Geist & Leben 2/2019

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Geist & Leben 2/2019
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Inhalt

Heft 2 | April–Juni 2019

Jahrgang 92 | Nr. 491

Notiz

Spiritualität im digitalen Zeitalter

Simon Peng-Keller

Nachfolge

Kommunizierendes Friedensverständnis. Inspirationen durch Hildegard von Bingen

Maura Zátonyi OSB

Anthony de Mello.

Stationen einer Rezeption

Paul R. Pinto SJ

Vorbilder der Gewaltfreiheit

Josef Freise

Nachfolge | Kirche

Bis hierher und nicht weiter?! Gedanken zum „Hier“ und „Weiter“ der Ökumene

Andrea Riedl

Bekehrende Begegnung von Kirche und Welt. De Lubac und Schillebeeckx im Gespräch

Christiane Alpers

Die dunkle Nacht (der Passion). Sieben Durchgänge

Nachfolge | Junge Theologie

Wie Stille in das Leben überschwappt. In memoriam Thomas Keating OCSO (1923–2018)

Kristina Kieslinger

Reflexion

Das Herzstück des Ignatius (Teil I)

Felix Körner SJ

Lebenswandel als schöpferische Treue. Perspektiven der Unterscheidung bei J. H. Newman

Peter Becker

Zur Grammatik christlicher Erfahrung und Erkenntnis Gottes

Dominikus Kraschl OFM

Lektüre

Jean-Joseph Surin (Teil I)

Michel de Certeau SJ

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / München

Bernhard Körner / Graz

Jörg Nies SJ / Rom

Simon Peng-Keller / Zürich

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

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Bezugspreis: Einzelheft € 12,50

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E-Book ISBN 978-3-42906-428-0

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

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Simon Peng-Keller | Zürich

geb. 1969, verheiratet, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

simon.peng-keller@theol.uzh.ch

Spiritualität im digitalen Zeitalter

Der Übergang von einer Epoche, die vom gedruckten Buch geprägt war, zu einem Zeitalter, das durch eine weitreichende Digitalisierung bestimmt ist, löst gegenwärtig tiefgreifende kulturelle Transformationsprozesse aus. Unsere Kommunikation und unser Wirklichkeitserleben verändern sich, wenn wir uns in Sekundenschnelle in Netzwerke einklinken können, die uns mit Menschen rund um den Globus verbinden. Dass die rasch voranschreitende Digitalisierung unserer Lebenswelt sich auch auf die spirituelle Praxis auswirkt, lässt sich einfach belegen. Waren die meisten klassischen Texte christlicher Spiritualität bis vor kurzem nur für eine kleine und privilegierte Gruppe in ihrer ganzen Breite greifbar, so sind sie heute, bei funktionierendem Internetanschluss, frei zugänglich und das schneller und lesefreundlicher, als das in der besten Bibliothek der Vergangenheit je möglich war. In den neuen Welten, die das Internet eröffnet, entstehen auch vielfältige spirituelle Räume und Praktiken: Online-Gebetsräume, Chat-Groups und digitale Friedhöfe, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. All das wird die künftige christliche Spiritualität prägen.

Denn gelebte Spiritualität ist medial geformt. Sie ist vermittelt und geprägt durch Ausdrucks- und Kommunikationsformen aller Art. Wenn wir die spirituellen Erfahrungen in Erinnerung rufen, die uns geprägt haben und immer wieder neu inspirieren, so sind sie vermutlich mit bestimmten Medien verbunden: mit Formen des Betens, rituellen Vollzügen, spezifischen Texten und anderem mehr. Diese mediale Vermittlung fällt nicht ins Auge – zeichnen sich doch gute Medien dadurch aus, dass sie sich selbst unsichtbar machen. Ein spannender Roman kann uns so fesseln, dass wir kaum mehr merken, dass wir ein Buch in der Hand haben. Deshalb werden spirituelle Erfahrungen in der Regel eher mit Unmittelbarkeit assoziiert. Wir tauchen in Erfahrungswelten ein, ohne auf die Vermittlungen zu achten, die sie uns eröffnen. Hinzu kommt die christliche Überzeugung, dass Gott uns in seinem Geist unmittelbar gegenwärtig ist. Gottes Geist teilt sich zwar mittels „Medien“ mit, doch ist diese Medienwahl ausgesprochen kreativ und nicht selten unkonventionell. Sie beschränkt sich nicht auf liturgische und künstlerische Hochkultur, sondern hat ein Flair fürs Einfache und Unscheinbare. Schlichte Gesten berühren uns manchmal tiefer als berühmte Kunstwerke. Gottes Geist ist multimedial.

