Earl Dumarest 27: Die Erde ist der Himmel

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Aus der Reihe: Earl Dumarest #27
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Earl Dumarest 27: Die Erde ist der Himmel
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Aus dem Englischen von

Dirk van den Boom


Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

September 2020



Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel

Earth is Heaven Copyright © 1982 by E. C. Tubb Vermittelt durch Philip Harbottle Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-706-2 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-751-2 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet: www.atlantis-verlag.de

1

Er wurde mit einem Ruck wach, aufgeschreckt aus einem Traum voller Blut, Tod und der Erinnerung an Schmerzen. Die Wände der Kabine schienen im schwachen Licht des künstlichen Sonnenaufgangs zu verschwimmen, dann war es vorbei und Dumarest saß auf dem Rand seiner Koje, sog Luft in seine Lungen und spürte den Schweiß auf seinem Gesicht und dem nackten Oberkörper. Das Produkt eines Albtraums, geboren aus Erschöpfung, die wiederum das Resultat zu vieler Dienstschichten für eine zu lange Zeit gewesen war. Und jetzt?

Er lehnte sich zurück, um seine Schulter an der Wand auszuruhen, spürte das Metall, die Koje, in der er saß, und das Schiff, zu dem sie beide gehörten. Es umschloss ihn wie ein Lebewesen, das Pulsieren des Antriebs wurde durch die Hülle weitergeleitet und durch die Streben ließ sich ein flüsterndes Surren spüren, wie ein abnehmendes Geisterecho in der Luft. Unter seinen suchenden Fingern fand er das beruhigende Kitzeln des aktiven Erhaft-Feldes. Das Schiff, in dessen Kokon eingehüllt, schoss weiterhin durch das Weltall. Es erzeugte eine versiegelte Welt voller Wärme und Sicherheit, geschützt vor der Feindseligkeit des Nichts.

Dennoch war etwas nicht in Ordnung.

Dumarest spürte es, als er sich in der Kabine umsah; die vertraute Spannung, die ihn vor sich nähernder Gefahr warnte. Ein Prickeln auf seiner Haut und eine Unruhe, die niemals zu ignorieren er gelernt hatte. Er stand auf, griff nach seiner Kleidung, zog die Hosen an, die Stiefel und die Tunika, um dann in neutralem Grau dazustehen. Unter seinem Kissen holte er sein Messer hervor, der Stahl blitzte, als er die gekrümmte und spitz zulaufende Klinge in seinen rechten Stiefel steckte. Hier, in seiner Kabine auf seinem eigenen Schiff, sollte er sicher sein, aber alte Gewohnheiten streifte man nur schwer ab.

Ysanne erhob sich, als er ihre Tür öffnete, die Arme ausgebreitet und sie anlächelnd.

»Earl! Wie schön, dass du kommst. Wie hast du geahnt, dass ich gehofft habe, du würdest dich zu mir gesellen?« Ihr Lächeln gefror, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ärger?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht.«

»Das Feld?« Sie berührte die Wand, wiederholte seinen früheren Test, und er bemerkte ihre Erleichterung über das, was sie spürte. »Es ist immer noch aktiv. Wir treiben nicht, Gott sei Dank! Was ist also los?«

»Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gefühl.« Dumarest sah die Frau an, ihr Haar, ihr Gesicht, die sanften Konturen ihres Körpers, enthüllt durch die herunterfallende Decke. Schaute und sah nichts anderes als die Spezialistin, die sie war. »Geh zu Andre und überprüfe alles. Ich bin bei Jed.«

Craig bewegte sich nicht, als Dumarest den Maschinenraum betrat. Der Ingenieur saß zusammengesunken vor seiner Konsole, eine Flasche an seiner Seite, ein Röhrchen mit Tabletten in der Nähe seiner Hand. Ein breiter Mann, nicht mehr jung, mit rostfarbenem Haar, das einen Helm um seinen Kopf bildete. Das Narbengewebe, das sein Gesicht ruinierte, schimmerte vor reflektiertem Licht. »Jed?«

»Ich habe nicht geschlafen!« Craig ruckte hoch, als Dumarest seine Schulter berührte. »Ich habe nur meinen Kopf abgestützt – er schmerzt mir wie verrückt.«

Dumarest sagte nichts, bemerkte den Schweiß auf dem Gesicht des Mannes, die Geschwindigkeit seines Atems. Er erhob die Flasche und kostete, es war gesüßtes und mit Zitrone versetztes Wasser. Die Tabletten waren gegen den Schmerz.

