Mutters Erbe

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Mutters Erbe
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

E. W. Schreiber



Mutters Erbe





Dieses ebook wurde erstellt bei






Inhaltsverzeichnis





Titel







Mutters Erbe







Alles Neu







ISA 1







ISA 2







ISA 3







ISA 4







ISA 5







ISA 6







ALBERTA







Impressum neobooks







Mutters Erbe



Für Agnes





Mein großer Dank gilt meinem Lektoren Team Claudia S. und Edith K.







Ein junger Mönch fragte den Meister:







Wie kann ich mich befreien?







Der Meister antwortete:







Wer hat dich nur versklavt?





Aus der Advaita-Lehre





Alles Neu



Rondas braungebrannter Körper bäumt sich auf unter meinen Berührungen. Zuvor habe ich sie in der Bar getroffen. Ganz zufällig. Wir haben stundenlang geredet. Es war, als gäbe es niemanden mehr außer uns beiden. Wir sprachen darüber, wie es uns gerade so ging im Leben, dass sie ihren Freund verlassen hatte, nachdem die Sache zu Ende gegangen war mit uns, und dass ich nach wie vor mit Baby, meiner Frau, zusammen war. Über unsere Sache von damals, sprachen wir kein Wort. Das brauchten wir auch gar nicht, denn jeder Augenblick verriet uns, dass wir nach wie vor tiefe Gefühle füreinander hatten. Rondas Augen glänzten und um ihren schmalen, ungeküssten Mund zuckte immer wieder ein leises, schlichtes, aber dennoch glückliches Lächeln, sobald ich ihr einen meiner Blicke schenkte, die sagen sollten: „Ich hör dir zu, bin ganz da. Alles, was du sagst, nehm´ ich in mir auf wie einen Schwamm. Sauge dich auf, mit Haut und Haaren.“ Das tat ich schon immer. Alles, was sie sagte, wie einen Schwamm in mich aufzusaugen. Ich mochte Rondas Stimme, ihren Wiener Akzent. Und wenn ihre Augen dabei strahlten als wäre gerade Weihnachten, wärmte mich immerzu ein tiefes Gefühl, nach unendlich vielen Leben und tausenden von Jahren, endlich wieder zu Hause zu sein. So war es auch in der Bar gewesen. Seit vielen Monaten hatten wir nichts mehr voneinander gehört. Kein Wort war mehr über ihre Lippen gekommen seit dem Tag, an dem ich unsere Verbindung brach. Sie musste brechen, der tiefen Verbindung wegen, von der sie nichts wissen wollte und ich nichts wissen sollte. Zumindest taten wir so, als wüssten wir von nichts. Von unserem sinnlichen Begehren, das wir seit geraumer Zeit schon an den Tag legten. Es war notwendig gewesen damals, dass ich ging. Mein Schmerz, den ich dabei fühlte, hatte derart abgrundtief leidvolle und zerstörerische Tendenzen in mir hervorgebracht, weil ich ja wusste, wir durften uns nun nicht mehr sehen, uns nicht in die Augen sehen, nicht berühren, uns nicht physisch nahe sein, des Abstinenzgebotes wegen, an das sich Ronda halten musste. Ich war Rondas Klientin gewesen und sie meine Psychotherapeutin.



Und jetzt liege ich da, völlig erschöpft, weil Ronda und ich uns soeben das allererste Mal geliebt haben.



Glücklich drehe ich mich neben sie. Mein Körper brennt noch immer von den hitzigen Gefühlen, die Rondas Liebkosungen bei mir entfachten. Ich blicke in Rondas wundervolle tiefbraune Augen, die mich liebevoll betrachten und von neuem auf die Suche gehen.



Alles ist neu für sie. Erotische Gefühle mit einer Frau zu teilen, kennt sie noch nicht, auch wenn sie, als sie noch verdammt jung gewesen war, einen sogenannten Ausrutscher in Sachen Lesbenliebe unternommen hatte.



„Ich liebe Dich“, haucht sie und drückt ihren warmen, weichen Körper erneut an den meinen. „Das habe ich schon immer getan.“ „Mein Gott“, denke ich, „wie süß sie ist, wie wunderschön und so voller Sehnsucht.“



Meine Hände beginnen erneut Rondas weichen Körper zu streicheln. Ronda schließt die Augen und ist am Genießen. Und ich bin am Träumen. Oh, ich liebe dieses Gefühl, wenn Ronda sich zu regen beginnt, wenn alles an und in ihr ja zu mir sagt.



