Geist & Leben 3/2019

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Geist & Leben 3/2019
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Inhalt

Heft 3 | Juli–September 2019

Jahrgang 92 | Nr. 492

Notiz

Was meint „synodal“?

Stefan Kiechle SJ

Nachfolge

Zwinglis spiritueller Werdegang. Zum 500. Jubiläum seines Amtsantritts in Zürich

Samuel Lutz

Brüder im Geiste. Papst Franziskus und Frère Roger

Philipp Müller

Nachfolge | Kirche

Charismatisierung der katholischen Kirche? Eine kleine theologische Bestandsaufnahme

Christoph Amor

Die Teflon-Strategie. Flucht vor der Krise – „wir worshippen jetzt“

Stefan Klöckner

Priester in Kirche und Gesellschaft

Johannes Schelhas

Nachfolge | Junge Theologie

What would you, Jesus, want me to do? Ignatianische Lesart eines evangelikalen Mottos

Dag Heinrichowski SJ

Reflexion

Freiheit und Wahrheit im geistlichen Leben. Zur aktuellen Kontroverse über den Freiheitsbegriff

Ralf Miggelbrink

Das Herzstück des Ignatius (Teil II). Ignatianische Kriterien für den Islam-Dialog

Felix Körner SJ

Dialog mit dem Islam. Impulse der ignatianischen Spiritualität

Gonzalo Villagrán SJ

Lektüre

Gedanken zu Psalm

Martin Dieckmann

Jean-Joseph Surin (Teil II)

Michel de Certeau SJ

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

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Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

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Ralph Kunz / Zürich

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Redaktionsanschrift:

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Stefan Kiechle SJ | Frankfurt a.M.

geb. 1960, Dr. theol., Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“, Beauftragter des Ordens für ignatianische Spiritualität

kiechle@jesuiten.org

Was meint „synodal“?

Griechisch syn meint „mit“ oder „gemeinsam“, odos meint „Weg“, eine Synode ist also ein gemeinsamer Weg. In den ersten Jahrhunderten war eine Synode eine kirchliche Versammlung, deren Setting und Struktur variabel waren. Wer sich versammelte, war das „Volk Gottes“ oder einfach die Kirche. Ins Lateinische übersetzte man das Wort mit concilium – bis einschließlich des Vatikanum II wurden die beiden Worte praktisch synonym verwendet. Erst der CIC von 1983 trennte deutlicher: Ein Konzil ist eine weltweite Versammlung von Bischöfen, eine Synode hingegen eine in der Regel teilkirchliche Versammlung (CIC c. 460–468). In dieser kommen Priester und Laien zusammen, sie wird einberufen durch den Bischof und steht unter seiner Letztverantwortung: Der Bischof bestimmt, werMitglied ist, und er approbiert am Ende die Beschlüsse. Aber es gilt auch: Alle vorgelegten Fragen sollen in der Versammlung frei erörtert werden.

Nun beschlossen die deutschen Bischöfe angesichts der fundamentalen Krise, in der die Kirche sich befindet, mit ihr einen „verbindlichensynodalen Weg“ zu gehen. „Synodaler Weg“ ist schon mal ein weißer Schimmel, denn die Metapher „Weg“ wird unnötig verdoppelt. Die Bischöfe scheuten wohl „Synode“, suchten einen weniger verbindlichen Ausdruck, den sie aber durch den Zusatz „verbindlich“ wieder mit mehr Ernst ausstatten wollten. Man ahnt die Richtungskämpfe und die Kompromisssuche. Gewollt ist wohl nichts anderes als das, was nach alter Begrifflichkeit Synode heißt; redlicherweise sollte man sie so nennen.

