tollwut, das Weiße in ihren Augen flackerte auf und der Mund sackte ihr runter, als sie ihrem Sprössling mit der Faust drohte und zischte: »Wart nur, dafür sprechen wir uns noch!«

Set 1, Platz B: So wie er angezogen war, dunkler Anzug mit makellos geknüpfter, blauweiß getupfter Fliege, sah dieser Spezi aus, als könne er kein Wässerchen trüben; aber dann legte er los, in den zitternden Händen zerknautschte weiße Blätter, die er nervös umklammerte. »Das hier hat den Titel Nocturne Nummer 467« — lange Pause, dann ein tiefer pfeifender Atemzug:

Einsam in den Klöstern uns’ rer Sinne

steigen wir aus unsern Hosen

und wackeln mit den Ärschen ...

Ein frivoles Kichern unterbrach die Stille. Die Frau aus Des Moines packte ihren Mann, Sohn und ihre Tochter und zerrte sie mit sich: »Nichts wie raus hier, das ist ja Schweinerei!«

... während gelbe Erdferkel aus Jersey City

eindringen in die weiße

Unterwäsche des Schicksals

Noch ein Kichern. Und der Dichter fuhr fort. Der Vater schmiss seinen metallbeschlagenen Eisdielenhocker um. Der Anblick der flüchtenden Familie regte den Dichter so auf, dass er anfing zu stottern. Aber er riss sich zusammen und steckte sich erst mal eine Zigarette an, mitten im Gedicht. Nach dem metallischen Klick-Klack seines Zippo-Feuerzeugs folgte noch die flammende Rezitation von zwei religiösen Sonetten, und dann setzte er sich wieder hin.

Set 1, Platz C: Dieser Leser hatte das Publikum sofort auf seiner Seite, denn er war der erste offensichtlich echte Beatpoet. Die Armut stand ihm ins Gesicht geschrieben, ebenso sein Zen-Fanatismus und die verheerenden Auswirkungen von jahrelangen Tramp-Touren. Er bestand darauf, beim Lesen auf einen Stuhl zu steigen und knallte dabei mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, blieb aber trotzdem da oben. Allerdings musste er den Kopf zur Seite biegen, um überhaupt unter die Decke zu passen. Seine Sandalen waren selbstgemacht; sie bestanden aus Stricken und Sohlen, die er sich aus einer alten Ledertasche zurechtgepfriemelt hatte. Er war echt komisch, zumindest war jeder im überfüllten Gaslight Café davon überzeugt. Zu diesem Zeitpunkt, als die Lesung grad erst in Gang kam, standen die Leute auf der McDougal zwanzig Meter Schlange und brannten drauf, reinzukommen. Natürlich rückten die Bullen an, und der Manager vom Gaslight machte bekannt, dass es verboten sei, Ausgangstüren und Mittelgänge zu blockieren und dass die Bullen schon mit der Feuerwehr gedroht hätten. Die Zuschauer wurden gezwungen, sich längs der Wandseiten hinzuhocken oder auf die Treppenstufen, die zu den Toiletten raufführten, weil alle Tische restlos überbesetzt waren. Er schmuggelte alle Fünf- und Zehn-Dollarscheine aus der Kasse sicher in seine Hosentasche, wo er schon ein dickes Geldbündel untergebracht hatte, und dachte nur noch: »Mensch, was für Kohle!«, während er gleichzeitig seine Kellnerin durch die Gegend hetzte und mit Sprüchen wie »Verkaufen! Verkaufen!«, »Lehn dich übern Tisch« oder »Knöpf dir die Bluse auf, betatsch die Kunden, mach, was du willst, aber verkauf!« anspornte.

»Dieses Gedicht heißt: Zehntausend Statuen von Walt Whitman auf Rollschuhen trampen durch Amerika.« Schon die Überschrift erntete das wildeste Gelächter des ganzen Abends. Seine Art zu lesen war ein klagender, monotoner Singsang, jedes Mal am Ende der Zeile sackte die Stimme ab wie bei einem vorbeirauschenden Laster.

Amerika! Wir kommen nicht ran an die Walnuss!

Amerika! Roboter mit Schuhen aus lebendiger Schlangenhaut klettern

von den TV-Tellern und machen sich über deine Zähne her!

Amerika! Du willst eine Kloake aus mir machen!

Ein neuer Spartakus wird aus dem mutierenden Abfallhaufen

in der Mum Deodorant Factory auferstehen, und dann

bist du erledigt, Amerika

(Erstes Lachen)

Amerika! Deine Hausierer von der Madison Avenue mit ihren eisgekühlten Achselhöhlen ...