Gleichwohl ist die Entstehung des christlichen Glaubens eng mit einem bestimmten Medium verbunden. So sehr Jesus nur wenig geschrieben haben mag, vielleicht nur wenig mehr als ein paar Buchstaben in den Sand, so bildete sich seine Sendung und sein missionarisches Profil in der gesättigten Nährlösung einer hochentwickelten Schriftkultur heraus. Betend, verkündigend und erzählend bewegte er sich im Horizont einer religiösen Welt, die von einer reflexiven Schriftkultur geprägt war. Sie hatte das, was Karl Jaspers die axiale Wende nannte, seit mehreren hundert Jahren hinter sich. Ein reflexiver Umgang mit der Schrift war charakteristisch für die sich langsam herausbildende christliche Spiritualität.

Aus einer Vielzahl von Schriften kristallisierten sich in stetigem und reflexivem Gebrauch einige heraus, die das Leitmedium des lebendigen Wortes besonders deutlich vermittelten. Auf dieses Leitmedium, hat sich das Christentum (oder nach dem Johannesprolog Gott selbst) festgelegt. Gott spricht dem Menschen das rettende Wort zu, auf das dieser sich restlos verlassen kann. Ohne dieses Evangelium gäbe es keinen christlichen Glauben, keine Gläubigen, keine Kirche. Gott inkarniert sich in seinem Logos.

Wird christliche Spiritualität, die sich von Gottes Wort inspirieren lässt, durch die Digitalisierung nicht an einer schmerzempfindlichen Stelle getroffen? Wenn sich die buchförmige christliche Bibel in ein Digitalisat auflöst – entgeht dann dem/der Leser(in) dieses Buchs mit dem haptischen Erleben nicht ein Aspekt der Inkarnation? Als jemand, der noch vor der digitalen Revolution religiös sozialisiert wurde, erachte ich es als einen positiven Nebeneffekt der Digitalisierung, dass sie auch auf die fokussierende Qualität eines Buchs aufmerksam macht, die der Praxis einer geistlichen Lektüre entgegenkommt. In der digitalen Relativierung des Buchmediums kann jedoch auch deutlich werden, dass das Wort, auf das sich Christ(inn)en verlassen, kein gedruckter Text ist. Inkarniert sich doch Gott, nach christlichem Verständnis, in seinem lebendigen Wort und nicht in den heiligen Schriften, die von dieser Wortwerdung berichten, auch nicht in dem Buch, in dem diese Schriften gesammelt sind. So unersetzbar diese Schriften auch sind, so missverständlich ist es, das Christentum als Schrift- oder Buchreligion zu beschreiben. Gottes Gegenwart vergegenwärtigt sich multimedial – auch digital.



Maura Zátonyi OSB | Rüdesheim

geb. 1974, Dr. phil.,

Abtei St. Hildegard/Eibingen

sr.maura@abtei-st-hildegard.de

Kommunizierendes Friedensverständnis

Inspirationen durch Hildegard von Bingen

In Europa erleben wir derzeit die längste Friedensperiode der Geschichte. In unserem Alltag erfahren wir jedoch, wie zerbrechlich der Friede ist. Täglich erreichen uns Berichte von Kriegen, gewaltsamen Eskalationen, bedrohlichen Krisen. Auch in unseren eigenen Verhältnissen sind wir immer wieder Konflikten – unterschwellig oder offen ausgetragen – ausgesetzt. Eine Versöhnung erfolgt meistens erst nach einem heftigen Streit. Muss es so sein? Warum ist es so? Der folgende Versuch, auf diese Fragen einzugehen, schöpft aus der spirituellen Tradition und versteht sich als eine Einladung zur realitätsbezogenen Reflexion und geistesgewirkten Gestaltung einer Friedenskultur.1