Vom Geist sollte diese Synode wohl geleitet werden? Wegweisendkönnte sein, was Papst Franziskus am 3. Oktober 2018 zur Eröffnung der Jugendsynode sagte: „Die Synode, die wir nun erleben, ist ein Moment des Teilens. Ich möchte daher zu Beginn des Wegs der Synodenversammlung alle dazu einladen, mit Mut und Parrhesia zu sprechen, also Freiheit, Wahrheit und Liebe miteinander zu verbinden. Nur der Dialog kann uns wachsen lassen (…). Der Mut zum Sprechen und die Demut des Zuhörens gehören zusammen (…). Die erste Frucht dieses Dialogs ist, dass jeder offen ist für Neues, um die eigene Meinung aufgrund dessen zu ändern, was er von den anderen gehört hat (…). Fühlen wir uns frei, die anderen anzunehmen und zu verstehen und dann auch unsere Überzeugungen und Haltungen zu ändern: Das ist Zeichen großer menschlicher und geistlicher Reife (…). Die Synode ist ein kirchlicher Akt der Unterscheidung (…). Unterscheidung ist (…) eine innere Haltung, die in einem Glaubensakt verwurzelt ist.“

Der Papst ist – wen wundert’s? – sehr ignatianisch: Ein Weg christlichen Miteinanders ist für ihn immer Austausch, Teilen. Nur die freimütige Rede ist wahrhaftig, geistgeleitet, weiterführend. Zum guten Zuhören gehört die Demut, nicht schon alles zu wissen, sondern offen zu sein, von anderen etwas zu lernen. Wer bereit sein will, im Hören seine Meinung zu ändern, muss sich indifferent machen, also persönliche Vorlieben, Vorurteile und Vorfestlegungen zurückstellen. Eine Synode ist Kirche in Unterscheidung: Die Geister, die sich regen und bewegen, müssen zunächst wahrgenommen werden – das geht nicht ohne Stille, Achtsamkeit und Gebet; danach müssen sie unterschieden werden, also daraufhin geprüft, ob sie vom guten oder bösen Geist herkommen; schließlich müssen sich die Akteure entscheiden, wie es ihnen der Geist eingibt; nach dem Prozess sind Entscheide umzusetzen – der Wille dazu und die Kraft sind eigens zu erbitten und zu pflegen. Einen solchen Weg als Gemeinschaft zu gehen, erfordert von allen Beteiligten Zeit und Hingabe, Respekt und gutes Kommunizieren, innere Freiheit und Offenheit für Neues, vor allem freilich Vertrauen in das Wirken des Geistes.

Wann wäre der Weg nicht geistgeleitet? Wenn einzelne oder Gruppen vorher wissen, was wahr und was falsch ist; wenn Informationen ungleich verteilt bleiben; wenn Interessensgruppen etwas durchsetzen wollen; wenn einige, etwa wegen einer heiligen Weihe, mehr Kenntnis oder die alleinige Führung beanspruchen; wenn Juristen oder Organisationsentwickler die wesentlichen Vorgaben machen; wenn alte Männer dominieren und Frauen und Jugendliche zu kurz kommen – schon im Vorbereitungs- und im Steuerungsteam; wenn Ordnungen oder Lehren zu schnell als sakrosankt und unantastbar definiert werden; wenn wichtige geistliche Erfahrungen, auch solche der großen Geschichte und Tradition, vorschnell über Bord geworfen werden; wenn die Angst vor Verlusten oder vor dem Untergang die Herzen leitet; wenn der Prozess Vielfalt und Buntheit missachtet – oder gar unterdrückt oder manipuliert.

Katholisch – im Wortsinn allumfassend – ist eine Synode dann, wenn sie breit alle Strömungen und Gruppen eingemeindet; das ist angesichts derzeitiger Spannungen, Verwerfungen und Machtkämpfe sehr fordernd und außerdem unendlich mühselig – mühevoll und selig zugleich. Doch am Katholischen führt kein Weg vorbei. Geistlich ist eine Synode dann, wenn sie dem Geist nicht nur im Abwägen und Sprechen und Diskutieren, sondern vor allem im Gebet Raum gibt und wenn sie auf den Geist hört und ihn wirken lässt, wie und wo er will. Auch am Geist führt kein synodales Vorangehen vorbei.

