ZEHN TAGE IN DER HÖLLE

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
ZEHN TAGE IN DER HÖLLE
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

TAG EINS

TAG ZWEI

TAG DREI

TAG VIER BIS SECHS

TAG SIEBEN

TAG ACHT

TAG NEUN

TAG ZEHN

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

Obwohl ein halbes Dutzend Fliegen seinen Körper umschwirrt, rührt sich der Mann auf dem Bett nicht. Seine Augen stehen weit offen und starren blicklos an die Decke. Dennoch zuckt kein einziger Muskel in seinem Gesicht, noch bewegt sich eine Hand, um die Plagegeister zu vertreiben. Bei genauerer Betrachtung ist sogar zu erkennen, dass nicht einmal Atemzüge den Brustkorb heben und senken.

Der Mann ist unzweifelhaft tot, wofür auch die leichenhafte Blässe seiner Haut spricht. Er kann allerdings erst vor wenigen Stunden gestorben sein.

Der Leichnam hat mittellanges, hellbraunes Haar, das mehrere Tage nicht gewaschen wurde und fettig glänzt. Außerdem bedecken die Stoppeln eines Siebentagebarts die untere Hälfte seines hageren, ausgemergelten Gesichts, dessen Züge im Tod entspannt sind, auch wenn sein Sterben allem Anschein nach nicht leicht und schmerzhaft war. Der Rest des Körpers ist ebenfalls ausgezehrt und abgemagert, so als habe er mehrere Tage lang nicht mehr genug zu essen bekommen. Vermutlich ist er Anfang bis Mitte dreißig, sieht jedoch aufgrund seiner mitgenommenen äußeren Erscheinung älter aus, obwohl der Tod bereits einige Falten geglättet hat. Alles, was er an seinem dürren Leib trägt, sind ein dunkelblaues T-Shirt und eine Cargo-Bermuda-Shorts, deren ursprünglich beige Farbe größtenteils nur noch zu erahnen ist.

Das linke Bein ist mit Ausnahme des Fußes zu enormer Größe angeschwollen. Am linken Unterschenkel befindet sich ein schmutzig grauer Verband, der die Blutung der darunter verborgenen Wunde nur unzureichend aufhalten konnte. Doch es ist nicht nur Blut, das den Verbandsmull durchtränkt hat, sondern auch Eiter, denn die Verletzung hat sich entzündet. Die Entzündung hat sich bis zum Tod des Mannes auf den kompletten Unterschenkel und sogar bis zum Oberschenkel ausgebreitet. Haut und Fleisch des Beins sind tiefschwarz verfärbt.

Die Verletzung, die der Mann nur notdürftig und ohne ärztliche Hilfe selbst versorgen konnte und bei der es sich vermutlich um eine Bisswunde handelt, hat letztendlich zu seinem Tod geführt.

Die Fliegen umschwirren den Leichnam nun immer hektischer, weil der Gestank der fortschreitenden Verwesung und des entzündeten, abgestorbenen Gewebes, der den Schlafraum erfüllt, ihnen ein Festmahl und einen idealen Ort für die Eiablage verspricht. Obwohl Tür und Fenster geschlossen sind, hat es das halbe Dutzend Fliegen dennoch irgendwie geschafft, durch schmale Ritzen und winzige Löcher einzudringen, angelockt vom verführerischen Duft des Todes.

Schließlich landet die erste Fliege auf der Nasenspitze des Toten. Ihr Ziel ist eins der leblosen, aber immer noch feucht glänzenden Augen. Die übrigen Tiere folgen ihrem Beispiel, als sei sie der Anführer einer kleinen Expeditionsgruppe, landen jedoch auf dem rotbraun und eitergelb verfärbten Gaze des Verbands, wo ihnen der Geruch besonders verlockend erscheint.

Die Luft, die vom Gestank nach Tod, Verwesung und entzündetem Fleisch erfüllt ist, ist erdrückend warm und stickig. Kein Luftzug dringt von draußen ins Innere des Zimmers.