„Ich liebe dich auch“, hauche ich zurück und beginne an ihrem Ohr zu knabbern. Meine Hände gleiten sanft an ihrer Seite die Hüfte hinab und suchen ihre Schenkel. Ronda spreizt sie bereitwillig für mich, und lässt mich ein, während ich an ihrem Stöhnen erkenne, dass sie mehr will. „Mehr, mehr“, hechelt sie und ich merke wieder, dass es um mich geschehen ist, in dem Moment, indem ich meine Finger zärtlich zwischen sie gleiten lasse. Ich verliere mich, vergesse mich in Rondas warmem Schoß. Ihre warme Nässe törnt mich an. Meine Finger streicheln sie. Kreisförmig, genauso wie sich meine Zunge in Rondas weit geöffneten Mund bewegt. Und dann nehme ich sie. Dringe tief in sie ein, stoße sanft meine Finger in ihren bebenden Schoß, fühle sie innerlich und wie sie ihr Becken erregt meinen Bewegungen entgegen treibt.



Ich schiebe meinen Körper tiefer, küsse dabei unentwegt jeden Millimeter ihrer duftenden Haut, bis ich endlich dort angelangt bin, wohin mich Rondas heißer Atem treibt. Noch einmal sehe ich hoch zu ihr, irre Erregung steigt in mir hoch, während sie unter mir liegt, ihre Schenkel weit geöffnet, darauf hoffend und wartend sie endlich wieder ganz und gar zu lieben, mich gänzlich in sich einlassend. Mein Kopf liegt in Rondas Scham und ich beginne tief zu atmen, während ich vor Erregung spüre, wie feucht mich Rondas Anblick macht. Ich nehme ihre Beine, lege sie über mich und Ronda lässt mich ein. Ein tiefes, erleichterndes Seufzen, dringt durch meine Ohren. Oh, wie ich es liebe. Ich will Rondas Erregung, will wissen, was sie fühlt zu nehmen und was sie zu geben vermag, wenn ich sie nehme und liebe wie noch niemand zuvor. Ronda bäumt sich von Neuem auf. Ich liebe den Geschmack ihres Schoßes, den ich schon immer schmecken wollte, und der sich nun in meinem Mund wunderbar ausbreitet, ihren heißen Atem, während sie sich mir hingibt. Ronda ist kein Fake. Und das weiß ich jetzt. Rondas Hände graben sich in mein Haar und drücken mich aufregend in sie und während sie in mir kommt, schiebe ich meine Finger so tief und aufreizend in sie, bis ihr Stöhnen verstummt.



„Isa“, haucht Ronda schwach, „Du bist einfach wunderbar. So einfühlsam und heiß“, und als sie es sagt, beginnt sie zu lachen, dreht mich unter sich und beginnt meine Lippen mit den ihren zärtlich zu liebkosen. Ihre Zunge schiebt sich aufreizend in meinen Mund. „Lass mich ein“, bettelt sie. Ich lasse sie gewähren. Rondas Hand gleitet wissend zwischen meine Beine und drückt sie sanft auseinander. „Jetzt bin ich dran“, neckt sie mich und schiebt ihren Kopf dazwischen. Ich merke, dass sie es reizt, dass sie ihn mag, meinen Geschmack, den Geschmack von Liebe. Und wie ich spüre, dass sie sich immer intensiver in mich schiebt, fordernd und zärtlich, bäumt sich auch mein Körper mit heißem Schauern Ronda entgegen.





„Ja, mein lieber Schwan! Frau Isa, das ist allerdings ein sehr heftiger Traum.“ Frau Bertrand steht der Mund ein wenig offen und sie atmet tief. Ich hoffe, ich habe meiner neuen Therapeutin nicht zu arg zugesetzt, mit den Einzelheiten meines feucht-fröhlichen Ronda-Traumes. „Selbst schuld“, denke ich. Hätte sie mich nicht danach ausgefragt, ich hätte meinen Mund gehalten. Aber so? Sie soll wissen, wo ich grad stehe in meiner Entwicklung und wie sich meine Träume momentan Rondas wegen gestalten. Und sie weiß ja, weil ich es ihr bereits am Telefon sagte, dass ich eine Therapie bei Ronda abbrechen musste, dass ich weitermachen möchte, da wo ich aufgehört habe. Alle meine Stöcke-im-Arsch loswerden will. Und nun konfrontiere ich meine neue Therapeutin mit mir und meinen erotischen Ungereimtheiten, die sich immerzu in meinen Träumen von und mit Ronda entladen.