 

Friede: Ein spiritueller Wachstumsprozess

„Um in der Wahrheit zu bleiben, muss man manchmal seinen seelischen Frieden verlieren können. Echter Gottesfriede entsteht oft erst aus Leiden und Demütigung oder aus einer bewusst angenommenen seelischen Erschütterung.“2 Diese Worte von Jean Vanier, dem Gründer der Arche-Gemeinschaften, widersprechen unserer üblichen Vorstellung von Frieden. Wenn wir an Frieden denken, dann meinen wir Ruhe und einen ungestörten Verlauf der Dinge. In Jean Vaniers Friedensverständnis dagegen ist viel Dynamik enthalten. Friede entsteht demgemäß dann, wenn wir uns den störenden Faktoren unseres Lebens stellen.

Jean Vanier steht mit dieser Einsicht nicht allein, auch andere Meister des spirituellen Lebens sind ähnlicher Überzeugung. Basil Kardinal Hume, ehemals Abt von Ampleforth, dann Erzbischof von Westminster, legte seinen Mönchen ans Herz: „Der Friede, den [das Ordensleben] schenkt, ist ein hart errungener und, glauben Sie mir, er bringt Leiden mit sich. Und doch ist es ein Friede, der durch die uns von allen Seiten her bedrängenden Stürme nicht erschüttert wird.“3

So überrascht es nicht, wenn wir in die Geschichte der Spiritualität blickend auf weitere Konzepte eines dynamischen und kämpferischen Friedensverständnisses stoßen. Zwar aus der zeitlichen Ferne von 900 Jahren, aber mit einer beeindruckenden Aktualität vertritt die heilige Hildegard von Bingen (1098–1179), seit 2012 zur Kirchenlehrerin erhoben, eine Auffassung, die mit den bereits zitierten Worten übereinstimmt. Die hl. Hildegard wird häufig mit in Richtung Himmel gerichtetem Blick dargestellt. Ihr Lebenswerk zeugt aber von ihrer Bodenständigkeit, ihrer realistischen Menschenkenntnis, einem psychologischen Feingefühl und auch von ihrer Entschlossenheit, Konflikten und Schwierigkeiten konstruktiv zu begegnen.4

Als Äbtissin kannte Hildegard aus eigener Erfahrung sowohl die glücklichen Momente als auch die belastenden Schwierigkeiten des gemeinschaftlichen Lebens. Sie wusste, dass das friedliche Zusammenleben von Menschen immer wieder durch Zwietracht und Spaltungen gefährdet ist.5 Zugleich war sie überzeugt, dass wir aus den Gefährdungen und Erschütterungen eine gereifte Erfahrung von Frieden gewinnen können. Ihre Überzeugungen hat sie in einem Brief zusammengefasst, der als ihr spirituelles Testament gilt: „Alles, wovor der Mensch aus Angst flieht, um nicht verletzt zu werden, trägt dazu bei, dass er seine Zuversicht auf Gott setzt und zu ihm ruft, damit Gott ihm beisteht und ihn in der Ruhe des Friedens bewahrt. Alles aber, was um des Menschen willen existiert, was in ihm ist, wodurch er wirkt und was ihm friedlich und zuträglich Hilfe leistet, lehrt den Menschen, Gott Liebe entgegenzubringen. Wenn der Mensch nämlich nur das kennen würde, was ihm angenehm und wohltuend ist, wüsste er nicht, was das ist und was es heißt. Deshalb gewinnt der Mensch das höchste Wissen unter der Last der Härte, die von dem kommt, was schädlich ist, und so erkennt er, was gut und böse ist, und so kann er allem einen Namen geben, wie Adam. Würde der Mensch nämlich in den Dingen nur das eine kennen, dann wäre das Werk Gottes in ihm nicht vollkommen (…).“6

Mit diesen Worten gibt Hildegard zu verstehen: Alles, was den Menschen beunruhigt, wodurch er seinen Frieden bedroht und gefährdet sieht, kann ihn in einer existenziellen Erkenntnis wachsen lassen. Diese Gedanken beinhalten eine befreiende Botschaft: Es steht in unserer Entscheidung, wie wir auf Verletzungen, Bedrängnisse, Enttäuschungen und sogar Unrecht reagieren! Entweder antworten wir mit Aggression und schlagen zu, wenn wir uns bedroht fühlen, und dann werden wir immer mehr in Verbitterung verwickelt. Oder wir lassen uns herausfordern und sind bereit, uns auf einen Lernprozess einzulassen.