»Ich brauche einen vollständigen Check aller Anlagen. Beginne mit dem Generator!«, sagte er.

»Alles in Ordnung!« Craig wies auf die Konsole. »Siehst du? Alles grün. Keine nennenswerte Abweichung. Alles so, wie es sein sollte. Eine neue Einheit, Earl. Und ich habe den Einbau selbst überwacht!«

Das war die Wahrheit und die Überprüfung bewies ihre Effizienz. Genauso wie bei der Energieversorgung, den Monitoren, den Leitungen und den Servos.

Batrun rief aus dem Kontrollraum an. »Ysanne erzählte mir von deinen Befürchtungen, Earl. Hast du etwas gefunden?«

»Noch nicht, Andre. Und du?«

»Alles funktioniert, wie es das sollte. Vielleicht hattest du einen Albtraum. Ysanne …« Ihre Stimme erklang anstelle der des Captains. »Alles in Ordnung, soweit ich das sehen kann, Earl. Aber wir nähern uns jetzt der Chandorah. Wir müssen den Kurs ändern, wenn wir sie vermeiden wollen.« Sie fügte nachdenklich hinzu: »Vielleicht kommt deine Ahnung daher. Die Chandorah ist für jedes Schiff eine Gefahr. Du wusstest, dass wir ihr nahe kommen, und das könnte sich auf dein Unterbewusstsein ausgewirkt haben.«

Vielleicht, aber Dumarest war nicht überzeugt. Er sagte: »Wie geht es deinem Kopf?«

»Er fühlt sich schwer an. Warum?«

»Andre?«

»Ein leichter Schmerz. Pillen werden helfen.«

Die Pillen hätten den Schmerz des Ingenieurs bekämpfen sollen, aber gerade jetzt, als sich Dumarest zu ihm umdrehte, sah er, wie er weitere schluckte. Kopfschmerzen … seine eigenen Schläfen hatten zu pulsieren begonnen, waren heiß geworden – warum nur war er so blind gewesen?

»Die Luft«, sagte er. »Etwas ist mit der Luft nicht in Ordnung. Lasst uns die Luftversorgung prüfen.«

Der Zugang lag hinter einem Panel, er führte in eine krude verzierte Sektion. Graffiti zeigten eine Vielzahl von Bildern, Hieroglyphen, Namen. Kratzer waren von verschiedenen Händen hinzugefügt worden, gelangweilte Söldner, Passagiere, Mannschaftsmitglieder, arme Gestalten, die man gefangen gehalten hatte, bevor sie in die Sklaverei verkauft worden waren. In ihrer Laufbahn hatte die Erce sie alle transportiert.

Das Panel war gut zwei Meter hoch, etwa einen Meter breit, festgehalten mit hexagonalen Bolzen. Ein unbekannter Künstler hatte ein Bild grotesker Obszönität darauf gemalt. Es verschwamm, als Dumarest seinen Schraubenschlüssel schwang, der Schweiß in seinen Augen stach und das Bild dadurch eine andere Form annahm. Die sich windenden Gliedmaßen wurden zu einer Dekoration der zentralen Figur, das absichtlich grausam gezeichnete Gesicht verwandelte sich in einen Totenkopf. Eine optische Illusion, die den Beobachter daran erinnerte, dass nicht immer alles so war, wie es erschien.