Das Schlafzimmer, das nur ein breites Bett, ein Nachtkästchen, einen geschlossenen Schrank und ein mit Büchern gefülltes Regal enthält, macht einen verwahrlosten und chaotischen Eindruck. Zahlreiche Kleidungsstücke liegen auf dem Boden verstreut. Rechts neben dem Bett stehen ein Paar Turnschuhe, der linke ist voller Blut, das von der Unterschenkelwunde auf ihn getropft ist. Daneben liegt eine selbst gebastelte Krücke, die aus einem Besen besteht, dessen Borsten der Mann mit einem Handtuch gepolstert und dessen Stielende er mit Schaumstoff umwickelt hat. Auf dem Nachtkästchen liegen neben einer Taschenlampe und einer leeren Wodkaflasche mehrere leere Blisterverpackungen und Tablettenschachteln.

Nachdem die Fliegen sich auf dem Leichnam niedergelassen und ihr Festmahl begonnen haben, herrscht wieder atemlose Stille. Nicht einmal von draußen dringt ein Laut herein, obwohl helllichter Tag ist. Die Sonne scheint durch einen unterarmbreiten Spalt zwischen zwei Brettern aus Kiefernholz, die vors Fenster geschraubt wurden. Außerdem wurde der Fenstergriff entfernt. Die einzige Tür in den Raum ist ebenfalls geschlossen.

Plötzlich gibt die Leiche ein leises Stöhnen von sich.

Die Fliegen lassen sich davon allerdings nicht beirren. Durch die Zersetzung können sich in einem toten Körper Gase bilden, die dann durch diverse Körperöffnungen entweichen. Geschieht dies durch den Mund, hört es sich beinahe wie ein gespenstisches Stöhnen an.

Doch dann stöhnt der Tote ein weiteres Mal, länger und ausdauernder, und dieses Mal wird klar, dass keine infolge der Verwesung austretenden Gase die Ursache dafür sind.

In nächsten Moment beginnt der Körper des toten Mannes krampfartig zu zucken, als habe er einen Stromschlag bekommen. Die Fliegen werden durch die Bewegung aufgeschreckt und sind gezwungen, die reichhaltige Festtafel allzu früh zu verlassen. Sie erheben sich irritiert in die Luft und umschwirren den bis vor wenigen Sekunden mausetoten, nun jedoch wieder mit Leben erfüllten Mann. Währenddessen zucken sämtliche Gliedmaßen unkontrolliert, als habe er die Kontrolle über die Muskeln und Sehnen seines Körpers noch nicht vollständig wiedererlangt.

Als der rechte Fuß wie in einem Reflex ruckartig nach oben gerissen wird, strafft sich die Schnur, die um den großen Zeh gebunden wurde. Sie ist mit mehreren anderen Stücken zu einem langen Seil geknüpft worden, das über zwei Rollen, die am Bett und an der Wand befestigt wurden, umgeleitet wird und bis zum Schrank führt, wo es in einem daumendicken Loch verschwindet. Sobald sich das Seil gestrafft hat, ertönt aus dem Inneren des Schranks ein gedämpftes Klicken. Fünf Sekunden später ist aus den beiden Lautsprechern, die über dem Schrank an der Wand hängen und deren Kabel ebenfalls ins Innere des Schranks führen, ein lautes Rauschen zu hören, das sogar das wütende Brummen der Fliegen übertönt.

Das plötzliche Geräusch scheint dem reanimierten Leichnam einen Schrecken eingejagt zu haben, denn er rollt abrupt zur Seite und fällt vom Bett. Dabei löst sich die Schnur vom Zeh, doch das macht nichts, denn sie hat ihren Zweck erfüllt und ist nutzlos geworden. Der wiedererweckte Tote landet krachend auf dem Laminatboden und stößt ein lautes Stöhnen aus. Allerdings nicht vor Schmerzen, denn er verspürt keinen Schmerz. Dann verstummt er wieder und bleibt reglos liegen, als habe der Sturz ihn ein zweites Mal getötet.