 


Samuel Lutz | Bern

geb. 1944, Dr. theol., Gemeindepfarrer im Berner Oberland, später Synodalratspräsident der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn

samuel.lutz@bluewin.ch

Zwinglis spiritueller Werdegang

Zum 500. Jubiläum seines Amtsantritts in Zürich

Es gab eine Zeit, da beschäftigte sich die Zwingliforschung intensiv mit der Frage nach der reformatorischen Wende bei Zwingli. Die einen gingen davon aus, dass von einer solchen nicht früher gesprochen werden könne, als ab dem Zeitpunkt, an dem Zwingli zur Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben durchgedrungen sei. Dies aber könne erst erfolgt sein, nachdem Martin Luthers entscheidende reformatorische Schriften im Jahr 1520 erschienen sind: Von des christlichen Standes Besserung – Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche – Von der Freiheit eines Christenmenschen. Unter der Voraussetzung, dass Zwingli seine geistlichen und theologischen Impulse von Martin Luther empfangen habe, wird der zwinglische Durchbruch zur Reformation in die ersten Jahre seiner Tätigkeit als Leutpriester in Zürich gelegt, dies allerdings entgegen Zwinglis eigenen Beteuerungen, er sei unabhängig von Luther zu den für ihn entscheidenden und zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft führenden Erkenntnissen gekommen.

Für die Befürworter einer früheren, unabhängig von Luther erfolgten reformatorischen Wende stand die Frage nach dem Übergang Zwinglis vom Humanismus zur Reformation und damit der Weg Zwinglis in die theologische Eigenständigkeit im Vordergrund. Von Interesse war dabei sein Verhältnis zu Erasmus von Rotterdam, dem er den Zugang zum griechischen Neuen Testament und wesentliche Elemente seiner späteren Christologie zu verdanken hatte, von dem er sich dann aber allmählich zu distanzieren begann. Beide Seiten gingen davon aus, dass es im Werdegang Zwinglis zum Reformator irgendwann einmal, ob früher oder später, zu einem befreienden Durchbruch gekommen sei.

Betrachtet man indessen die Anfänge von Zwinglis Theologie weniger unter den Gesichtspunkten von äußerem Einfluss und innerer Loslösung, sondern spürt Zwinglis spirituellen Erfahrungen nach, so zeigt sich das Entscheidende seines Werdegangs der frühen Jahre nicht als Wende, sondern als Weg einer kontinuierlichen inneren Entfaltung. Diesem spirituellen Werdegang des frühen Zwingli bis zu seinem Amtsantritt vor 500 Jahren als Leutpriester am Großmünster in Zürich soll im Folgenden nachgegangen werden. Es geschieht dies auf Grund von drei auf seine früheren Jahre zurückblickenden Selbstzeugnissen. Das eine bezieht sich auf Zwinglis Amtsjahre als Gemeindepfarrer von Glarus, die beiden andern blicken zurück auf die kurzen drei Jahre, in denen er Leutpriester war im Kloster Maria Einsiedeln. Freilich gilt es dabei zu bedenken, dass Selbstzeugnisse als biographische Quellen mit Vorbehalt zu betrachten sind. Immerhin aber lassen sie Einblick gewinnen in Zwinglis subjektive Sicht, wie er sich selber und seinen spirituellen Werdegang verstanden wissen wollte.

Herkunft und Studium

Zwingli, getauft auf den Namen Ulrich, stammt aus dem oberen Toggenburg, damals Untertanengebiet des Klosters St. Gallen. In Wildhaus auf 1100 Metern über dem Meeresspiegel wird er am 1. Januar 1484 geboren als dritter Sohn des Johann Zwingli und der Margaretha Meili, geborene Bruggmann. Die Zwinglis waren eine wohlhabende und einflussreiche Familie, ein Milieu von Bauernstand, Politik und Gelehrsamkeit in gut kirchlich-katholischer Spiritualität, aber nicht streng-konservativer Tradition.