„Frau Isa“, fragt sie gelassen nach. „Sie meinen, dass es ein Albtraum war? Wieso?“



„Na ja, ich denke mal so ganz salopp, dass es wohl jedermanns und jederfraus Albtraum wäre, feucht im Schritt aufzuwachen und zu bemerken, dass alles, was so toll war in den letzten Stunden, nicht real ist und Wunschdenken bleibt. Für mich ist so etwas ein Albtraum. Ein ganz ausgefuchster noch dazu. Mich so in Erregung zu versetzen. Also, das kann auch nur in Zusammenhang mit Ronda passieren.“



Meine neue Therapeutin, Frau Bertrand, ist eine ganz nette Person, finde ich. Ich fand sie über meine Freundin Hellena, oder zumindest, nachdem ich sie bereits nach speziellen Kriterien ausgesucht hab, hab ich meine neue Wahl Hellena mitgeteilt. Und Hellena sagte nur, dass sie bereits vor Jahren bei ihr in einer Ausbildung stand, sie immer schon als erste Wahl gesehen hätte, mir damals allerdings nicht vorgreifen wollte, in der Wahl Ronda zu nehmen. Als Therapeutin, meine ich. Und so hab ich jetzt eine neue Therapeutin. Und ich habe auch schon einen neuen Namen für sie. Schon nach der ersten Stunde war sie meine Frau Baldrian. Die, die mich runterholt, wenn ich zu arg am Gas stehe. Die, die mich beruhigt, wenn ich durch emotionales Dickicht robbe. Wenn ich drauf und dran bin, den nächsten Therapeuten abzugrasen. Sie ist die, die es schafft, dass ich bleibe, dass ich nicht abdrifte. Die meine analytischen Fähigkeiten mit einbaut, aber auch meine Fähigkeiten übersinnlich wahrnimmt. Der neue Name gibt mir Sicherheit, denn wenn ich keinen Namen hätte, wäre das ein Warnsignal, dem ich Beachtung schenken müsste. So aber glaube ich zu fühlen, dass es gut gehen wird mit ihr und mir.

 



Frau Baldrian in meinen feucht-fröhlichen Ronda Traum einzuweihen, ist meine Art, sie mit mir als Lesbe herauszufordern. Ich muss wissen, wie sie tickt, wo sie steht in ihrer Orientierung. Und ja, die Baldrian tickt hetero. Wie ich´s mir schon gedacht habe. Und das finde ich gut. Grundsätzlich ist es ja egal wie sie tickt. Aber ich habe großen Anspruch darauf, dass sie einfach nur stabil tickt, egal von welcher Seite ausgehend und zu welcher Seite auch hin pendelnd. Stabilität ist das Zauberwort. Etwas, das mir irgendwie immer gefehlt hat im Leben. Baldrian hat allerdings sehr viel Erfahrung mit der Liebe, egal welches Geschlecht. Und ich denke mal, dass ihr guter Ruf unter den Lesben nicht daher rührt, zu wenig einfühlsam und erfahren zu sein. Und ich seh´ schon, dass ich bei Baldrian richtig gelandet bin. Goldrichtig. Ohne großes Aufsehen und Tamtam. Ich habe als lesbische Klientin das Recht zu wissen, wie es sich darstellt mit der sexuellen Orientierung und Einstellung meiner Therapeutin, will ich nicht noch mal dasselbe erleben wie mit Ronda, meiner Ex-Therapeutin. Will nie wieder eine derart überforderte Therapeutin haben, in der mir ständige Übertragungen und Gegenübertragungen den letzten Nerv rauben.



Ein bisschen erschreckt hab ich Baldrian wohl, mit meiner Offenheit. Scheint doch etwas eher Selteneres zu sein, Klienten mit so losem Mundwerk und offener Seele wie meine. Doch ich merke auch schon, dass sie Herausforderungen zu nehmen weiß. Baldrian ist Trauma-Therapeutin. Genau das, was ich brauche. Und das Ronda-Thema zwischen uns beiden ins fließen zu bringen, es aus mir herauszuschälen, wird wahrlich eine Herausforderung werden. Und Baldrian wird ihr gerecht werden, dieser Aufgabe. Ich weiß das. Ich spüre so was. Daher bin ich so offen. Ganz und gar frei gebe ich mich beim Erzählen. Ich muss das tun. Ich muss sie als allererstes mit dem konfrontieren, mit dem ich Ronda zu aller Letzt konfrontiert habe. Mit mir und einem Thema, das sie nie, niemals in ihrer stabilen Funktion mir gegenüber brechen darf. Also antworte ich erstmals schamlos und ehrlich: „Ich kann Ronda immer noch spüren“, erkläre ich und zeige ihr mein jetzt scheinbar ordentliches Unbehagen. Baldrian hakt sofort nach. „Was ist es, was sie gerade fühlen, Frau Isa?“ Oh Mann, die Frau ist gut! Die sieht wohl alles. Aber eigenartig ist es schon, mit Frau Isa angesprochen zu werden. Ronda und ich haben uns ja geduzt. Doch bei Baldrian möchte ich das nicht. Es würde nie, niemals passen.