Für zwei, drei weitere Sekunden sind nur das Rauschen aus den Lautsprechern und das aufgeregte Summen der Fliegen zu hören. Dann ertönt die Stimme eines Mannes, die weiterhin mit einem Rauschen unterlegt ist, ein wenig blechern klingt und unzweifelhaft von einer besprochenen Audiokassette stammt.

»Wenn diese Aufnahme zu hören ist, müsste die Kreatur wieder aufgewacht sein. Obwohl aufwachen vermutlich nicht unbedingt der korrekte Ausdruck ist. Aber wie soll man es sonst nennen, wenn jemand von den Toten wiederaufersteht und nur noch ein hirnloses Ungetüm ist, das einzig seiner Fressgier folgt?

Reanimation? Wiederbelebung? Auferstehung?

Meiner Ansicht nach ist keiner dieser Ausdrücke korrekt, denn mit dem Menschen, der er einmal war, hat dieser wandelnde Tote nicht mehr das Geringste zu tun. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist dieser Körper. Doch das, was den lebenden Menschen ausmachte, seine Persönlichkeit und sein Verstand, sind mit dem Tod unweigerlich verloren gegangen. Und vermutlich ist das auch gut so, denn so bekommt er von der ganzen Scheiße wenigstens nichts mehr mit.

Hoffe ich wenigstens!

Allerdings kann ich mir dabei nicht sicher sein, schließlich weiß niemand, was in den Köpfen der wandelnden Leichen vorgeht.

Was, wenn die Persönlichkeit des Menschen auch nach seinem Tod noch immer irgendwo im verwesenden Schädel des Zombies erhalten ist, zu dem er wurde, er allerdings keine Möglichkeit mehr hat, auf den Körper einzuwirken und ihn zu steuern? So wie ein Fahrgast in einer führerlosen U-Bahn. Er müsste all dem Grauen dann voller Entsetzen und tatenlos zusehen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.

 

Der Gedanke macht mir Angst!

Ich hoffe allerdings, dass es nicht so ist. Bislang konnte ich bei keinem einzigen der lebenden Toten, denen ich in den letzten Tagen begegnet bin, seit diese Scheiße angefangen hat – und das waren beileibe nicht wenige –, auch nur einen Funken von Intelligenz oder eine Spur seiner ursprünglichen Persönlichkeit entdecken. Ich bin mir aber trotzdem nicht hundertprozentig sicher und hoffe, dass ich nie gezwungen sein werde, es am eigenen Leib zu erfahren.«

Die Stimme aus den Lautsprechern bricht ab und seufzt laut, bevor sie eine Pause einlegt, als sei sie zu erschöpft, um sogleich fortzufahren.

Als die Stimme verstummt, kommt stattdessen wieder Leben in den reglosen Körper auf dem Boden. Er stöhnt lang gezogen, als leide er Höllenqualen, bevor er sich mit der rechten Hand vom Boden abstößt und schwerfällig auf den Rücken rollt. Für einen langen Moment starrt er mit seinen toten, milchigen Augen zur Decke, dann setzt er sich auf.

Noch bevor die Stimme erneut einsetzt, hebt und wendet sich der Kopf des lebenden Toten, als habe jemand an unsichtbaren Fäden gezogen, bis sich sein Blick auf die Lautsprecher unter der Decke richtet. Anschließend rührt er sich nicht mehr, und es sieht so aus, als würde er darauf warten, dass die Stimme des Mannes erneut ertönt.

Ein Keuchen ist zu hören, es raschelt und knirscht, dann knackt es im Lautsprecher laut, weil die Aufnahme an dieser Stelle anscheinend beendet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder neu gestartet wurde.

Als die Stimme wieder ertönt, klingt sie nicht mehr so gepresst wie zuvor. Stattdessen hört sie sich leicht verwaschen an, als sei der Sprecher erschöpft oder betrunken.

Der Zombie knurrt und fletscht die Zähne. Während die Aufnahme weiterläuft, versucht er, unbeholfen auf die Beine zu kommen.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, diese Kassette zu besprechen. Vermutlich wird es ohnehin nie jemand hören, der mehr als ein halbes Dutzend intakte Gehirnzellen besitzt. Und dieses Ding im Schlafzimmer wird mir wohl kaum bewusst zuhören oder gar verstehen, was ich sage.