Als noch nicht ganz sechsjähriger Knabe kommt Ulrich zu seinem Onkel Bartholomäus nach Weesen an den Walensee, Pfarrer und Dekan daselbst. Dieser bringt seinem Neffen Lesen und Schreiben bei und auch schon die ersten Brocken Latein. Ulrich sollte, wie drei seiner Brüder auch, ein Gelehrter werden. Nach fünf Jahren im Pfarrhaus von Weesen wird Zwingli Lateinschüler in Basel. Schon nach zwei Jahren aber schickt sein Lehrer, Gregor Bünzli, den Elfjährigen wieder nach Hause und ermuntert den Vater, er solle seinen Sohn entsprechend seiner Begabung anderweitig unterrichten lassen. Dies geschieht zunächst in Bern, wo Zwingli erstmals mit den lateinischen Klassikern bekannt wird. Wie schon in Basel fällt auch in Bern Zwinglis Musikalität sofort auf. Die Dominikaner wollen ihn als Novizen ins Kloster aufnehmen seiner schönen Stimme wegen. Von einem Klostereintritt jedoch will Zwinglis Vater nichts wissen. Er ruft seinen Sohn aus Bern zurück und entsendet ihn an die damals als Hochburg des Humanismus berühmte Universität Wien zum Studium der Philosophie.

Der Humanismus bedeutete für die akademische Jugend nördlich der Alpen nicht weniger als die Renaissance in Italien: Eine Bewegung mit einem ganz neuen Menschenbild und Selbstbewusstsein. Das klassische Altertum war im Mittelalter zwar nie in Vergessenheit geraten. Man begann nun aber, die griechischen und römischen Klassiker mit neuen Augen zu lesen, indem man sich mit der griechischen Philosophie und der römischen Geschichtsschreibung und Rhetorik identifizierte. Das gab der Generation, die in diesem Humanismus aufwuchs, ein ganz neues Lebensgefühl, emanzipiert von bisherigen Autoritäten, wie es ein Pico della Mirandola zum Ausdruck gebracht hatte in seiner berühmten Rede über: Die Würde des Menschen, und darin erklärte: „Dem Menschen ist gegeben, das zu sein, was er will.“1 Auch Zwingli hatten den Pico della Mirandola in seiner Bibliothek stehen. Zu einem akademischen Abschluss Zwinglis in Wien kommt es allerdings noch nicht. Er kehrt zurück nach Basel an die Artistenfakultät, wo er anfangs 1506 zum Magister Artium promoviert wird. So ist aus dem Toggenburger Ueli, dem Bauern- und Hirtenbuben, der 22-jährige Meister Ulrich geworden, ein aufgeweckter, weltoffener junger Mann.

Erst nach der Erlangung des Meistertitels nimmt Zwingli das Theologiestudium auf, vornehmlich bei Thomas Wyttenbach, der in Basel zu jener Zeit die scholastische Theologie der via antiqua lehrte im Sinne des Thomas von Aquin. Aus welchen Gründen Zwingli dann allerdings nach nur eineinhalb Jahren das Theologiestudium in Basel abbricht, ist nicht mehr klar ersichtlich. „Je mehr er sich der Theologie widmet“, berichtet Bullinger in seiner Chronik, „desto mehr drängte es ihn zum priesterlichen Amt um zum Volk predigen zu können.“2 Jedenfalls bewirbt sich Zwingli bei seinem Bischof, Hugo von Hohenlandenberg in Konstanz, um die Ordination, wird zum Priester geweiht und liest 1506 in Wildhaus, dem Dorf seiner Herkunft und Familie, erstmals die heilige Messe.

Ebenfalls 22-jährig, nur ein Jahr zuvor, trat Martin Luther in Erfurt den Augustinern bei. Der eine, von Sündenlast und Höllenangst bedrückt, geht ins Kloster, der andere, weltoffen und voll Tatendrang, ins Pfarramt.

