Vielleicht begab es sich aber ...

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BEGAB ES SICH ABER...

Was neben den biblischen Geschichten

noch passiert sein könnte


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865066374

© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelgrafik: Christine Domajnko

Satz: Brendow PrintMedien, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

ANFANG

SCHICKSAL

GEBET

ZWEIFEL

BEWAHRUNG

SCHUTZ

LOBLIED

VERRAT

NÄCHTE

BEGEGNUNG

DANK

STELLVERTRETUNG

RETTUNG

GLOSSAR

ANFANG

Zu 1. Mose 1,1 - 2,4

Der alte Mann sass auf einem einfachen Schemel und war dabei, die letzte seiner vierundzwanzig Ziegen zu melken.

»Onkel!«, wurde er gerufen. Die Stimme kam aus der einfachen Lehmhütte hinter ihm.

»Hier bin ich, Tuka! Hinter dem Haus bei den Ziegen!«

Sein Neffe trat ins Freie, ein stattlicher junger Mann. Er trug einen Beutel in der Hand. Sein Umhang war sauber und mit Stickereien verziert, nicht so schäbig wie der seines Onkels.

»Ich grüße dich im Namen der Götter!«, rief der junge Mann und trat näher.

»Und ich grüße dich im Namen des einen Gottes, des Höchsten.«

»Zu dem du eine besondere Beziehung zu haben scheinst«, nickte der Besucher. »Darum bin ich gekommen.«

»Ich bin mit Melken fertig. Komm, wir gehen ins Haus!«

»Lass uns lieber ans Ufer des Euphrat hinuntergehen und uns dort ins Gras setzen, wenn es dir nichts ausmacht!«

Sie gingen ein paar Schritte und ließen sich am Hang nieder. Die Blicke schweiften über den Fluss, auf dem ein paar Fischer in ihren runden Korbbooten mit ihren Netzen beschäftigt waren. Am gegenüberliegenden Ufer sah man Olivenbäume. Weiter links, flussaufwärts, waren die ersten Häuser der Stadt zu erkennen, darüber die oberen Stufen des großen Tempelturms.

»Du bist gekommen, weil du meinst, ich habe eine besondere Beziehung zu Gott?«, begann der Alte das Gespräch.

»Ja. Du weißt viel von Dingen, die anderen Menschen verborgen sind. Zum Beispiel hast du vom Angriff der Wüstennomaden gewusst, ehe die Späher des Königs die Gefahr gemeldet hatten. Und als meine Mutter, deine Schwester, schwer krank war, hast du deinen Gott angerufen, und sie wurde gesund. Und als …«

»Er ist nicht nur mein Gott. Er ist der Gott aller Menschen, aller Welt.«

»Mag sein, Onkel. Nur sind die meisten Menschen nicht davon überzeugt.«

»Bist du davon überzeugt, Tuka?«

»Nun, zumindest halte ich es für möglich. Und dass du mehr weißt über jenseitige Dinge, ist unbestritten. Keiner, den ich kenne, hat solche Einblicke in eine Welt, die dem normalen Auge verborgen ist, wie du.«

»Und darum kommst du zu mir?«

»Ja. Vielleicht kannst du mir helfen, Onkel. Ich bin ja nur ein untergeordneter Schreiber am Hof des Königs. Darum ist es eine besondere Ehre für mich, dass ich beauftragt bin, die Geschichte des Königshauses aufzuschreiben. Vater, Großvater, Urgroßvater und so weiter. Bis zum Anfang. Und wenn über einen der Vorfahren des Königs etwas Besonderes bekannt ist, zum Beispiel Kriege, Städtegründungen, Gesetze, dann soll das alles vermerkt werden.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Es stärkt den Machtanspruch des Herrschers und vermehrt seinen Ruhm, wenn man nachlesen kann, wie lange seine Familie schon regiert. Und von welch edlem Blut er ist. Vielleicht kann ich sogar herausbekommen, dass der erste dieser Reihe am Beginn schon von den Göttern eingesetzt wurde.«

»Und dazu soll ich dir helfen? Es tut mir leid, Tuka, aber das kann ich nicht. Darüber weiß ich nichts.«

Tuka nickte. »Das habe ich auch nicht angenommen. Aber weißt du, wie die Welt angefangen hat? Es gibt da ja ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die einen sprechen von einer riesigen Schlange, aus der die Erde wurde, andere von einem Adler, der die Erde aus Versehen fallen ließ, und durch die Erschütterung haben sich die Menschen gebildet, wieder andere sagen …«