„Mein Körper brennt vor Verlangen nach Ronda. Und ich hoffe inständig, dass sich dieses Begehren bald verflüchtigen wird. Denn mit nassem Schritt den ganzen Tag durch die Gegend zu laufen, finde ich nicht besonders lustig“, sag` ich. „Gleichzeitig will ich einfach nur in ihren Armen liegen, wie ein Kind in den Armen seiner Mutter liegt. Behütet und geliebt. Ich hab das Gefühl, mit Ronda etwas von globalem Ausmaß verloren zu haben. Und danach sehne ich mich. Ich sehne mich so sehr danach, dass es kaum auszuhalten ist. Ich mag diese Sehnsucht nicht. Sie tut weh. Ich verstehe sie nicht. Sie ist für nichts gut, außer, dass ich mich sehne und das so sehr, dass ich Schmerzen habe, in jedem Muskel meines Körpers. Überall spüre ich Verspannungen. Ekelhafte, schmerzverzerrende Verkrampfungen. Und da soll noch mal einer sagen, erotische Träume wären klasse. Solange man sie mit der geträumten Person auch real nachspielen kann, ist ja auch alles gut. Ich kann aber mit Ronda nichts nachspielen. Ronda ist das Spiel. Ronda ist der Schmerz. Ronda ist der Verlust. Und durch den muss ich durch. Ronda ist für mich die personifizierte Sehnsucht, das Elixier der Einsamkeit. Die Abstinenz in Reinkultur. Und ganz ehrlich?“ Jetzt rücke ich ein wenig nervös auf meinem behaglichen Lederstuhl umher, denn auf einer Therapeuten-Couch, wie die bei Ronda, auf der aber Baldrian Platz genommen hat, werde ich mich nie wieder niederlassen. Seit Ronda meide ich jegliche Art von Couch. „Ganz ehrlich?“, wiederhole ich mich.



„Ich hasse Ronda dafür, solche Träume zu haben, und ich wünsche mir, dass Ronda sie auch hat. Solche Träume mit mir, denn dann wüsste ich wenigstens, dass auch sie darunter leidet. Das würde ich ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Und ich hasse nichts mehr als Ungerechtigkeit.“



Frau Baldrian hat einen riesengroßen Praxisraum. Und ich erinnere mich an die kleinen und mittelgroßen Probleme, die man so mitschleppt im Leben. An Rondas mittelgroßen Raum, der meinen Problemen nicht den Platz einräumen konnte, den sie benötigten. Und jetzt befinde ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit tatsächlich in einem Raum mit den Maßen, der mir für mich und meine Themen, die da anstehen, angemessen scheint. Meine Probleme passen wunderbar hinein in Baldrians Praxis, in die ich Ronda gleich mitgenommen habe.