Pfarrer in Glarus

Im Herbst 1506 kommt Zwingli als junger Priester nach Glarus und trägt als Ortspfarrer der Gemeinde den Titel des Kilchher zuo Glaris. Glarus, der Hauptort eines der dreizehn Orte der alten Eidgenossenschaft, bestand zur damaligen Zeit aus ungefähr 136 Häusern mit rund 1300 Einwohnern. Man könnte die zehn Jahre des Glarner Pfarreramtes für Zwingli als eine Zeit des Suchens bezeichnen, ganz im Sinne, wie Papst Johannes Paul II. schrieb: „Die Suche nach dem Glauben ist selbst eine implizite Form des Glaubens“3, oder wie es Zwingli selbst erlebt: „Die Verlangen danach haben, Gott zu erkennen, denen entzieht Gott sich nicht.“4 Seinen seelsorgerlichen Verpflichtungen kommt Zwingli treu, verlässlich und von der Bevölkerung her betrachtet auch erfolgreich nach. Jedenfalls lässt man zu seinen Ehren und gleichzeitig seiner Verabschiedung auf den silbernen Messbecher Zwinglis Namen eingravieren, in Glarus noch heute zu bewundern: Calix Uly Zwingli 1516.

Das Pfarramt insgesamt versteht und versieht Zwingli im Sinne der traditionell katholischen Frömmigkeit mit allem, was dazugehört, ohne dabei Probleme zu bekommen. Für die zahlreichen Reliquien, die in Glarus’ Besitz waren, trägt er Sorge, er führt Bittprozessionen durch um gutes Wetter, mit den Einnahmen aus einem päpstlichen Sonderablass lässt er eine Kapelle bauen, kurz: Er ist und wird geschätzt als ein guter, volksverbundener Priester.

Innerlich allerdings treiben ihn philosophische und theologische Fragen um, die ihn im Blick auf seine Gemeindeglieder seelsorgerlich, auf Grund intensiv betriebener theologischer und philosophischer Studien aber auch persönlich beschäftigen. Er beschreibt sechs bis acht Jahre später in einer seinem Bischof in Konstanz gewidmeten, erstmals recht umfangreichen lateinischen Schrift, dem sogenannten Archeteles von 1522, wie es ihm seinerzeit ergangen, was ihn geistlich beschäftigt und wie er zu den Erkenntnissen und Erfahrungen gekommen sei, die für ihn prägend geworden sind.

Er habe die Beobachtung und Feststellung gemacht, berichtet Zwingli rückblickend5, dass die Menschen, auch seine Leute in Glarus, selig werden und ihrer Seligkeit gewiss sein wollten. Darum bemühten sie sich, aus Angst vor Fegefeuer und Hölle, alles zu erfüllen, was die Kirche anbietet und fordert. Wer aber kann sagen – dies wird Zwingli mehr und mehr zum Problem –, dass wir als Kirche, auch ich als Pfarrer von Glarus, mit unseren Angeboten und Forderungen, wenn sie denn erfüllt werden, den Menschen die ewige Seligkeit auch garantieren können? „Wir sehen“, schreibt er bekümmert und besorgt, „wie das Menschengeschlecht sich sein ganzes Leben lang um die Erlangung der Seligkeit nach dem Tod ängstigt und sorgt, dass es aber keineswegs allenthalben am Tage liegt, auf welche Weise sie zu finden ist.“ Auf der Suche nach einer Antwort vertieft er sich einerseits in die klassische Literatur – dazu verfügt er schon damals über eine stattliche private Bibliothek –, und gleichzeitig sucht er Antwort in der Theologie. Vom Ergebnis allerdings ist er enttäuscht. Zu den einen sagt er: „Wendet man sich an die Philosophen, so herrscht unter ihnen über die Seligkeit so viel Streit, dass es jedermann verdrießt.“ Bei den andern ist die Verlegenheit noch größer: „Wendet man sich an die Christen, so gibt es dort Leute, bei denen man noch viel mehr Verworrenheit und Irrtümer findet als bei den Heiden.“ Als überaus bedenklich empfindet er, „dass die elenden Sterblichen in ihrer Selbst- und Gottvergessenheit es wagten, ihr Eigenes als Göttliches feilzubieten“ – später wird er von „menschlichen Erfindungen“ sprechen. Damit steht er vor der für ihn spirituell und persönlich immer drängender werdenden Frage, ob es denn nicht ein Kriterium gäbe, an dem man das Menschliche und das Göttliche, humana an divina, unterscheiden könne. Wie sich vor ihm schließlich nur noch Widersprüchlichkeiten auftürmen, weiß er von sich aus nicht mehr aus noch ein und seufzt – es klingt als wie ein Hilferuf: „In dieses Dilemma gestellt, wohin soll ich mich wenden – quo me vertam?“ Da nun betet er und bittet Gott, er möge ihm doch einen Ausweg zeigen, und da habe Gott zu ihm gesagt: „Du Einfältiger, warum bedenkst du nicht: ‚Des Herrn Wahrheit währt in Ewigkeit?’ Dieser Wahrheit sollst du anhangen.“