(Gelächter übertönte den Rest der Zeile so, dass Cuthbert ihn nicht verstehen konnte.)

Amerika! Deine Hulareifen formieren sich zu einer Mandorla über der Final Sausage Factory!

Amerika! Porky Pig und Donald Duck haben den Bauch voller kaputter Glühbirnen, Amerika

Amerika! Die Atombombe will uns eine Gutenachtgeschichte erzählen

(Lautes Gelächter)

Fuck Fuck Fuck,

Amerika

(Schallendes Gelächter)

Bei jedem Lacher machte der Dichter gewissenhaft eine Pause. Manchmal ließ er sich auch anstecken und lachte mit. Ehe er weitermachte, wartete er jedes Mal, bis nicht nur alles Lachen verebbt, sondern auch das Grinsen von den Gesichtern verschwunden war. Er war ein voller Erfolg, und das anschließende Fingerschnippen klang wie ein prasselndes Freudenfeuer.

Set 1, Platz D: Der scheue Murmler. Der Mann las im Flüsterton und die Zuschauer wurden allmählich mäuschenstill: Es erinnerte fast an eine Art Gruppenspiel, wie sie sich da alle über ihre Tische lehnten und die Ohren auf maximalen Empfang einstellten. Trotzdem war es unmöglich, irgendwas zu verstehen; der Dichter hockte da oben auf seinem Stuhl und hatte sich fast ganz vom Publikum weggedreht. »Lauter«, schrie ein Rohling von hinten; der Erfolg war, dass die Stimme kurzfristig anstieg und dann langsam wieder absackte. Die Gedichte waren die reinsten Papyrusfragmente.

........ Liebe ........

Schraubenschlüssel ...

......... leb wohl ...

................ Salbe!

Nicht schlecht für die, die beim Zuhören ihre eigenen Gedichte verfassten, die Zeilen des Flüsternden wirkten wie fantastische Inspirationen, und seine Worte, nur halb verstanden, verwandelten sich in ihren Köpfen auf wundersame Weise. Hieß es: »Unter dem späten Vollmond?« oder: »Nigger, der in der Lagune wohnt?« oder gar: »Mit geschnorrten Tortillas belohnt?«

Set 1, Platz E: Die böse Hexe. Diese Dichterin las mit schneidender, manchmal gradezu schriller Stimme, die sich schon gegen Ende ihres ersten Gedichts um circa eine halbe Oktave nach oben verschoben hatte. Außerdem war ihr vor lauter Zittern die Brille von der Nase gerutscht. »Dieses Gedicht ist meinem Gatten Roger gewidmet, der mittlerweile zu Asche und Staub zerfallen ist: ›Leidender Barde in der einsamen Höhle‹«. Es fing an mit der Beschreibung von einem siedenden Kessel, in dem Tapiraugen schwammen, und der Klage, dass selbst »die Zauberin« aus der Höhle des Sängers verbannt worden sei. Im nächsten Vierzeiler behauptete sie, dass sich unter dem Washington Square Park Katakomben befänden, wo die »verbündeten Sänger« vom Washington Square North sich regelmäßig versammelten. Um seinen »ruhelosen Geist« zu erlösen, hatte sie (— hoffentlich war das nur symbolisch gemeint —) die Zähne ihres Roger in der Höhle des Sängers begraben, deren Zugang ein verstecktes Tor am Fuß des Washington Arch ist, das von einem silbernen Pavian und sechs Eulen bewacht wird.

Dieses Gedicht heizte den Jazz-Fingerschnipper so ein, dass er vor lauter Begeisterung anfing, mit einem Kaffeelöffel auf die Tischplatte zu hämmern. Die Dichterin erwähnte auch »die Fülle der göttlichen Kraft« des Gnostizismus, der zufolge »Besenstiele zu Zahnstochern« werden und »Schnapp! Schnapp! murmelnde bleiche Gespenster« aus den Zähnen sprießen sollten. Bei diesen Zeilen schauderte Cuthbert zusammen und wickelte sich seinen Schal fester um den Hals. Er rief sich den alten Ekel und Widerwillen vor Augen, den er jedes Mal empfand, wenn er sich vorstellte, dass es tatsächlich Vampire geben könne; ein Umstand, der ihn schon so manchen Morgen mit steifem Hals hatte aufwachen lassen, weil er sich während der Nacht vorsichtshalber ein Handtuch um den Kopf gewickelt hatte. Cuthbert fiel ein Stein vom Herzen, als die beiden folgenden Gedichte bloß Übersetzungen aus Ovid waren. »Dem Himmel sei Dank für Ovid!«, murmelte er vor sich hin.