Die Praxis ist hell und freundlich, Klangschalen und lustige Körbchen, die Beziehungskisten heißen, stehen aufgereiht auf einem Tischchen, nahe dem Fenster gelegen. Die gesamte rechte Wandseite säumt ein hölzernes Wandregal, das vollgefüllt ist mit alten, teuren Büchern, die eine Menge Wissen vermitteln, und fein säuberlich nach Thema und Autor geordnet sind. Oh, ich mag belesene Menschen. Und vor allem mag ich solche, auf die Verlass ist, die Ordnung halten. Sie strahlen Verlässlichkeit und Klarheit aus. Baldrian scheint ein Mensch zu sein, auf den ich mich verlassen darf. Ja, genauso sollte eine Therapeutin auch sein. Ich würde es bemerken, wenn sie ihre Bücher plötzlich anders anordnen würde, und ich kann ständige Wechsel nicht leiden. Baldrian hat ordentlich was auf dem Kasten. Das muss sie wohl, denn Baldrian strahlt eine Ruhe und Mitte aus, die mir unheimlich gut tut. Bei Baldrian muss ich nie, niemals, zumindest ist es bisher noch nicht geschehen, aufpassen, was da an Gefühlswellen daher schwappen könnte, hinein in mich. Baldrian hat nichts zu verbergen. Keine Ungereimtheiten, die sie irgendwie auf mich projiziert. Letztes Mal wollte ich wissen, wie sie mit möglichen Gefühlsungereimtheiten mir gegenüber umgehen würde. Ob sie mich einweihen würde, wenn sie welche hätte. Und ihre Antwort, die nicht lange auf sich warten ließ, war: „Ich weiß, Frau Isa, dass es wahrscheinlich kaum etwas gibt, dass sie mit ihren ausgeprägten Sinnen nicht gleich wahrnehmen würden. Und ja, natürlich müsste ich dann mit ihnen darüber sprechen, um zu sehen, was es ist und ob es gelöst werden kann. Ihnen gegenüber müsste ich die Sache thematisieren. Und ja, Frau Isa, das sollte man nicht bei jedem Klienten tun, aber bei ihnen ist so etwas ein Grundbaustein, eine Art Regel, an die man sich als ihr Therapeut unbedingt halten sollte, will man ihr Vertrauen nicht verlieren.“ Baldrian hat die einzig richtige Antwort gegeben, die man einer Frau wie mir nur geben kann. Die man mir geben muss, damit ich sicher bin. Und ich bin zufrieden damit. Baldrian zeigt mir dadurch, dass sie sich mir nicht überlegen fühlt und fühlen muss. Denn Baldrian und ich stehen uns gleichberechtigt auf Augenhöhe gegenüber. Auch, wenn Fachleute gerne etwas anderes berichten, nämlich, dass es keine Augenhöhe geben kann zwischen Klient und Therapeut, so täuschen sie sich gewaltig, denn so was gibt es und sollte es überall in den Therapiepraxen geben. Das allein wäre menschlich, alles andere ist verzichtbar. Und genau diese Art der Kommunikation tut mir gut. Heilt mich, weil ich es ja nie hatte, dieses jemandem bezahlte, mir in Funktion, ganz auf Augenhöhe Stehende. Das allein gibt mir Sicherheit, denn wenn mir Baldrian auf Augenhöhe begegnet, ist sie authentisch. Sie muss sich nicht verstellen. Genauso war es auch anfangs zwischen Ronda und mir. Wir begegneten uns zwar als Therapeutin und Klientin, aber immer auf Augenhöhe. Bis, ja, bis sich authentisch sein ins Nichts verflüchtigt hatte. Baldrian hat sich eindeutig voll und ganz unter Kontrolle. Kennt sich und weiß eindeutig, sich in allem zu geben, wie sie eben ist. Authentisch echt. Und das macht mir Mut. Baldrian ist eindeutig klar im Kopf und rein in der Seele. Und das wird sicher auch an ihrer enormen Lebenserfahrung liegen, denke ich mal. Denn Baldrian geht mittlerweile auf die Sechzig zu. So ein verdammtes Glück aber auch, nach einer Windsbraut, wie ich sie durch Ronda erlebt habe, endlich auf eine normal tickende, keine Dachschaden bedingte, homophobe Therapeutin gelangt zu sein. Ich muss also irgendetwas richtig gemacht haben in meinem Leben, um einem Menschen zu begegnen, der mir diese Sicherheit vermitteln kann. Aber vor allem, der mir das Gefühl gibt, nicht absonderlich und schuld zu sein, an den Miseren des Lebens.





Mit Argusaugen beobachten Sonja und Hellena, aber auch meine Frau, mein Treiben. Sie wissen, wie wichtig es jetzt für mich ist, die für mich richtige Therapeutin zu finden. Sie alle passen gehörig auf auf mich, weil ich meinen Gefühlen nur noch schwer trauen kann, seit Ronda. Meine Sonja, die sich mit mir immer allen Winden zum Trotz entgegenstellt. Und Hellena, die andere Stürme mit mir zu meistern versteht. Und Baby, meine Frau, ja Baby, mein Globuli gegen Herzschmerzen und Unpässlichkeit achtet stets darauf, dass mein Schutznetz, das die Drei mir bieten, nie, niemals reißt. Denn sie weiß um meine Macht, dieses Netz mit einem Schlag zerstören zu können. Einer Macht, die destruktiv und zerstörerisch sein kann, wie meine Macht, den Dingen einfach ihren Freiraum, ihre Lebendigkeit zu geben, die es benötigt, um wachsen und gedeihen zu können. Baby weiß, ich bin ein Heimatbieter. Und mir ist klar, dass jemand, der Heimat zu schaffen vermag, diese auch zerstören kann. Und das darf nicht passieren. Nicht Rondas wegen. Doch seitdem Ronda aus meinem Leben getreten ist, weht ein anderer Wind, ein rauer, eiskalter, noch scheinheiligerer Wind. Er ist nicht fassbar, und in seiner Natur völlig unberechenbar. Wenn er weht, dann telepathisch. Und, wenn er zu einem Sturm anwächst in all seiner Kraft, entsteht eine Art Astralkörperwesen, das mich einzunehmen beginnt, mich umhüllt mit all seinen innewohnenden Gefühlen, die nicht nur mir allein, sondern auch zu Ronda gehören. Ronda war mein Spiegel. Jemand, der mir so ähnlich war, dass es mir unmöglich war länger hinein zu blicken. Es war zu viel, was ich gesehen hab. Also musste ich meinen Weg alleine und ohne Ronda weitergehen. Nach meinem eigenen Tempo und meiner eigenen Art, die Dinge anzupacken. Bei Sonja, Hellena, meiner Frau und jetzt auch noch bei Baldrian, die mir Schutz im Außen bieten, bin ich aber in guten Händen. Weil sie anders sind als ich. Mir nicht permanent mein Ich vor den Latz knallen, damit ich auch Verschnaufpausen von mir selber habe und die ich ja auch brauche, um mich finden zu können. Ich weiß das. Und daran halte ich mich fest.