»Lass es gut sein! Ich kenne diese Legenden.«

»Sie sind alle etwas … nun, seltsam. Außerdem haben sie den Nachteil, dass sie einander widersprechen. Niemand kann zuverlässig und glaubhaft Auskunft geben.«

»Und nun denkst du, ich könnte das?«

»Ja.« Tuka holte eine Tontafel und einen Griffel aus seinem Beutel. »Ich bin sicher, du kannst mir mehr dazu sagen als jeder andere.«

»Dein Vertrauen ehrt mich, mein lieber Neffe, aber steck dein Schreibzeug mal wieder weg! Ich weiß nichts über den Anfang der Welt. Gott hat mir nichts darüber gesagt.«

»Vielleicht … Verzeih, Onkel, ich will nicht aufdringlich sein. Aber vielleicht könntest du deinen Gott – ich meine: unseren Gott – mal fragen?«

»Fragen?«

»Ja. Bitte ihn, dir zu sagen – oder im Traum zu zeigen, oder sonst wie –, was damals geschah. Wie die Welt geworden ist.«

»Ich weiß nicht …« Der Alte wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich Gott um eine Auskunft bitten darf, die keinen Nutzen hat außer dem, die Neugier zu befriedigen. Und Ruhm und Stolz unsres königs zu mehren.«

»Vielleicht mehrt es ja den Ruhm Gottes, wenn bekannt wird, wie er die Welt schuf.«

Der Alte kniff nachdenkend die Augen zu, dann nickte er. »Das mag sein. Vielleicht hast du recht. Ich werde ihn fragen. Wenn Gott mir die Frage nicht beantworten will, muss ich das so hinnehmen. Dann darfst auch du nicht unwillig werden.«

»Ich verspreche es. Kann ich morgen wiederkommen?«

Der Alte nickte.

»Ich danke dir!«, sagte sein Neffe und stand auf. »Die Götter … nein, Gott sei mit dir, Onkel! Ich muss wieder an meine Arbeit.« Er klopfte der schwarzen Ziege, die dicht dabeistand, auf den Hals, dass der Staub kleine Wolken bildete, und ging durch die Hintertür in die Lehmhütte und vorn wieder hinaus.

Lange saß sein Onkel still an seinem Platz und sprach mit seinem Gott. Bis es dunkel wurde, saß er da. Sehr dunkel wurde es, und kalt. Viel kälter, als es sonst abends wird, wenn die Sonne untergegangen ist. So kalt, dass der Alte erstarrte. Mehr noch, der Euphrat erstarrte auch. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein kaltes, weißes Etwas fiel vom Himmel. Jemand hatte ihm einmal erzählt, auf den hohen Bergen, die dem Himmel ganz nahe sind, sei es sehr kalt, und das Wasser würde hart wie Stein. Und der Regen sei weiß und ganz leicht.

Solchen Regen sah er. Immer mehr fiel herunter und bildete allmählich wie im Euphrat steinhartes, durchsichtiges Wasser. Aber je höher es sich aufschichtete, desto weniger Licht ließ es durch.

Schließlich war der Alte ganz eingeschlossen und konnte sich nicht mehr bewegen. Er hatte aber auch gar nicht das Bedürfnis, sich zu bewegen. Er spürte die Kälte nicht. Er spürte nur, dass sein Gott ihm eine Antwort gab. Dass er ihn einen Blick werfen ließ in die alte Zeit. In eine Zeit, die lange, sehr lange, vergangen war.

Der Wasserstein hatte sich so hoch auf das Land gelegt, dass nun gar kein Licht mehr hindurchdrang. Alles darunter war platt gedrückt, nichts rührte sich. Auch der Alte rührte sich nicht, aber er wurde nicht zerdrückt, und daraus schloss er, dass dies alles nicht wirklich geschah, sondern dass ihm etwas gezeigt wurde – als Antwort auf seine Frage.

Lange, lange Zeit war es kalt und dunkel. Er wusste nicht, wie lange. Auf jeden Fall viel länger, als er bisher gelebt hatte. Und merkwürdig lautlos war es.

Dann aber hörte er eine Stimme, gewaltig und gebieterisch. Kurz darauf drang ein erster Lichtschimmer durch den Wasserstein. Die mächtige Schicht über ihm wurde immer dünner. Das hart gewordene Wasser wurde wieder flüssig und floss ab.

 

Die Sonne schien warm und freundlich. Aber da war nichts, was sie bescheinen konnte, nur nackte Erde und Steine.

Der Alte fror, obwohl jetzt die Sonne schien. Er ging ins Haus und legte eine Decke über sich, schlief ein wenig ein, bis die Ziegen ihn durch ihr Meckern weckten, weil sie gemolken werden wollten.