Von da an entschließt er sich, auf seiner Suche nach einem Unterscheidungskriterium von Göttlichem und Menschlichem sich nur noch an das zu halten, „was aus dem Munde Gottes kommt (Mt 4,4)“. In humanistischer Weise geht er zurück zu den Quellen, orientiert sich theologisch am Neuen Testament und macht dabei die Erfahrung, wie er mehr und mehr aus der Dunkelheit des Dilemmas oder eben der menschlichen Selbst- und Gottvergessenheit ans Licht kommt. „Alles wird im Lichte klar werden“ liest er im Epheserbrief (Eph 5,13), und wenn er fragt: „In welchem Licht?“, sagt ihm Christus im Evangelium: „Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12).“ Er erlebt es als Gebetserhörung, zu erkennen, woran man das Göttliche vom Menschlichem unterscheiden kann, an Christus nämlich, der selber beides ist, wahrer Gott und wahrer Mensch, divinus et humanus. Ihn bezeichnet er nunmehr als den Prüfstein zur „Unterscheidung der Geister, ob sie aus Gott sind“ (1 Joh 4,1), und erklärt, er werde, „nachdem ich in dieser Weise meine Vergleichungen angestellt habe“, künftig alle Lehrmeinungen, omnia doctrina, die philosophischen und die theologischen, an diesem Stein überprüfen.

 

Für Zwinglis spirituellen Werdegang ist es bezeichnend, dass bei ihm theologische Arbeit und spirituelle Erfahrung ineinandergreifen. Er entdeckt und erlebt über der Lektüre der Heiligen Schrift Christus als das von Gott in die Welt gesandte Licht – für ihn ein beglückendes Widerfahrnis. Die theologische Schlussfolgerung, die er daraus zieht, besteht für ihn nun darin, dass er Christus als das Licht, in dem alles klar wird, und die Heilige Schrift miteinander verbindet und damit auch die Schrift, in der Christus als das Klarheit spendende Licht uns entgegenleuchtet, als Prüfstein bezeichnet (lapis evangelicus)6. Sie soll fortan für alle philosophischen und theologischen Debatten und kirchlichen Auseinandersetzungen die Grundlage bilden und „allein Führerin und Lehrerin sein“.7 Die innere Zusammengehörigkeit von Christologie und Schriftprinzip, will Zwingli im Rückblick sagen, ist es, die ihn aus dem Dilemma der theologischen und philosophischen Widersprüchlichkeiten erlöst und ihn die Antwort hat finden lassen auf die ihn damals drängende Frage: „Wohin soll ich mich wenden?“

Leutpriester in Einsiedeln

Waren die 10 Jahre Pfarramt in Glarus eine Zeit des Suchens, so wird für Zwingli Einsiedeln zur Zeit des Findens. Zum Kloster Einsiedeln gehörte damals eine Pfarrei von rund 1500 Einwohnern. Weil sich Zwingli anders als in Glarus kaum mehr politisch hervortut und als Leutpriester für die Pilger nicht ausgelastet ist, findet er nebst Gottesdienst und Seelsorge ausreichend Zeit für persönliche Studien. Einsiedeln wird für ihn zu einer Zeit der Vertiefung dessen, was sich in Glarus abzuzeichnen begonnen hatte. Das Prinzip der Heiligen Schrift als Prüfstein bewährt sich ihm in der Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie. Ebenso findet er die von ihm erkannte Verbindung des sola scriptura mit dem solus Christus bestätigt in der Frage der Fürbitte der Heiligen, mit der er sich intensiver als bisher zu beschäftigen beginnt.