Jed grunzte, als das Panel aufschwang. »Ich überprüfe es. Da ist kein Platz für zwei und ich weiß, was zu tun ist.« Er fummelte an der Seite der Öffnung und Licht flammte auf, um Gitter zu beleuchten, an denen kleine Fetzen bunten Materials hingen, die im Luftstrom flatterten. »Wir haben Luftumwälzung, immerhin. Gebt mir etwas Zeit und ich mache einen vollständigen Bericht.«

Dumarest sagte: »Finde einfach nur heraus, was nicht in Ordnung ist.«

Er wartete, als der Ingenieur sich in die Anlage niederließ, hörte Gekratze und metallische Geräusche, ein dumpfes Fluchen. Als Craig zurückkam, wurde er deutlich.

»Sie ist tot, Earl. Die Ventilatoren arbeiten, aber die Luftaustauscher sind nutzlos. Wir sind bei negativer Effizienz. Es sind die Katalysatoren«, erklärte er. »Du weißt, wie sie arbeiten. Luft zirkuliert durch die Austauscher und Verschmutzung wird entfernt, Staub, Gestank: alles. Die Katalysatoren regulieren den Sauerstoffgehalt. Unsere nicht mehr.«

»Reparaturen?«

»Klar. Sobald ich Ersatzteile habe.«

Keine Lösung angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen. Dumarest sagte: »Kannst du etwas mit Bordmitteln tun? Einheiten neu bauen oder überholen?«

 

Als Antwort hielt Craig ihm ein Ding aus Plastik und Metall entgegen. Es war verbogen, voller Löcher, zerschrammt und abgenutzt, kaum noch als Katalysatoreinheit zu erkennen.

»Die anderen sehen genauso aus.«

Kaum mehr als Schrott. »Wie lange, Jed?«

»Wie lange wir noch atmen können?« Craig runzelte die Stirn, berührte mit einer Hand die Narbe in seinem Gesicht. »Nicht mehr lange«, entschied er. »Ein paar Tage, eine Woche höchstens. Wenn wir alle Ressourcen nutzen. Wir müssen landen, Earl, und das bald.«

Die Entscheidung wurde von Ysanne unterstützt, als sie sich im Salon zu Dumarest gesellte, bewaffnet mit ihren Karten und Almanachen. »Mit Luft für nur noch eine Woche haben wir wenig Auswahl. Wir können Aschem oder Trube erreichen. Aschem ist am nächsten. Wir könnten bald dort sein.«

»Hätten wir den Zusammenbruch erst in ein paar Tagen gefunden, welche Optionen hätten wir gehabt?«

»Aschem«, sagte sie, ohne zu zögern. »Liegt direkt auf Kurs.«

Und auf Aschem würden die Cyclan warten.

Dumarest war sich dessen sicher. Die schale Luft hätte ihnen keine andere Wahl gelassen als dieses Ziel, und hätte sein Instinkt nicht funktioniert, wäre die beschädigte Anlage nicht entdeckt worden. Die Kopfschmerzen hätte man der allseitigen Erschöpfung zugeschrieben, ebenso die Müdigkeit und das Schwitzen, nicht mehr als eine zusätzliche Lästigkeit. Der steigende Anteil des Kohlendioxids wäre wie ein Gift gewesen, das jede Intelligenz eingelullt hätte, die zur Entdeckung des Problems notwendig gewesen wäre.

Sabotage. Der Vorfall stank danach, aber er sagte nichts.