Es ist jetzt schon eine ganze Weile her, dass ich Ronda das letzte Mal gesehen habe. Und weil mich meine Seele zärtlich dazu gedrängt hatte, meinen übersinnlichen Fähigkeiten einer erneuten Schulung zuzuführen, kurz nachdem ich Ronda aus meinem Leben verabschieden musste, damit ich meinem schwindenden Selbstvertrauen in Sachen übersinnliche Wahrnehmung nicht noch mehr Futter biete, um zu wachsen, kam es, dass ich mich auf eine weitere Ausbildung einließ. Und jetzt erinnere ich mich, wie das war. Damals.





Ich suchte nach einem spirituellen Lehrer. Jemandem, der mich ein wenig unterstützen könnte in meiner metaphorischen Entwicklung. Einen Schamanen vielleicht. Aber finde hier in Klagenfurt mal einen echten Schamanen! Und das war gar nicht einfach, einen ehrlichen, nicht Geld zentrierten, machtbesessenen zu finden. Ich wollte keinen, der sich seine Schüler als Anhängsel seines Egos an den Arsch tackert, um mit einem Gefolge im Schlepptau zum Guru erhoben zu werden. Nach Polynesien zu fliegen, um meiner Schamanin von damals wieder zu begegnen, ließ weder mein Umfeld noch meine Geldtasche zu. Also entschied ich mich für einen meiner früheren Lehrer im Bereich Rückführungen. Eine Clearingleiter-Ausbildung hat er anzubieten. Was das ist? Oh Mann, das zu beschreiben käme einer exorzistischen Orgie gleich, für die ich noch keine Worte habe. In der Clearingleiter-Ausbildung treffe ich also Sall wieder. Eine Frau meines Geschmacks. Nein, nicht sexuell. Weltoffen, sinnlich, aber vor allem herzerwärmend ehrlich. Mit Sall, und das fanden wir beide schon in unserer vor Jahren absolvierten, reinkarnationstherapeutischen Ausbildung heraus, verbindet mich ein unsichtbares Band, zu dem wir noch nicht vorgedrungen sind. Es war noch nicht an der Zeit, so dachten wir. Und jetzt steht Sall vor mir. Ihr langes blondes Haar hat sie wie damals lässig über die Schultern geworfen, ihre glasklaren blauen Augen strahlen mir schon von der Weite aus entgegen. Irgendwie, so finde ich, sieht Sall aus wie Agneta von Abba.

 



Mit gestreckten Armen kommt sie mir entgegen, nein laufend, beinahe sprintend fallen wir übereinander her, vor Freude, dass uns unser Schicksal wieder vereint. Jetzt in einer Zeit des Aufbruchs und des erneuten Lernens. Wir haben uns also wieder. Sall und ich.



So sitzen wir nebeneinander während der Ausbildungszeit. Wollen uns nicht trennen voneinander. Wir sind sechsundzwanzig Teilnehmer und unser Ausbilder Kurt macht uns gleich zu Anfang klar, dass es im Laufe der Ausbildung nicht bei den sechsundzwanzig bleiben wird. Erfahrungsgemäß werden maximal fünf von uns den Abschluss schaffen.