„Der Frieden sprosst in der vollen Grünkraft der Wahrheit“

Hildegard versteht den Weg zum Frieden als einen spirituellen Lernprozess – oder sogar als einen spirituellen Wachstumsprozess: „Der Frieden sprosst in der vollen Grünkraft der Wahrheit.“7 Das typisch hildegardische Wort „Grünkraft“ (viriditas)8 enthält theologische und spirituelle Dimensionen. Gerade dieses Wort viriditas macht deutlich, dass das Wachsen in den Frieden hinein ein von Gottes Geist gewirkter Prozess ist. Dies gilt es im Folgenden zu zeigen.

Bei einer Lektüre in den Werken Hildegards ergeben sich drei Momente, die nach dem hildegardischen Friedensverständnis einen solchen Prozess konstituieren: 1. Realitätssinn, 2. Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit und 3. Aufgeschlossenheit für die transzendenten Dimensionen des Daseins. Zudem leuchtet ein, dass es sich bei Hildegard um ein kommunizierendes Friedensverständnis handelt: Frieden wächst durch entsprechende Formen der Kommunikation.9

Obwohl sich Hildegard an zentralen Stellen mit dem Frieden befasst, hat sie keine systematische Lehre oder einen Traktat darüber entworfen. Ihre Form, sich auszudrücken, sind Visionen, in denen uns fremde und befremdende Bilder begegnen. Wenn wir uns aber in diese Visionen vertiefen, dann entdecken wir, dass diese Bilder etwas mit uns zu tun haben. Die Visionen Hildegards laden uns ein, unseren Alltag mit spiritueller Kraft zu durchdringen und so ein Stück Frieden zu verwirklichen. Hildegards Visionen vermögen unserem Dasein – manchmal ein Knäuel von unterschiedlichen, einander widerstrebenden Kräften – eine Fassung zu geben und in das Dickicht unserer Beziehungslandschaft Licht zu bringen. Dazu müssen wir die einzigartige Sprache der Visionen auf uns wirken lassen.

Anfang: Realitätssinn - konstruktive Konfrontation

Der Frieden fällt nicht vom Himmel. Hildegard war sich dessen bewusst. Sie schreibt realistisch vom „Sprossen“ des Friedens: „Der Frieden sprosst in der vollen Grünkraft der Wahrheit“ [Herv. MZ]. Frieden kann nur dann entstehen, wenn wir bereit sind, Wachstumsprozesse und natürliche Gesetzmäßigkeiten zu akzeptieren.

Diese Verpflichtung der Realität gegenüber veranschaulicht Hildegard in ihrem theologischen Spätwerk, dem Buch vom Wirken Gottes, mit der ihr eigenen Bildersprache. In einer Vision beschreibt sie einen Brunnen, in dem zwei Gestalten stehen, während eine dritte Gestalt außerhalb des Brunnens auf dessen Randstein steht.10 Hildegard erklärt dazu, dass diese drei Gestalten die Liebe, die Demut und den Frieden verkörpern. Dass die Liebe und die Demut im Brunnen stehen, ist gemäß Hildegards Auslegung ein Symbol dafür, dass sie „in der reinsten Gottheit [stehen], aus der Ströme der Seligkeit fließen“.11 Demzufolge gehören Liebe und Demut zum Wesen Gottes, wie Hildegard dies auch an anderen Stellen in ihrem Werk zum Ausdruck bringt.12