Vom Bibelgebrauch zum Schriftprinzip

In Glarus hatte Zwingli damit begonnen, Griechisch zu lernen. Mittlerweile ist er im Besitz des griechischen Neuen Testamentes in der Ausgabe des Erasmus von 1516. Er gebraucht dieses mit Begeisterung und vertieft seine Lektüre dadurch, dass er die Paulusbriefe abschreibt und auswendiglernt, wie dies Erasmus selbst getan und anderen empfohlen hatte. Zwingli macht dabei die Erfahrung, dass er das Evangelium besser versteht, wenn er es in der Ursprache liest. Dem Urtext allein ist es allerdings nicht zu verdanken, dass Zwingli den Grundsatz der alleinigen Autorität der Schrift in theologischen und philosophischen Fragen bestätigt findet, wie er ihm in Glarus bereits aufgegangen ist. Es kommen erneut als Gebetserhörung eine Entdeckung und eine Erleuchtung hinzu.

Bisher war Zwingli gewohnt, bei seinen Bibelstudien die damals gebräuchlichen kirchlich-scholastischen Kommentare zu Hilfe zu nehmen. Alle diese Bücher aber werden ihm mehr und mehr zum Ballast. Eines Tages kommt er dazu, dass er diese weglegt und dabei die Erfahrung macht, dass er den Bibeltext besser versteht, wenn er ihn ohne kommentierende Hilfsmittel liest. Es ist die Entdeckung des exegetischen Prinzips „der sich selbst auslegenden Schrift“, der scriptura sui ipsius interpres. Rückblickend beschreibt Zwingli diese äußere exegetische Entdeckung als innere Erleuchtung (illuminatio). „Ich bin“, berichtet er8, „wie andere in meiner Jugend in menschlichen Wissenschaften vorangekommen. Als ich nun aber vor sieben oder acht Jahren anfing, mich ganz an die Heilige Schrift zu halten, kam mir die Philosophie und Theologie der Zanggeren immer dazwischen.9 Da kam mir schließlich, angeleitet durch Schrift und Wort Gottes, der Gedanke: Du musst das alles liegen lassen und Gottes Willen unmittelbar aus seinem eigenen, eindeutigen Wort lernen! Da hub ich an Gott zu bitten um sein Licht, und da begann mir die Schrift viel klarer zu werden, wiewohl ich sie bloß las, als wenn ich dabei viele Kommentare und Ausleger gelesen hätte.“

Das Erlebnis der Erleuchtung auf Grund der Entdeckung, dass die Bibel aus sich selber verstanden werden will, hat für Zwinglis Schriftverständnis nachhaltige Konsequenzen.

– Es fällt die damals noch übliche Unterscheidung von literarischem und geistlichem Schriftsinn und damit auch die allegorische Schriftauslegung weg. „Der allegorische Schriftsinn vermag nichts zu beweisen, was nicht sonst schon in der Schrift ausdrücklich enthalten ist.“10

– Für die Exegese ist wichtig, dass die Heilige Schrift als Ganze wahrgenommen werden will: „Alles in der heiligen Schrift muss aus dem Zusammenhang heraus verstanden werden.“11

– Mit der Heiligen Schrift als Ganzes sind immer beide Testamente gemeint. In Bezug auf den Kanon der Schrift gilt, „dass alles, was wir das Neue Testament nennen, seine Autorität und sein Fundament im Alten hat.“12

– Nicht unwichtig ist eine demütige Haltung. „In Gottes Wort soll man nicht Hader hineintragen“13, vielmehr „will die Heilige Schrift einfach und freundlich behandelt sein.“14

– Die Kirchenväter werden damit nicht bedeutungslos. Zwingli liest sie weiterhin regelmäßig und fleißig. Sie werden aber nicht mehr konsultiert als schriftunabhängige kirchliche Autoritäten, sondern als Bibelausleger.