Als sein Neffe kam, fröhlich und aufgekratzt, war er sehr wortkarg. Er sagte nur: »Schreibe, Tuka! Schreibe genau auf, was ich dir sage: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.«

»Wasser?«, fragte Tuka. »Was denn für Wasser?«

»Unterbrich mich nicht! Schreibe nur: Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde hell.

Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da wurde aus Abend und Morgen der erste Tag.«

Tuka schrieb: » … der erste Tag. Fertig. Und? Wenn das der erste Tag war – gibt es noch weitere, über die du mir etwas sagen kannst?«

»Ja. Komm morgen wieder. Vielleicht kann ich dir dann sagen, wie es weiterging.«

Der Alte stieg nicht wirklich auf den Tempelturm, das wäre ihm als Verrat an seinem Gott erschienen, aber er stellte sich vor, er stünde da oben. Das reichte nicht, merkte er, er brauchte einen hohen Berg, um die weiße Erde von oben zu sehen. Wo kam nur das viele Wasser her, das sich da auf allem Land verhärtet hatte? Er sah sich um, und da wusste er es: Es gab keine Meere mehr. Und es gab keine Wolken, die sonst das Wasser über alle Länder tragen und sie von oben her befeuchten. Alles war kalt und trocken.

Aber nun änderte sich etwas. An vielen Stellen war der Wasserstein schon aufgeweicht und abgeflossen. Auch da unten, wo seine Hütte stand, denn es war warm in seiner Heimat, wärmer als anderswo. An anderen Stellen aber war noch nichts vom Erdboden zu sehen.

Wohin floss das Wasser? Nach unten natürlich, wo das Meer war. Aber nicht nur. Es stieg auch auf. Kleine Wölkchen bildeten sich. Sie wuchsen und bedeckten schließlich als graue Decke den ganzen Himmel, sodass die Sonne nicht mehr zu sehen war. Wasser unten und Wasser oben.

Als am nächsten Tag sein Neffe kam, diktierte er ihm langsam, sodass Tuka genug Zeit hatte, die Zeichen in den weichen Ton zu drücken: »Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so. Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.«

Fast unterschied sich das Bild am nächsten Tag nicht von der Nacht, so dicht und schwarz waren die Wolken von Horizont zu Horizont. Immerhin gab es so viel Licht, dass der Alte erkennen konnte, wie überall sich das verhärtete Wasser in Bewegung setzte, auch auf den Bergen und in den kälteren Gegenden der Erde, die nicht so angenehm waren wie seine Heimat am Euphrat. Überall floss das Wasser ab, hinunter an die tief liegenden Stellen, und bildete Meere. Das Land, das erst vor Kälte trocken gewesen und dann beim Schmelzen des Wassers nass geworden war, wurde nun wieder trocken.

Kaum war der graubraune Boden zu sehen, wurde er auch schon grün. Gras und Gebüsch wuchsen empor, ja, sogar Bäume. Sie vermehrten sich, der Pflanzenwuchs breitete sich aus in bunter Vielfalt.

Als der Alte die Augen öffnete, was das Bild verschwunden. Er sah wieder den Euphrat, wie er ihn kannte. An seinem Ufer wuchsen Schilf und Binsen. Überall, wo nicht die Menschen eingegriffen hatten, drangen diese Pflanzen vor. Weiter entfernt vom Ufer wuchs kein Schilf mehr, dafür aber Gras, an dem sich seine Ziegen gütlich taten, dazwischen Blumen mit kleinen gelben, roten oder blauen Blüten. Neben seiner Lehmhütte stand sein Feigenbaum und am anderen Ufer die Olivenbäume. Was für eine Vielfalt von Pflanzen hat Gott da geschaffen! Zum Nutzen der Menschen, aber auch als Mühsal für sie, wie die Dornensträucher, die vom Rand seines Grundstücks immer wieder auf seine Ziegenweide vordrangen, wenn er sie nicht bekämpfte.

An diesem Tag schrieb Tuka auf seine Tafel: »Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass man das Trockene sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag.«

So schön war der Tag, dass der Alte sich fast ein wenig davor fürchtete, wieder in die Zeit zurückversetzt zu werden, in der alles noch anders war, eine Zeit voller gewaltiger Umbrüche, eine dunkle Zeit.

Nicht so finster wie ganz am Anfang, als überhaupt kein Licht zum Erdboden vordrang, aber doch beängstigend unter der dicken schwarzen Wolkendecke. Und nass war es. Denn nun begann es zu regnen. Wie aus Kübeln stürzten die Wassermassen herab, lange, lange Zeit. Wie lange, das wusste der Alte nicht, denn was sonst seine Zeit einteilte und ihr ein Maß gab, Aufgang und Untergang der Sonne, das fehlte in dieser Welt, in die er versetzt war.