Der Friede dagegen – und das lässt aufhorchen – steht außerhalb des Brunnens auf einem Stein. Hildegard deutet das so, dass der Friede immer neu errungen werden muss, weil er nicht nur dem himmlischen, sondern zugleich dem irdischen Bereich zugeordnet ist.13 Die irdische Realität ist nach Hildegards Worten durch Schwankungen und Änderungen gekennzeichnet: Wir werden hin und her geworfen.14 Das alles verursacht Ängste im Menschen selbst und Spannungen unter den Menschen. Wir müssen die irdische Realität miteinander bewältigen und gestalten. Dabei treffen wir auf unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Meinungen und wir setzen uns mit unterschiedlichen Temperamenten ein. Spannungen sind vorprogrammiert!

Aber nicht die Spannungen zerstören den Frieden, sondern das Ignorieren der Spannungen. Besonders wir Christ(inn)en neigen dazu, alles harmonisieren zu wollen. Damit wollen wir jegliche Spannungen ausräumen und so Frieden schaffen. Dabei kann gerade eine solche Haltung den Frieden verhindern. Hildegard trifft den Kern dieses Problems in ihrem ersten theologischen Hauptwerk, dessen Titel Wisse die Wege heißt. Auch dort stellt sie den Frieden in personifizierter Gestalt dar. Diese artikuliert die Versuchung, die sich gegen den Frieden richtet, und zwar in einer Mentalität, die so spricht: „Ich kann keine Bedrängnis ertragen, sondern will alles Widerstrebende von mir fernhalten.“15 Daraus können wir schließen: Ein erster Schritt auf unserem Lernprozess des Friedens ist, wenn wir Spannungen bewusst aushalten und uns ihnen stellen.

Wie das zu realisieren ist, lässt sich exemplarisch an einer Herausforderung, die eines gewissen Konfliktpotentials nicht entbehrt, nachvollziehen. Durch den wachsenden Anteil von Menschen aus anderen Kulturen und Religionen durch Immigration wird die interreligiöse und interkulturelle Begegnung zur alltäglichen Notwendigkeit. So ist jede(r) von uns gefragt, wie wir mit kulturellen und religiösen Unterschieden umgehen. Ein realistischer und zugleich optimistischer Ansatz könnte lauten: „konstruktive Konfrontation“16 – anstelle von Harmonisierung, welche die realen Differenzen ausblendet. Es hilft nicht weiter und reicht nicht aus, einfach zu sagen, „wir sind ohnehin alle Brüder und Schwestern und haben uns alle so lieb“.17 Vielmehr ist eine ernsthafte und profunde Auseinandersetzung mit den konkreten Gegebenheiten erforderlich, in denen Probleme offen angesprochen werden. So könnte sich eine ehrliche, offene, dialogbereite, eben konstruktive Konfrontation zum Guten entwickeln. Dies gilt in allen Bereichen unseres Lebens.

Somit können wir festhalten, dass die erste Kommunikationsform, die dem wahren Frieden zuträglich ist, eine konstruktive Konfrontation bedeutet. Sie gelingt aber nur, wenn wir uns der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit verpflichten. Damit kommen wir zum zweiten Moment im Friedensprozess.

Mitte: Wahrheit und Wahrhaftigkeit - Konversation

Hildegard hält die Verbindung von Frieden und Wahrheit für grundsätzlich:

„Der Frieden sprosst in der vollen Grünkraft der Wahrheit“ [Herv. MZ]. Sie macht uns auf diesen Zusammenhang in ihren Visionen wiederholt aufmerksam. Während der Friede im Buch vom Wirken Gottes in einer Dreiergruppe neben Liebe und Demut steht, erscheint er in der erwähnten Vision von Wisse die Wege in einer Reihe mehrerer personifizierter Tugenden: Enthaltsamkeit, Freigiebigkeit, Frömmigkeit, Wahrheit, Glückseligkeit. Es ist von Bedeutung, dass sich der Friede direkt neben der Wahrheit, Seite an Seite, befindet.18 Friede und Wahrheit gehören zusammen. Denn Spannungen können erst dann konstruktiv gelöst werden, wenn jede(r) Beteiligte sich der Wahrheit verpflichtet weiß.