Natürlich wird es meine Stimme hören und in irgendeiner, vermutlich aggressiven Form darauf reagieren. Genauso, wie die anderen wandelnden Toten auf Geräusche reagieren, weil sie instinktiv wissen, dass sie in der Regel von lebenden Menschen verursacht werden und daher gleichbedeutend mit Nahrung sind. Sie werden nämlich nicht länger von einem funktionierenden Verstand, sondern nur noch von ihren Instinkten gesteuert, ohne überhaupt darüber nachzudenken, was sie tun. Von ihren Instinkten und ihrer Fressgier, die so stark ausgeprägt ist, dass sie alles in Kauf und auf sich nehmen, sogar die eigene Vernichtung, um an ihre bevorzugte Nahrung zu kommen. Bei der es sich bedauerlicherweise um jeden lebenden Organismus handelt, der sich nicht zur Wehr setzen oder schnell genug aus dem Staub machen kann und den sie zu fassen bekommen.

Vermutlich bespreche ich diese Kassette hauptsächlich, um etwas zu tun zu haben und nicht dauernd an den Tod denken zu müssen. Denn der ist in dieser neuen Welt, in der die wandelnden Toten regieren und die Lebenden eine aussterbende Rasse sind, längst allgegenwärtig und vorherrschend. Es fällt daher schwer, etwas über die letzten Tage zu erzählen und dabei den Tod unerwähnt zu lassen.

Aber vielleicht ist diese Kassette auch nur als Vermächtnis gedacht. Damit nach meinem eigenen Tod nicht nur ein stinkender, vor sich hin faulender Kadaver von mir übrigbleibt, der wie ein Schlafwandler stöhnend durch die Gegend schlurft und nach frischem Fleisch giert. Möglicherweise findet ja irgendwann ein anderer Überlebender die besprochene Kassette und hört sich meine Geschichte an. In naher oder ferner Zukunft, wenn die Plage durch die lebenden Toten vielleicht von selbst endet, weil alle Körper so verfault und verrottet sind, dass sie sich mangels Muskeln, Sehnen und Bändern nicht mehr bewegen können und damit auch nicht länger eine Gefahr für die Lebenden darstellen.

Doch falls es bis dahin noch Jahre oder sogar Jahrzehnte dauert, weiß der Finder möglicherweise gar nicht, wie alles begonnen hat – zumindest aus meiner Sicht. Deshalb sollte ich mit meiner Erzählung wohl besser am Anfang beginnen.«

Der Zombie hat es endlich geschafft, auf die Beine zu kommen, indem er erst aufs Bett gekrochen ist und dann von dort die Füße auf den Boden gestellt und sich aufgerichtet hat. In einem noch halbwegs funktionierenden Teil seines Gehirns scheinen noch immer Bewegungsabläufe gespeichert und abrufbar zu sein, die der Mann vor seinem Tod unzählige Male absolviert hat.

Der lebende Leichnam stöhnt laut, als wolle er seinen Triumph über den schwerfälligen, unbeholfenen Körper auch akustisch kommentieren, allerdings fehlt ihm dafür die Bandbreite früherer Ausdrucksmöglichkeiten. Er wendet sich um und stapft mit steifen Gliedmaßen und schwankendem Gang zum Schrank. Vor allem das angeschwollene linke Bein macht ihm dabei Schwierigkeiten, doch er lässt sich davon nicht beirren. Sein Blick ist dabei ständig auf die Lautsprecher gerichtet, aus denen noch immer die menschliche Stimme kommt.

Die einzelnen Worte sind für den Zombie natürlich unverständlich. In seinem jetzigen Zustand weiß er nicht einmal, dass es sich um Worte handelt und sie so ausgewählt und aneinandergereiht wurden, damit sie einen Sinn ergeben. Er hört nur die menschliche Stimme und weiß instinktiv, dass sie Nahrung bedeutet. Dort, wo die Stimme ihren Ursprung hat, gibt es Nahrung. Nahrung, nach der er sich fast ebenso verzehrt wie ein Süchtiger nach seiner Droge.