Endlich begann der Regen nachzulassen. Und da wurde es auch heller. Hier und da riss die Wolkendecke auf, und ein strahlend blauer Himmel wurde sichtbar. Die Wolken, die noch zu sehen waren, verloren ihre bedrohliche blauschwarze Färbung und wurden weiß. Sie bewegten sich auch und zogen mit dem Wind über das Land. Die Sonne brach durch und erwärmte und erleuchtete die Welt, sodass das Grün der Pflanzen und die vielen Farben der Blüten und Früchte noch viel bunter erstrahlten.

Nun sah der Alte auch wieder, wie die Sonne unterging. Aber auch da wurde es nicht völlig finster, denn der Mond leuchtete, und daneben blinkten unzählige Sterne.

Die Welt hatte nun eine Ordnung und ähnelte schon sehr der Welt, wie der Alte sie kannte.

»Und Gott sprach«, so diktierte er es heute seinem Neffen, »es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheinen Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es geschah so. Und Gott machte zwei große Lichter: Ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch die Sterne. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.«

»Ja, so wird es gewesen sein«, bemerkte Tuka, nachdem er zu Ende geschrieben hatte. »Aber von den Menschen hast du noch nichts gesagt.«

»Ich habe dir gesagt, was Gott mir gezeigt hat.«

»Dann hoffe ich, er zeigt dir auch noch den Rest. Mir fehlt immer noch der Anschluss an den ersten König aus unserem Herrscherhaus.«

»Willst du hören, wie es war, oder willst du hören, was zu deinen Plänen passt?«

»Entschuldige, Onkel, so war es nicht gemeint.«

»Wenn Gott mir noch mehr sagt, erfährst du es.«

»Ich danke dir, Onkel!«

»Nimm dir einen Becher Ziegenmilch, wenn du möchtest!«

»Danke! Oh, da fällt mir ein, ich habe dir etwas mitgebracht.« Er kramte in seinem Beutel, stellte einen Becher auf den Tisch und legte ein kleines Säckchen aus Tuch daneben.

»Honig. Habe ich vorhin auf dem Markt gekauft. Und ein paar geröstete Nüsse.«

»Ich danke dir, Junge. Soll das eine Bezahlung sein für das Wissen, das ich dir weitergebe? Das ist nicht nötig. Gott gibt es mir umsonst, und umsonst gebe ich es weiter.«

»Sieh es so: Du schenkst mir dein Wissen, und ich schenke dir diese Genüsse für den Gaumen.«

»Wie kommst du voran mit deinen Forschungen über die alten Könige?«

»Gestern habe ich mit Leuten gesprochen, die alte Geschichten von ihren Vorfahren überliefert haben. Leider hat man damals nichts aufgeschrieben. Diese Vorfahren waren mit dem Urgroßvater unseres Herrschers auf Schiffen gefahren. Nicht nur auf dem Euphrat, sondern weit hinaus auf das Meer. Sie bauen unten im süden große Schiffe, die vom Wind vorangetrieben werden. Erstaunliche Geschichten haben sie mir erzählt von fremden Ländern mit fremden Völkern, die anders sprechen als wir und sich doch gegenseitig verstehen, und auch anders als die Wüstennomaden. Vom gewaltigen Sturm auf dem Meer haben sie erzählt und von schaurigen Ungeheuern, die das Meer bevölkern. Viele Male waren sie in Lebensgefahr. Ich bin froh, dass ich da nicht hinmuss.«

»Was die Leute so alles erzählen, um sich als Helden darzustellen …«

»Ich muss gehen, Onkel. Wenn es dir recht ist, komme ich morgen wieder vorbei.«

»Tu das!«

Am Abend saß der Alte am Ufer des Euphrat. Einige Steine bildeten einen Weg durch das Schilf, sodass er direkt ans Wasser kam. Hinter ihm im Schilf zwitscherte ein Vogel, anscheinend auf der Suche nach einem geeigneten Nistplatz. Vor ihm im Fluss standen kleine Fische still. Als er die Hand ins Wasser tauchte, schnellten sie davon.