Oh Mann, das sind vielleicht Aussichten. Aber egal. Sall und ich grinsen uns zu, weil wir wissen, das alles seinen Sinn und Zweck hat. Und selbst, wenn wir unter jenen zu finden sind, die aus Angst oder anderen Beweggründen zu den Abbrechern gehören, so wissen wir, dass wir wenigstens uns wieder gefunden haben. Sall und ich sind also relaxt in dieser Sache und quälen uns nicht weiter mit Grübeleien, wer von uns es wohl schaffen wird, die Ausbildung, mit der wir scheinbar den ärgsten Arschlöchern, die es gibt, begegnen werden. Zumindest sagt Kurt das.



Ich gehe mal konkret davon aus, dass, egal welches Arschloch auch immer mir hier begegnen könnte, es mich nicht von der Rolle hauen wird. Ich meine, was sollte mir nach all der Scheiße, die ich mir im Leben schon ansehen, mir hab reinziehen müssen, noch so arg zusetzen können, dass es mir den Atem nimmt?



So hänge ich relaxt in meinem Stuhl. Sall rechts neben mir und links neben mir beginnt ein halbstarker Dreißigjähriger mit wildem Zucken meine Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Beine schlagen aus, während seine Hände wie elektrisiert nach vor schnellen. Sein Blick gesenkt, die Augen geschlossen, fabriziert der eine wahre Tanzshow der Superlative und ich muss aufpassen, dass der mich nicht erschlägt, mit seinen Gebeinen.



Kurt blickt aufmerksam durch die in U-Form angereihte Runde.



Ich ahne schon, was der uns soeben zeigen will, bleibe aber zentriert und lausche meinem Atem. Nacheinander beginnen sich die Leute zu rühren, einer nach dem anderen. Mir schräg gegenüber lässt eine Frau um die Fünfzig ein lautes, gequältes Stöhnen durch den Raum gällen. Und wieder eine andere reibt sich die Beine, weil sie ihr scheinbar eingeschlafen sind.



Langsam, aber sicher wird mir klar, dass ich hier zu jenen gehöre, denen es noch immer gut geht und will nun wissen, was hier abgeht. Zum Henker, denke ich, bin ich hier in ´ner Folterkammer gelandet, in der die Menschen plötzlich von Schmerzen und Seelenqualen befallen werden, die sie vorher noch nicht hatten? Da bin ich jetzt ja mal gespannt, wie das weiter geht und vor allem, wie Kurt das schaffen will, die ganze Horde wieder zu beruhigen.



Neben mir höre ich Sall und wie sich ihr Atem verändert. „Isa“, haucht sie. „Sall, was gibt’s?“, will ich wissen. Doch Sall sagt immer nur „Isa, oh Isa.“ So stoße ich Sall jetzt von der Seite aus an. Will wissen, was sie hat. Sall ist in tiefer Trance. Na ja, macht ja nichts, denke ich nur und lasse sie weiter Isa‘en. Kurt blickt mich durchdringend an, während ich mit ihm gemeinsam das unheimliche Geschehen beobachte. Dann macht er sich auf und tritt hinter jeden Einzelnen hin. Einen nach dem anderen grast er ab, um ihnen seine Hand auf den Kopf zu legen. Bei mir angekommen beugt er sich vor und flüstert: „Beobachte einfach weiter und spüre was hier los ist. Eine Erklärung gibt es später.“ Ich lehne mich also wieder zurück in meinen Stuhl und bemerke, weil ich Kurts Ratschlag befolge, wie sich der gesamte Raum dunkel durchzieht. Sekunden später befinde ich mich außerhalb meines Körpers. Nicht dissoziieren, flehe ich. Nicht jetzt, bitte nicht jetzt. Aber ich merke auch schon, dass ich eine mir sehr bekannte Position eingenommen habe, die es mir ermöglicht, mehr zu sehen, mehr zu erkennen als ich es, würde ich in meinem Körper verweilen, könnte. Kurt sieht mich kurz aber eindringlich an und nickt bestätigend, geht dann an Sall vorüber und lässt sie weiter „Isa, Isa“ grummeln. Warum er das tut, weiß ich nicht recht, aber es scheint, als ob er Sall noch zu etwas brauchen würde, und sie deshalb aus ihrer Lage nicht befreit. Egal. Ich schwebe also über den Köpfen der Leute und genieße den Ausblick der Andersartigkeit. Kurz kommt es mir, dass ich diesen Ausblick schon so oft bei Ronda in ihrer Praxis genossen hatte, und erinnere mich sogleich, dass ich, wenn ich es nur wollte, zwischen meinem Körper und dem draußen hin und her wechseln kann. Ich beginne also zu switchen. Gehe in mich rein, dann wieder raus. Das ist lustig. Rein, raus. Das ist einfach.