Der wandelnde Tote erreicht den Schrank und rempelt ungestüm dagegen. Er hebt die Arme und streckt beide Hände nach den Lautsprechern aus, hat jedoch keine Chance, sie zu erreichen. Sie wurden absichtlich so weit oben angebracht, damit er sie nicht packen und herunterreißen kann, wodurch die Stimme des Mannes verstummt wäre. Der Zombie knurrt laut und fletscht erneut die Zähne, womit er möglicherweise seiner Verärgerung oder Frustration Ausdruck verleihen will, falls er zu derartigen Gefühlen überhaupt noch fähig ist.

Er rempelt ein weiteres Mal gegen den Schrank, heftiger diesmal, und taumelt zurück. Ohne innezuhalten, rennt er erneut dagegen und wird wieder zurückgeworfen. Er lässt sich davon jedoch weder entmutigen, noch erkennt er die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. Er hört nur die Stimme, die für Nahrung steht, und will denjenigen haben, dem die Stimme gehört, um ihn mit seinen zu Klauen gekrümmten Händen zu zerreißen und blutige Fetzen Fleisch aus seinem Körper zu beißen. Deshalb fährt er fort, gegen den Schrank anzurennen, der weder wankt, noch wackelt und dessen Türen sich auch nicht öffnen. Denn der Besitzer der Stimme hat nicht nur in weiser Voraussicht die Lautsprecher in unerreichbarer Höhe angebracht, sondern auch den Schrank an der Wand befestigt und die Türen zugeschraubt.

»Eigentlich weiß ich nicht einmal genau, wie und warum alles begann«, fährt die Stimme aus den Lautsprechern indessen fort. »Es geschah gewissermaßen von einem Tag auf den anderen. In der Nacht zuvor, als ich mich schlafen legte, schien noch alles in Ordnung zu sein, obwohl sich der Keim, Virus, oder was auch immer dafür verantwortlich war, schon auf der ganzen Welt auszubreiten begann. Und als ich am nächsten Tag, einem Samstag, aufstand, war die Welt bereits eine vollkommen andere geworden, und die Zombies begannen, die Straßen und Plätze zu beherrschen und Jagd auf die letzten Überlebenden zu machen.

Moment, ich wollte ja am Anfang beginnen. Also sollte ich mich am besten erst einmal vorstellen.«

TAG EINS

Mein Name ist Martin Gruber. Ich wuchs als viertes und letztes Kind meiner Eltern Angelika und Anton Gruber auf einem beschaulichen Bauernhof in einem oberbayerischen Dorf auf. Mir war allerdings schon früh bewusst, dass ich weder für das Dorfleben noch für die Landwirtschaft geschaffen bin. Deshalb überließ ich die Hofarbeit meinen älteren Geschwistern und studierte nach dem Abitur an der Uni in München Lehramt an Gymnasien. Nach dem Studium und dem Referendariat kam ich an ein Gymnasium im Münchner Stadtteil Maxvorstadt und unterrichte dort seit sechs Jahren in den Fächern Deutsch, Englisch und Geografie.

Zumindest tat ich das mit viel Elan und Enthusiasmus, bis die Seuche ausbrach.