– Um die Schrift so zu verstehen, wie sie sich selber versteht, und um ihr als Wort Gottes Glauben zu schenken, sind wir auf die Erleuchtung durch den Heiligen Geist angewiesen. Diese hat Zwingli in Einsiedeln so erstmals erlebt und freut sich zeitlebens darüber. „O Gott, du bist es, der mich erleuchtet. Du zündest das Licht an in mir. Es ist das Licht des Verstehens.“15

Christus und die Heilige Schrift

Wie das Bibelverständnis, so erfährt in Einsiedeln auch Zwinglis Christusverhältnis eine spirituelle Vertiefung, wonach er Schritt für Schritt „zur Überzeugung und zum Glauben gelangt sei, dass wir keines Mittlers bedürfen außer Christus, ebenso, dass zwischen uns und Gott niemand Mittler sein kann außer Christus allein.“ Er berichtet und erinnert sich, und damit sind wir beim dritten rückblickenden Selbstzeugnis16: „Ich habe vor acht oder neun Jahren ein trostreiches Gedicht gelesen, verfasst von dem hochgelehrten Erasmus von Rotterdam, an den Herrn Jesus gerichtet, worin sich Jesus in vielen sehr schönen Worten beklagt, dass man nicht alles Gute bei ihm suche, da er doch der Quell alles Guten, der Heilmacher, Trost und Schatz der Seele sei. Da habe ich gedacht: Es verhält sich wirklich so. Warum suchen wir dann Hilfe bei den Geschöpfen?“ Diese seine Erinnerung geht zum einen zurück ins Jahr 1514, als das von ihm erwähnte Gedicht des Erasmus, die Expostulatio Jesu cum homine, erstmals erschienen und Zwingli offenbar kurz nach Erscheinen bereits in Glarus bekannt geworden ist und ihn tief beeindruckt hat. Er habe dann allerdings, fährt er fort, „daneben bei dem erwähnten Erasmus auch andere ‚carmina‘ oder Gesänge gefunden, die an die heilige Anna, den heiligen Michael und andere gerichtet waren, und in denen er die Angesprochenen als Fürsprecher anruft.“ Diese Erinnerung geht nun nicht mehr zurück bis ins Jahr 1514, sondern lediglich ins Jahr 1518, also in Zwinglis Einsiedlerzeit. Dort hatte er nämlich mittlerweile vom Buchdrucker Froben in Basel einen Sammelband erasmianischer Schriften geschenkt erhalten, in dem nebst der Expostulatio auch die von Zwingli erwähnten Gesänge bzw. Gebete an Engel und Heilige abgedruckt sind. Nun ergänzt Zwingli seine Erinnerung an das Jahr 1514, als er die Expostulatio des Erasmus gelesen hatte, mit derjenigen an die Einsiedlerzeit von 1518. Damals habe er damit begonnen, berichtet er, veranlasst erneut durch Erasmus, nunmehr aber in kritischer Distanz zu ihm, „erst recht die Schriften der Bibel und der Kirchenväter zu studieren, ob ich von ihnen zuverlässig über die Fürbitte der Seligen unterrichtet würde. Um es kurz zu machen: Ich fand darüber in der Bibel gar nichts, bei den Alten fand ich bei einigen etwas, bei den anderen nichts. Doch beeindruckte mich wenig, wenn sie auch die Fürbitte der Seligen lehrten; denn sie blieben mir stets die biblischen Belegstellen schuldig. Und wenn ich dann die Schrift, die sie in ihrem Sinne zurechtbogen, in ihrem Urtext studierte, so hatte sie nicht den Sinn, den sie ihr abgewinnen wollten.“ Die von Zwingli empfundene Widersprüchlichkeit der theologischen Tradition bekräftigt ihm demnach das Prinzip der sola scriptura als Grundlage für den theologischen Diskurs, und die Schrift lässt ihm das solus Christus auch in der Frage der Fürbitte der Heiligen zur Gewissheit werden. Dank der Expostulatio des Erasmus wird Zwingli 1514 auf die Frage der Fürbitte der Heiligen aufmerksam, in Distanzierung zu Erasmus gelangt er 1518 in Einsiedeln zur Überzeugung, „dass Christus der einzige Schatz unserer armen Seelen sei“, eine Erkenntnis, von der ihn auch ein Erasmus nicht mehr abbringen könne.