»Earl?« Ysanne starrte ihn stirnrunzelnd an. »Wir müssen eines der Ziele wählen«, erinnerte sie ihn. »Soll ich Kurs auf Trube einschlagen?«

»Nein.«

»Aber …«

»Wir bleiben auf unserem aktuellen Kurs.« Er wollte das Unerwartete tun, die wartende Falle vermeiden. Er sagte: »Jed war zu pessimistisch. Wir können es länger als eine Woche aushalten. Und wir können es eine Weile auch ohne Ersatzteile schaffen. Alles, was wir brauchen, ist eine Welt mit atembarer Luft. Es ist deine Aufgabe, uns eine zu finden.«

»Ich bin eine Navigatorin«, sagte sie angespannt. »Ich vollbringe keine Wunder. Und falls du es vergessen haben solltest: Wir fliegen in die Chandorah.«

Eine Region voller Gefahren für jedes Raumfahrzeug, das sich ihr näherte. Dieselbe Strahlung, die den Sternen ihren schönen Glanz verlieh, zerriss den Weltraum mit brutaler Kraft, erfüllte ihn mit aufbrandenden Wellen, die durch ätherische Strömungen gefangen und geführt wahre Strudel von Gravitationskräften und damit Gebiete wilder Zerstörung schufen. Diese Strudel konnten ein Schiff packen und in eine Parodie seiner ursprünglichen Form verbiegen. Die Energien würden Metall in schimmernden Staub verwandeln, Fleisch und Knochen in diffundierendes Gas.

Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Haben wir keine Wahl?«

»Nein.«

»Ich erinnere dich daran, dass es auch um deinen Hals geht«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, warum du nicht auf Aschem landen willst. Die Cyclan. Ich weiß, dass sie hinter dir her sind, und eines Tages werde ich vielleicht sogar erfahren, warum.« Sie schaute auf ihre zur Faust geballten Hand, die auf einer Sternenkarte lag. »Eines Tages, wenn du mir ausreichend traust.«

Ein Wissen, ohne das es ihr besser ging. Dumarest erwiderte ruhig: »Kannst du es schaffen? Eine Welt finden, auf der wir Luft aufnehmen können?«

»In der Chandorah, innerhalb einer Woche?« Ihr Schulterzucken war eindeutig. »Ich kann nur hoffen, dass die Zeit reicht.«

Es hatte keine Trauerrituale gegeben. Der Vorfall war von den Cyclan mit der üblichen Effizienz erledigt worden, die gleichermaßen ihr Stolz wie ihre Macht war. Elge war tot, Körper und Gehirn waren zu Staub reduziert worden und das einzige Bedauern mochte darüber bestehen, dass die hohe Intelligenz, die ihn einst so hoch hinausgetragen hatte, nun verloren war. Jetzt war er nichts mehr als eine Notiz in den Datenbanken und ein neuer Cyber Prime würde seinen Platz einnehmen.

Er selbst? Avro dachte darüber nach, als er die Kammer verließ, in der er die Entsorgung überwacht hatte. Er war für die Position geeignet, ein Urteil basierend auf klarer Analyse und keinesfalls auf Stolz. Er verfügte über alle notwendigen Eigenschaften und seine Laufbahn war makellos. Seit seiner frühen Kindheit, als neuer Rekrut, später als Akolyth und dann als Cyber, hatte er hart und gut gearbeitet und die höchsten Bewertungen verdient. Nun kalkulierte er seine Chancen, benutzte seine antrainierten Fähigkeiten, um die Fakten zu evaluieren und den wahrscheinlichsten Ausgang künftiger Ereignisse zu extrapolieren.

Er würde zu jenen gehören, die der Rat für die Vakanz in Betracht ziehen würde, die Wahrscheinlichkeit dafür lag nahe an absoluter Sicherheit. Er würde allen vorgezogen werden, mit einer Ausnahme – Marle war der zweite Kandidat. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn ihm vorziehen würde, lag im Bereich von …

»Meister!« Die Gestalt in der lila Robe unterbrach seine Überlegungen, als der Cyber um seine Aufmerksamkeit bat. »Der Rat verlangt Ihre Anwesenheit. Folgen Sie mir.«

Das Ritual war voller uralter Bezüge. Es war geboren aus der Notwendigkeit, dass der Rat jeden zukünftigen Cyber Prime daran zu erinnern hatte, dass der Rat und nicht der Anführer die wahre Macht unter den Cyclan darstellte. Dies würde wilde Ambitionen kontrollieren und Abweichungen vom Masterplan verhindern, eine bewährte Notwendigkeit, wie die jüngsten Ereignisse gezeigt hatten. Wäre Elge nicht eliminiert worden, wenn der Irrsinn, der von ihm Besitz ergriffen hatte, unbehindert gewachsen wäre, hätte das Ergebnis Chaos bedeutet.