Wie es seine Gewohnheit war, wenn er etwas Schönes sah, dankte er seinem Gott in einem stillen Gebet. Da war es ihm wieder, als säße er nicht hier am Flussufer, sondern als schwebte er über der Welt, wie sie vor langer Zeit war. Er hörte die Stimme des Schöpfers und beobachtete, wie das tote Wasser sich mit Leben füllte: Würmer und Schnecken, Seepferdchen und Seesterne, Krebse und Muscheln, und Fische in allen Größen, Formen und Farben. Und über dem Meer, am Ufer und auch über dem Land entstand Bewegung: Vögel flatterten nervös oder schwebten majestätisch durch die Luft. Das Pfeifen und Zwitschern, das Klappern und Schnattern wurde übertönt von einem Befehl, der laut war und Gehorsam heischend, aber zugleich merkwürdig sanft, als teilte er sich den Wesen gar nicht über die Ohren mit.

»Du wirst noch etwas warten müssen«, sagte der Alte am nächsten Tag zu seinem Neffen. »Noch kann ich dir nichts von den Menschen berichten. Aber von Tieren des Meeres und der Luft. Schreibe: Und Gott sprach: Es wimmele das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter der Feste des Himmels. Und Gott schuf große Walfische und alles Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser wimmelt, ein jedes nach seiner Art, und alle gefiederten Vögel, einen jeden nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt das Wasser im Meer, und die Vögel sollen sich mehren auf Erden. Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.«

Zu dieser Jahreszeit ließ der Alte meistens seine Ziegen draußen grasen. Jetzt wuchs überall Grün, das niemandem gehörte: an den Wegrändern und an den Ufern des Flusses. Er musste nur in der Nähe sein, um auf sie aufzupassen, sonst würden sich die Tiere verlaufen.

So saß er auf einem Sandhügel, blickte ab und zu auf, ob seine Ziegen noch in der Nähe waren, und schnitzte an einem Schilfrohr, das er am Ufer geholt hatte. Tuka hatte ein Messer aus diesem seltsamen Material, das man aus Feuer gewann, und das fest war und glänzte. Das hatte der Alte nicht, er brauchte es auch nicht. Ihm reichte der scharfkantige Stein.

Zur Mitte des Tages hin hatte er die Flöte fertig. Er setzte sie an die Lippen und blies hinein. Ein sanfter Ton erklang. Wenn er die zwei Löcher mit den Fingern verschloss, veränderte sich der Ton.

Er lauschte dem Klang nach, als wäre es die Stimme eines geliebten Menschen. Als könnte er ihn sehen, den Klang, wie er über die Weite schwebte, mal langsam und traurig, dann wieder fröhlich auf und nieder hüpfend. Zwei seiner Ziegen, die das Flötenspiel ihres Hirten schon kannten und liebten, ließen sich davon anlocken und kamen heran. Sie stapften um ihn herum und stießen ihn sogar an. Die anderen zweiundzwanzig schienen den Ton gar nicht zu hören.

Der Alte beachtete seine Tiere nicht. Er folgte dem Flötenton auf seinem Flug in die Weite. Und da war er wieder in einer anderen Zeit. Sah Dinge, die andere nicht sahen, weil sie ihm direkt in den Kopf eindrangen, ohne den Umweg über die Augen zu nehmen.

So hatte er seinem Neffen wieder etwas vorzusagen, als der ihn besuchte. »Schreibe wörtlich auf, was ich dir sage, Tuka! Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so. Und Gott sah, dass es gut war.

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

 

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.«

Zwei Tage dauerte es, bis Tuka wieder in der Hütte erschien.

»Ich grüße dich, Onkel! Gestern war der Tag der Ruhe und des Feierns. Darum musste ich mit dem königlichen Hof im Tempel sein und konnte nicht kommen. Aber vielleicht hast du mir sowieso nichts mehr zu diktieren, weil die Menschen ja nun nach deinem Bericht auf der Erde sind und anfangen, sie zu beleben. Oder kannst du mir etwas von dem ersten König erzählen?«

»Nein, Tuka. Die Schöpfung ist vollendet. Du kannst aber dem Bericht noch etwas hinzufügen. Denn etwas hat Gott noch geschaffen.«

»Was?«

»Den siebten Tag. Den Ruhetag. Den Tag, an dem die Menschen nicht nur neue Kraft für die Arbeit sammeln, sondern auch ihre Gedanken auf ihren Schöpfer richten sollen.«

»Du meinst, der Ruhetag ist auch von Gott? Nicht per Gesetz vom König eingerichtet?«

»Nein. Du siehst, dass selbst bei denen, die sich andere Götter gemacht haben, noch eine Spur der Ordnung des einen wahren Gottes zu erkennen ist.«

»Gut, ich schreibe. Sprich!«

»So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebten Tage von allen seinen Werken. Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn. So sind Himmel und Erde geworden, als sie geschaffen wurden.«