Es gibt zwei Formen, die Wahrheit zu verfehlen. Die eine ist die bereits erwähnte Tendenz, alles harmonisieren zu wollen, die Augen vor den Problemen und Spannungen zu verschließen und so die Realität zu verdrängen. Die zweite Form führt in das andere Extrem. Verschärfen sich die Spannungen hin zu unrechten Vorwürfen, dann geht es nicht mehr um konstruktive Konfrontation, sondern um destruktive Aggression. Wenn wir uns von den Spannungen beherrschen lassen, verfehlen wir die Konstruktivität.

Wie können wir also mit Spannungen in Wahrheit und konstruktiv umgehen? Wenn wir sie wahr-nehmen! Ja, wenn wir sie in ihrem wahren Wesen erkennen, indem wir auf dem Grund der Spannungen zu dem Punkt vorstoßen, wo das Problem liegt. Wenn wir die Probleme artikulieren und benennen können, haben wir einen wesentlichen Schritt hin auf den Frieden getan. Indem wir die Probleme aussprechen, können wir sie in offene Fragen umwandeln.

Probleme sind offene Fragen. Und auf Fragen könnten wir mit Phantasie und Mut eine Antwort finden, die auch ein Umdenken und die Entdeckung neuer Perspektiven ermöglicht. Immer gelingt es nicht. Hildegard ist aber überzeugt, dass uns bei der Suche nach Antworten der Heilige Geist zu Hilfe kommt. Die entsprechenden Überlegungen Hildegards lassen sich sinngemäß so paraphrasieren:19 Solange die existenzielle Frage und die Suche nach Antwort im Menschen sind, wird ihn die Kraft Gottes nicht verlassen, weil dieser Frage ein Umdenken innewohnt. Wo aber diese Frage im Menschen nicht ist, gibt es auch keine Antwort des Heiligen Geistes; denn dieser Mensch stößt die Gabe Gottes von sich, wenn er nicht bereit ist, Fragen zu stellen und umzudenken.

 

Diese Gedanken verdeutlichen, dass der konstruktive Umgang mit Problemen eine kreative Suche nach Lösungen bedeutet: einen Austausch. Das lateinische Wort dafür, conversatio, lässt die doppelte Bedeutung dieses Vorgangs erkennen. Es beinhaltet nicht nur Austausch, sondern zugleich Umkehr, Umdenken. Damit erweist sich die Konversation als die zweite Kommunikationsform des Friedens.

Wir sind nur dann fähig umzudenken, wenn wir bereit sind, über die eigenen Schatten zu springen, über uns hinauszuwachsen, ja, wenn wir offen sind für Überraschungen. Hildegard stellt die personifizierte Gestalt des Friedens in Wisse die Wege mit Flügeln dar. Sie schreibt dazu: Diese Gestalt des Friedens hat „auf beiden Seiten einen schwungkräftigen Flügel“, „[d]enn auf beiden Seiten, nämlich der ruhigen und der stürmischen Äußerung, strebt sie empor zu Gott (…) und erreicht sie den einen Gott in der Übereinstimmung ihrer beiden Flügel.“20 In diesem Bild ist eine ungeheure Dynamik eingefasst, eine existenzielle Offenheit auf das „Darüber hinaus“ hin, auf das Transzendente – auf Gott hin. Und Gott sorgt für Überraschungen! Damit sind wir beim dritten Moment im Friedensprozess.

Erfüllung: Offen für Gott - Kooperation

Hildegard denkt groß vom Menschen. Sie legt dar, dass uns Menschen ein Vermögen angeboren ist, uns der Transzendenz zu öffnen. Sie nennt es rationalitas.21 Hildegard zufolge ist die rationalitas unsere Gottesfähigkeit. Der vornehmste Vollzug unserer rationalitas, unserer Vernunftbegabtheit, besteht darin, sich der transzendenten Dimension zu öffnen.