Set 1, Platz F: ein Dichterling, der sich aufs Experimentieren spezialisiert hatte und fröhlich erzählte, dass er für diese Augustlesung extra aus Toronto eingeflogen war. Sein erstes Gedicht hieß Neunundsechzig Tropfen. Beim Auftritt schwenkte er einen einzelnen Tennissocken, mit Erbsensuppe gefüllt, an dem er einen Cocktailstrohhalm befestigt hatte, sodass die Suppe langsam aus dem Socken durch den Strohhalm in eine Teetasse tröpfeln konnte. Immer wenn ein Tropfen runterklatschte, rief der Dichter: »Tropfen eins!«, »Tropfen zwei!« usw., bis er bei 69 angekommen war.

Das nächste und letzte Gedicht nannte er Zwei mal Zwei Unendlichkeit. Langsam kam er in die Gänge: »Zwei ... vier ... acht ... sechzehn ... zweiunddreißig ...« — wobei die Pausen zwischen den einzelnen Ziffern variierten. Er schaffte es bis 2.097.152, ehe der Manager ihn von der Bühne schleifte. Das war das Ende des ersten Sets.

Die anschließende Pause brachte einen reißenden Absatz von Tee, lauwarmem Kaffee, der mit fragwürdiger Sahne gekrönt war, und Apfelwein mit Stangenzimt. Und Cuthbert Mayerson kriegte es immer mehr mit der Angst.

Der zweite Set zog sich in die Länge. Jeder schien unheimlich geil drauf zu sein, seine eigene Version von der Babylonischen Schöpfungsgeschichte in elegische Zweizeiler zu übertragen. Cuthbert wurde immer nervöser und schenkte den Sprachexplosionen um sich herum nur noch wenig Aufmerksamkeit. Stattdessen konzentrierte er sich auf die ungeheuer wichtige endgültige Auswahl und Anordnung seines Materials.

Cuthbert starrte angestrengt auf seine Gedichte. Plötzlich stolperte er über mindestens vier Zeilen, die unbedingt sofort geändert werden mussten. »Langsam, langsam ...«, ermahnte er sich; er durfte natürlich nicht etwa riskieren, auf der Bühne sein eigenes Zeug nicht entziffern zu können. Als Nächstes veränderte er die Reihenfolge der Gedichte, denn um jeden Preis wollte er die perfekte Show abziehen.

Aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. »Jahrelang hab ich nicht mehr gelesen, jahrelang! Bin ich etwa am Schwitzen? Sind meine Augen rot? Wieso hört der Kerl da oben nicht endlich auf?

Vielleicht sollte ich doch lieber was von Shelley rezitieren, das kann ich wenigstens auswendig. Außerdem hab ich sowieso die falschen Klamotten an.«

Manchmal riss einer der Lesenden ihn aus seinen trüben Gedanken. Ein Mann, der einen Süßigkeitenladen in der Bronx hatte, intonierte sein Image Trouve Manifesto. Es war auf gewissen poetischen Grundregeln aufgebaut, die er sich angeeignet hatte, während er jeden Mittag kurz vor der Klauinvasion der vorbeikommenden Schulkinder seine Bonbongläser neu auffüllte. Dann war da der Lehrer, dessen Gedicht so anfing: »Karpatische Reiter fechten im rotierenden Dreieck.« Cuthbert hielt das für das Witzigste, was er den ganzen Abend gehört hatte, und fing furchtbar an zu kichern, was die Gefolgsmänner am Tisch des Lehrers mit abfälligen Blicken quittierten. Und dann der Dichter, der ein Werk von mindestens dreihundert Zeilen mit dem Titel Die Philosophie des Thales von Milet vortrug, obwohl Cuthbert genau wusste (und dementsprechend losprustete), dass Thales in seinem Werk nicht eine einzige Zeile hinterlassen hat, aus der man ein derart widerliches und weitschweifiges Gedicht hätte machen können. Dann kam die Reihe an ein paar unterhaltsame Sexfreaks; darunter war einer; der eine Serie von Haikus las, die von seinen Erlebnissen mit Mayonnaise und dem 1959er-Telefonbuch von Bayonne, New Jersey berichteten. Aber all das konnte Cuthbert Mayersons Angst auch nicht verscheuchen und in diesem Augenblick wäre er bereit gewesen, seine Familienvilla zu verwetten, dass man ihn glatt von der Bühne pfeifen würde.