Am Freitag nach Schulschluss war die Welt noch völlig in Ordnung und genau so, wie ich sie kannte und mochte. Ich hatte meine Neuntklässler an diesem Vormittag eine Erörterung schreiben lassen und nahm die Arbeiten zur Korrektur mit nach Hause. Ich lebe allein in einer kleinen Altbauwohnung in der Nähe des Gymnasiums. Meine letzte Freundin hat sich vor vier Monaten nach einem mehrwöchigen Verhältnis mit einem Kollegen aus der Bank, in der sie arbeitet, in beiderseitigem Einverständnis von mir getrennt. Da ich nichts vorhatte, spannte ich am Nachmittag aus, las auf dem Balkon im neuesten Roman von John Grisham und genoss dabei das schöne Juni-Wetter. Gegen Abend bereitete ich mir mein Lieblingsessen zu, Spaghettini Aglio e Olio con Peperoncini – schließlich konnte sich die nächsten zwei Tage niemand über den Knoblauchgeruch beschweren –, und trank zum Essen zwei Gläser Rotwein. Nach vier Monaten hatte ich mich zwar allmählich an das Alleinsein gewöhnt – vor allem meine untreue Ex vermisste ich kein bisschen –, aber beim Essen hätte ich schon gern Gesellschaft gehabt. Doch dagegen konnte ich momentan nichts machen. Außerdem wollte ich mich nicht kopfüber in die nächste Beziehung stürzen, nur um nicht allein essen zu müssen, obwohl eine Kollegin nicht abgeneigt zu sein schien, auch außerhalb der Schule mehr Zeit mit mir zu verbringen. Doch diesmal wollte ich es langsamer und bedachtsamer angehen.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was auf uns alle zukam, hätte ich vielleicht anders gehandelt. Doch als ich an diesem Freitagabend nach dem Essen begann, die ersten Erörterungen meiner Schüler zu korrigieren, ahnten vermutlich die wenigsten Menschen, welches Grauen innerhalb der nächsten zwölf Stunden über sie hereinbrechen würde.

Beim Korrigieren vergaß ich die Zeit, sodass es ruckzuck halb neun war, bis ich das nächste Mal auf die Uhr schaute. Normalerweise sah ich mir um acht die Nachrichten an, doch die hatte ich heute verpasst. Macht nichts, dachte ich und zuckte mit den Schultern, wird schon nichts Weltbewegendes passiert sein, das dich persönlich betrifft.

Tja, so kann man sich täuschen!

Ich legte den roten Stift beiseite und streckte mich, sodass meine Gelenke knackten. Dann stand ich auf und ging zur Balkontür, die ich offen gelassen hatte, weil es draußen noch immer angenehm warm war.

Als ich auf den Balkon trat, nahm ich zum ersten Mal die Schreie wahr. Sie kamen nicht aus unmittelbarer Nähe, sondern mussten ihren Ursprung mehrere Straßen entfernt haben. Außerdem konnte ich nun auch das Heulen zahlreicher Sirenen hören, die aus verschiedenen Richtungen kamen. Ich dachte sofort an randalierende Fußballfans, deren Mannschaft verloren hatte und möglicherweise bei der gerade stattfindenden Weltmeisterschaft in Brasilien aus dem Wettbewerb ausgeschieden war. Ich bin kein besonders großer Fußballfan, deshalb verfolgte ich die Spiele nur am Rande.

Ich schüttelte in stummer Empörung über ein derartiges unsoziales Verhalten den Kopf, ging in die Wohnung zurück und schloss die Balkontür, um die Schreie und Sirenen nicht länger hören zu müssen. Dann goss ich mir noch ein Glas Rotwein ein und sah mir The Wolf of Wall Street auf DVD an. Der Film dauerte fast drei Stunden, sodass ich den Fernseher erst um zwanzig vor zwölf ausmachte. Ich war todmüde und wollte nur noch ins Bett.

Bevor ich das Licht im Wohnzimmer löschte, horchte ich auf Geräusche von draußen. Ich konnte immer noch Schreie und Sirenengeheul hören. Da die Balkontür zu war, waren die Laute gedämpft, dennoch erschienen sie mir viel lauter und näher als zuvor. Dazwischen knallte es, als würde jemand Feuerwerkskörper hochgehen lassen. Oder waren das Schüsse? Aber das konnte doch nicht sein! Was war da nur los?

Egal! Was immer da draußen abging, war nicht mein Problem und ging mich nichts an. Am nächsten Morgen war bestimmt wieder alles vorbei.

Ich löschte das Licht und ging ins Bad, wo ich mich erleichterte und Zähne putzte, bevor ich mich ins Bett legte und neun Stunden durchschlief, ohne ein einziges Mal aufzuwachen.