Dieser transzendente Aspekt des Friedensprozesses ist in unserem Leitmotiv enthalten: „Der Frieden sprosst in der vollen Grünkraft der Wahrheit“ [Herv. MZ]. Der Schwerpunkt liegt auf dem Wort „Grünkraft“ (viriditas). Dieses Wort hat nichts mit Naturheilkunde oder Kräutern zu tun. Grünkraft hat eine tiefe theologische Bedeutung. Um das zu verstehen, ist ein kleiner Rekurs auf das zweite Hauptwerk Hildegards, das Buch der Lebensverdienste, nötig. Im Mittelpunkt dieses Werkes steht eine Mannesgestalt, die den ganzen Kosmos überragt.22 Hildegard nennt sie einfach „Mann“, auf Latein vir. Das ist aber keine Aussage über das Geschlecht dieser Gestalt, sondern ein Ausdruck dessen, dass dieser Mann (vir) eine vollständige Vitalität ausstrahlt und damit Gott selbst versinnbildlicht: Gott als vir ist Ursprung aller Lebenskraft (vis) und jeglicher Grünkraft (viriditas), aus ihm kommt alles Leben (vita) und er gibt jene Kräfte (virtutes) in Fülle, die den Sieg des Guten vollbringen.23 Hildegard macht also deutlich, dass der Friede letztlich nicht unser Werk ist, sondern eine Frucht, die von Gott her wächst. Diese Frucht des Friedens kann aber nur wachsen und reifen, wenn der Mensch mitwirkt. Auf die Konversation folgt also die dritte Kommunikationsform: die Kooperation.

Eine Kooperation zwischen Gott und Mensch ist möglich. Das ist eine großartige Botschaft Hildegards. Einerseits ist diese Kooperation möglich aufgrund der rationalitas des Menschen, weil diese ihn „gottfähig“ macht. Andererseits ist diese Kooperation möglich, weil der Mensch durch seinen Leib in der Welt Gottes Schöpfungswerk weiterführen kann.24 In seiner vernunftbegabten und leibhaftigen Existenz entspricht der Mensch der wirkenden Schöpferkraft Gottes, seiner viriditas. So kann der Mensch Gottes Frieden wortwörtlich zur Welt bringen.

In Hildegards Visionsbild erscheint der Friede mit leuchtendem Gesicht.25 Mit diesem Bild drückt Hildegard die vollendete Form eines kommunizierten Friedens aus: „Im allerhöchsten Gott leuchtet der Mensch auf und Gott im Menschen.“26

Mit dieser Aussage erfasst Hildegard die Größe des Menschen: Gott leuchtet im Menschen auf. Damit mündet der Wachstumsprozess des Friedens in die vollendete Form der Kommunikation: Das ist die communio, eine wahre Gemeinschaft

– der Mensch in Gott und Gott im Menschen. Der Frieden, der durch einen langen Lernprozess gewachsen und gereift ist, macht auch das Miteinander der Menschen möglich. Er stiftet eine wahre Gemeinschaft, die stärkt: Im lateinischen Wort communio ist das Wort munire (stärken) enthalten. Auf dieses kommunizierende und kommunizierte Friedensverständnis kommt es an.

Ausblick: Ein neuer Name für den Frieden

Wie sich dieser Lernprozess des Friedens konkret vollzieht, können wir an der Geschichte Europas in den letzten Jahrzehnten beobachten. Erinnern wir uns an die anfangs zitierten Worte Hildegards: „Der Mensch gewinnt das höchste Wissen unter der Last der Härte, die von dem kommt, was schädlich ist, und so erkennt er, was Gut und Böse ist.“ Der europäische Integrationsprozess hat angesichts der Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg damit begonnen, dass Politiker bereit waren, aus der Tragödie zu lernen und umzudenken, eine conversatio zu vollziehen.27 Zum gemeinsamen Ziel der Verhinderung eines weiteren Krieges wurden die Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft) ins Leben gerufen. Diese auf Realitätssinn basierten Maßnahmen gingen der Gründung der Europäischen Union voraus. Ihnen verdanken wir jene welthistorisch nicht genug hochzuschätzende Tatsache, dass wir heute in Europa die bislang längste Friedensperiode erleben.