Dennoch, wenn er vernünftig und effizient blieb, war der Cyber Prime sicher das mächtigste Individuum, das die Galaxis jemals gekannt hatte.

Und die Cyclan waren die mächtigste Organisation.

»Berichten Sie!« Dekel saß dem Rat vor. Er trohnte am Kopfende des langen Tisches, sein dünnes Gesicht im Schatten der Kapuze seiner Robe verborgen. Er war ein alter Mann, wie sie alle alt waren, da es Zeit benötigte, so eine Position zu erreichen, die Erfahrung zu erlangen, die das notwendige Urteilsvermögen erlaubte. Mehr Zeit, um Effizienz über alles zu stellen. Diese Fähigkeit wurde nun von Dekel unter Beweis gestellt – es gab keinen Grund, warum Avro Zeit verschwenden sollte, wenn er seinen Abschlussbericht auch geben konnte, ehe der Rat über die Nachfolge entschieden hatte.

Er sagte: »Elge wurde entsorgt. Die Auslöschung ist vollständig und die Asche wurde verstreut.«

Ein Leben, das im Scheitern endete, war für alle Cyclan das schlimmste Verbrechen. Es wurde mit vollständiger Auslöschung bestraft. Für den verstorbenen Prime gab es die Ehre nicht, dass sein Gehirn mit dem anderer verbunden wurde, die den massiven Komplex der Zentralintelligenz bildeten. Dort, versiegelt, mit Nährstoffen gefüttert, versorgt und geschützt, hätte er seine Existenz fortgesetzt, lebend, ein Geist, befreit von den störenden Begrenzungen eines Körpers. Das Ziel, nach dem jeder Cyber strebte. Eines, das Elge verlor.

»Er war verrückt«, sagte Thern von seinem Sitzplatz in der Nähe Dekels. »Wahnsinnig. Wir können nur hoffen, dass seine Untersuchungen nicht dazu beigetragen haben, die Beeinträchtigungen der beobachteten Einheiten zu vergrößern.«

Boule sagte: »Sollten wir den Befehl, sie nicht zu zerstören, noch einmal überdenken?«

Avro merkte, dass die Frage an ihn gerichtet war. Er antwortete, ohne zu zögern, denn jede Zögerlichkeit war nur ein Zeichen von Unentschlossenheit: »Nein. Elges Vernunft war zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht beeinträchtigt. Isoliert, wie sie sind, bleiben die Einheiten so sicher wie eh und je. Wir können vieles von ihnen lernen. Zerstört sind sie ohne Wert.«

»Das Problem bleibt aber bestehen.«

Und würde weiter bestehen bleiben, ehe sie nicht die Ursache der Erkrankung ergründeten und vernichteten, die einige der Gehirne in den Wahnsinn trieb.

Icelus, erst vor Kurzem in den Rat berufen, sagte: »Ihre Schlussfolgerungen?«

War das ein Test? Jeder Zug, den er machte, jedes Wort, das er seit Elges Sturz gesagt hatte, war ein Test gewesen. Das Offensichtliche zu wiederholen, würde seine mangelnde Effizienz unter Beweis stellen. Es würde sicherstellen, dass er niemals eine höhere Autorität innehaben würde als jene, die er zurzeit genoss.

War Marle geprüft worden?

Wie konnte er seine herausragende Eignung beweisen?