 

In der zweiten Pause ging Cuthbert noch mal rüber und checkte die Liste. Hatte sich etwa zufällig einer vorgedrängelt? Finster starrte er die Dame mit der Liste an, die ihm weismachen wollte, nein, nein, keineswegs, nichts auf der Welt könnte die festgelegte Reihenfolge von Set 3 durcheinanderbringen. Aber grade als sie dabei war; ihre Unschuld zu beteuern, kam ein blasser Poet mit W.B. Yeats / Bill Haley-Frisur vorbeistolziert, warf einen Blick auf die Liste und fing an zu zetern: »He, Sie haben meinen Namen nach unten gesetzt!«

Diesmal saß die Dame in der Patsche. »Oh! Tatsächlich? Ich hab Sie gesucht und konnte Sie nirgends finden — ich dachte, Sie wären vielleicht schon weg. Tut mir echt leid.«

»Was für ’ne erbärmliche Ausrede!«, knurrte der Mann vor sich hin, als er an seinen Tisch zurückstelzte.

In Erwartung des nächsten Sets wurde das Publikum allmählich wieder leise, und als Cuthbert sich umschaute, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Beim ersten Set war das Gaslight noch total überfüllt gewesen, aber innerhalb der vergangenen Stunden hatte sich der Raum etwa zur Hälfte geleert. Und jede Minute drängten mehr in Richtung Ausgang. Und als wenn das alles noch nicht schlimm genug wäre, verließ soeben der erste Rezitator seinen Tisch mit einem ganzen Schwung Papier und schob sich mit mindestens tausend Blättern auf dem Arm rüber zur Bühne.

»Ich komm wohl nie mehr dran!«, rief Cuthbert entsetzt aus.

Der Mann fing an. »Das Material, das ich heute Abend vortragen möchte, ist ein Abschnitt aus meinem Lebenswerk — die Reise des Sonnengottes nach Brooklyn. Es ist ziemlich lang, deshalb beschränke ich mich auf den Höhepunkt, also die letzten sechshundert Zeilen. Sie enthalten zahlreiche in gälischer Sprache abgefasste Sentenzen, die die achtundsiebzig Gebote des Sonnengottes an das Volk von Brooklyn repräsentieren. Diese achtundsiebzig Gebote werde ich dann am Ende des Vortrags übersetzen.«

Schon diese Einleitung bewirkte, dass etwa zehn weitere Gäste auf den Ausgang zustürzten. Ein Schauder lief durch die übrigen Dichter, ihre Mägen krampften sich zusammen, ängstlich und nervös hockten sie da, mit klammen Fingern, die sich um ihre schwarzen Ringbücher spannten.

Der Mann las wie ein Wanderprediger, mit erhobener Faust und donnernder Stimme. Aber nicht mal dieses flammende Schauspiel konnte die Flut von flüchtenden Füßen aufhalten. Cuthbert war gefangen, hilflos, wollte eigentlich nur noch weg und blieb doch an seinen Stuhl gefesselt, bebend in Erwartung seines Auftritts.

Endlich war es soweit: Set 3, Platz B. Cuthbert Mayerson las langsam, die kreisförmigen rosa Flecken auf seinen Wangen waren feuerrot. Seine Oberlippe stülpte sich heute ganz besonders weit nach vorn, als er mit sonorer Stimme seine kurzen, gemäßigten und symbolträchtigen Gedichte der Pädopygophilie zum Besten gab. Das Publikum war beeindruckt und spendete ihm den einzigen richtigen Applaus des ganzen Abends — eine spontane Verletzung der Regeln. Der Manager wetzte zum Eingang und vergewisserte sich, dass auch keine Bullen in der Nähe waren.

Endlich war alles vorbei. Eine Frau machte sich an Cuthbert ran. »Also wirklich, Ihr Gedicht hat mir sehr gefallen!«

»Tatsächlich? Welches meinen Sie denn?« Cuthbert strahlte übers ganze Gesicht.

Die Frau zögerte, ein Backenmuskel zuckte in ihrem Gesicht. »Ahem, das eine da, äh, das über Amerika.«

»Sie meinen das, was ich am Schluss gelesen habe — ›Der barfüßige Nachtfalter‹?«

»Ja, ich glaube, das war’ s. Das, was den vielen Beifall gekriegt hat.«

Cuthbert schlenderte glücklich die McDougal Street rauf zu seinem Hotel, wo er die Gedichte deponierte und beschloss, sich für seine Heldenhaftigkeit zu belohnen. Also marschierte er weiter bis zum Sheridan Square und schnappte sich dort die IRT-uptown, die ihn zu einem erfrischenden Bummel in die zweiundvierzigste Straße kutschierte.