Wir erleben aber nicht nur die andauernste Friedensperiode unserer europäischen Geschichte, sondern auch die ausgedehnteste prosperierende Periode. Dennoch begegnen wir in unserer Gesellschaft einem hohen Maß an Sinnverlust, weltanschaulicher Orientierungslosigkeit, innerer Verwahrlosung.28 So ist das Gebot der Stunde ein Prozess, der die horizontalen Formen der Kommunikation – gesellschaftliche Diskurse und politische Debatten – in eine gelebte Spiritualität als vertikale Form der Kommunikation einbettet. Das erfordert die Verbindung von Realitätssinn und Wahrhaftigkeit mit der Sensibilisierung für spirituelle Werte, um den Frieden zu bewahren und zu fördern.

Vor 50 Jahren hat Papst Paul VI. formuliert: Der neue Name für Frieden ist die Entwicklung.29 Auch heute hat dieser Entwicklungsgedanke, der soziale, kulturelle, sittliche und religiöse Dimensionen umfasst, nichts an Bedeutung verloren. Umso mehr haben wir die Aufgabe, für die Entwicklung im Europa des 21. Jahrhunderts einen konkreten Akzent zu setzen. Dazu kann das von Hildegard inspirierte und hier dargelegte Friedensverständnis einen Beitrag leisten: Entwicklung wird heute in Europa gelingen, wenn wir sie als spirituellen Wachstumsprozess realisieren.

1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Referats, das am 11. Mai 2018 bei einer Podiumsveranstaltung des 101. Deutschen Katholikentags in Münster gehalten wurde.

2 J. Vanier, In Gemeinschaft leben. Meine Erfahrungen. Freiburg i. Br. u.a. 1993, 314.

3 B. Hume, Gott suchen. Einsiedeln 1979, 79.

4 Zu einer zusammenfassenden Einführung in Hildegards Leben, Denken und Werk siehe M. Zátonyi, Hildegard von Bingen (Zugänge zum Denken des Mittelalters, Bd. 8). Münster 2017.

5 Siehe Hildegard von Bingen, Prophetisches Vermächtnis – Testamentum propheticum. Übers. u. eingel. v. M. Zátonyi. Beuron 2016, 75.

6 Vgl. ebd., 82.

7 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege – Liber Scivias. Übers. v. M. Heieck. Beuron 2010, 385.

8 Siehe dazu G. Lautenschläger, Viriditas. Ein Begriff und seine Bedeutung, in: E. Forster (Hrsg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Freiburg i. Br. u.a. 1997, 224–237.

9 Zur „kommunizierenden“ Struktur geistlicher Prozesse in den Visionen Hildegards siehe D. Flandera / M. Zátonyi, „Jeder, der Flügel im Glauben hat …“. Betrachtungen über Glaube, Hoffnung und Liebe bei der Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen, in: G. Ratzinger / R. Zörb (Hrsg.), Zum 90. Geburtstag. Festschrift der Gesellschaft zur Förderung christlicher Verantwortung e.V. für den Heiligen Vater em. Benedikt XVI. 16. April 2017. Rohrbach bei Weimar 2017, 43 f.

10 Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes – Liber divinorum operum. Übers. v. M. Heieck. Beuron 2012, 316.

11 Ebd., 318 f.

12 Vgl. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 43 [s. Anm. 7].

13 Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes, 319 [s. Anm. 10].

14 Ebd.

15 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 369 [s. Anm. 7].

16 Zum Begriff siehe das Interview mit M. Weninger, Vatikan-Dialogfachmann Weninger über Gespräche mit Muslimen, ursprünglich am 02.11.2013 im Radio Vatikan, jetzt abrufbar unter URL: https://gloria.tv/article/rjm4siQnsKMo4zW9QMMnEqu7s (Stand: 19.02.2019).

17 Ebd.

18 Vgl. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 366–370, bes. 368 f. [s. Anm. 7].

19 Vgl. ebd., 94.

20 Ebd., 369 u. 385.

21 Siehe A. F. Chávez, Die brennende Vernunft. Studien zur Semantik der rationalitas bei Hildegard von Bingen (Mystik in Geschichte und Gegenwart, Bd. I 8). Stuttgart – Bad Cannstatt 1991.