Jetzt versuche ich in meinem Körper zu verbleiben. Und mit einem Mal spüre ich, wie sich mir, während Kurt einem nach dem anderen wieder aus seiner misslichen Lage befreit, die Leute wieder befreit aufatmen, eine Welle von fremden Gefühlen und Gedanken an mich heran schwappen. Oh Mann, nicht schon wieder. Ich will mit all diesen Gefühlen in mir nicht nach Hause fahren. Meine Frau tut mir ja jetzt schon leid, müsste sie sich dem gesamten Haufen Fremdenergien widmen, nur damit ich sie wieder loswerde. „Konzentrieren, Isa“, sag ich mir und schaue in den düsteren Berg der sich heranwälzenden Wolke, die sich wie eine Flutwelle an mich heran schiebt. Sie macht mir keine Angst, diese Welle, warum weiß ich auch nicht. Es ist einfach so. Die Clearingleiter-Ausbildung mache ich ja gerade wegen der Möglichkeit, fremde Energien, die sich in mich bohren, auf die rechte Weise wieder loswerden zu können, ohne dabei ständig meine Frau mit einbeziehen zu müssen. Und während ich so beim Schauen bin, empfinde ich eine Traurigkeit, die mich in meinem Stuhl zusammensacken lässt. Danach kommt eine Salve Wut, gepaart mit Hunger nach mehr Wissen und Erkenntnis. Ich richte mich wieder auf in meinem Stuhl, sollen sie kommen, die Gefühle anderer. Ich kenne sie alle. Die tiefen abartigen, dunklen Täler der Seele. Sie können mir nichts anhaben. Nicht jetzt. Nie wieder. Ich stell mir vor, wie ich die Wolke zu einem Ball in meinen Händen forme, ihn halte und erinnere mich plötzlich, wie aus dem nichts, an meine Erlebnisse im Dschungel inmitten des Pazifiks. Habe die Schamanin vor Augen, die mit ihren Händen immerzu, wenn sie mir ihre Welt zeigte, einen Ball formte und ihn dann sanft gehen ließ. Wohin weiß ich nicht. Aber das versuche ich jetzt. Ich halte also die Energien der Gruppe in meinen Händen, forme sie zu einem Ball, drücke ihn kleiner, fester und entlasse ihn mit dem Gefühl der Dankbarkeit und Liebe, mit der ich das Gebilde einhülle. Wie einen Mantel. Sall hockt noch immer murmelnd neben mir. Erst jetzt erkenne ich, dass sich ihre Stimme in drei verschiedene Stimmen umgewandelt hat, mit denen sie unterschiedliche Dinge von sich gibt. Ich finde das sehr spannend und will wissen, wie sie das macht, mit mehreren Stimmen sprechen. Und wie ich es mir wünsche, zu erfahren wie das geht, kommt Kurt schon auf Sall zu und bittet sie in die Mitte des Raumes. Sall ist nach wie vor in tiefer Trance, kriegt irgendwie so gar nichts recht mit. Aber ich passe auf. Sall weiß das. Wir passen aufeinander auf, dass nichts geschieht, dass der anderen Schaden zufügen könnte. Die Leute rundum sind scheinbar wieder ganz sie selbst und starren neugierig Sall an, die sich soeben auf die Liege legt. Kurt setzt sich zu ihr und beginnt mit ihr ein Gespräch. „Der wird nichts rauskriegen aus ihr“, denke ich schnell und bin ganz perplex, weil ich sehe, dass Sall tatsächlich zu reden beginnt. Sie hat eine Stimme aufgesetzt, die nicht die ihre ist. Sie ist weiblich, aber sehr tief. Bariton Art. Oh Mann. „Da ist aber wer verdammt böse“, kommt es mir, und Sall stößt im Wiener Dialekt „Verzieh dich!“ hervor. „Verzieh dich, du Volltrottel. Wo ist meine Tochter? Ich will meine Tochter? Isa, mein Kind!“ Kurt bleibt ruhig. Will wissen, wer es ist, der hier durch Sall spricht. Aber er kriegt keine Antwort. Muss er auch nicht, erklärt er, er wird Sall aber trotzdem dabei helfen, diese Wesenheit aus ihr zu entfernen. Es wird ihm allerdings nicht gelingen, nicht so schnell, ahne ich. Denn ich weiß, wessen Energie hier spricht. Ich weiß es, weil ich die Angst darin kenne, weil ich die Wellenbewegung studiert hab. Mein Leben lang. Es ist die Stimme meiner Mutter. Meiner Huren-Mutter Alberta. Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Und ich seh´ schon, wie sich der eine und a