Nach einem kurzen Moment löste sich persönliche Ambition im größeren Nutzen auf. Ein Cyber diente den Cyclan, aber niemals sich selbst. Stolz, Gier, Wut, Hass, Liebe – all dies waren Emotionen, die durch Training und Operationen beseitigt worden waren, um einen lebendigen Roboter aus Fleisch und Blut zu hinterlassen. Effizienz, Vernunft, Logik – das war die Basis des Denkens eines jeden Cybers und die Wurzel seiner Existenz. Alles andere war verrückt.

Avro sagte: »Der Erhalt der Effizienz der Zentralintelligenz ist von höchster Bedeutung. Diese Effizienz zu erhalten, ist unsere erste Sorge.«

»Das wissen wir.« Eine Zurechtweisung? Icelus’ Stimme klang monoton wie immer, aber seine Worte schienen eine gewisse Warnung zu enthalten. »Besteht Ihre Schlussfolgerung nur daraus, das Offensichtliche zu erklären?«

»Die Position ist zu rekapitulieren.«

»Das ist alles bekannt.« Dekel bewegte sich in seinem Stuhl. Ohne das Denkvermögen, das die versammelten Gehirne bereitstellten, waren die Cyclan behindert. Der kybernetische Komplex war das Herz und das Gehirn ihrer Organisation. »Haben Sie mehr anzubieten?«

»Einen Vorschlag.« Avro schaute von einem zum anderen in Erwartung ihrer Reaktion. Boule und Alder würden sich damit Zeit lassen, beide waren alt, am Rande der Beeinträchtigung ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Wären sie weise, würden sie keiner Ratssitzung mehr beiwohnen. Sie würden ihre Position aufgeben und die Belohnung akzeptieren. Glots Reaktion war nicht vorherzusehen. Icelus? Er würde, wie die anderen, den Nutzen des Plans einsehen. Avro sprach weiter. »Da die Funktionsweise der Zentralintelligenz so wichtig ist, schlage ich vor, dass wir alle Ressourcen genau darauf hin ausrichten.«

»Alle?«, widersprach Boule. »Alle Ressourcen der Cyclan? Und was ist mit dem Masterplan?«

Dekel sagte: »Zu viel Energie in ein Ziel zu stecken, kann sich als unproduktiv erweisen. Aber der Vorschlag verdient Beachtung. Erklären Sie sich.«

»Aufgrund des Studiums aller zur Verfügung stehenden Daten bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unser Hauptproblem der Mann namens Dumarest ist. Finden wir ihn, ergründen wir das Geheimnis des Affinitätszwillings. Damit können wir die Erkrankung der Einheiten heilen.«

»Dafür gibt es keinen Beleg«, kam der schnelle Kommentar Therns.

»Das stimmt, die Wahrscheinlichkeit dafür liegt aber bei 83 Prozent.« Eine Vorhersage, basierend auf negativen Erkenntnissen, dennoch valide. Wenn alles andere gescheitert war, musste das, was noch übrig blieb, von höherem Wert sein. Ein Faktum, dessen sie sich alle bewusst waren, und Avro machte nicht den Fehler weiterer Erläuterungen. Er sagte: »Wir müssen Dumarest finden.«

»Ein weiterer offensichtlicher Kommentar, der den anderen folgt.« Alders Tonfall war genauso sanft wie der aller anderen, aber er hatte Biss. »Wir haben nach Dumarest gesucht, seit bekannt war, dass er über das Geheimnis verfügt. Wir arbeiten immer noch an seiner Gefangennahme.«

»Und wir werden scheitern, wie zuvor«, sagte Avro mit Sicherheit. »Versagen und möglicherweise weitere tote Cyber als Beweis unserer Ineffizienz hinterlassen. Wie oft muss man ein Experiment wiederholen, bis man bereit ist, die Resultate zu akzeptieren? Dumarest ist kein normaler Mann. Die Vergangenheit zeigt dies klar.«

»Ihr Vorschlag?«

»Er muss von einem Team gejagt werden, das sich allein um seine Gefangennahme kümmert.«

»Jagen? Das ist versucht worden.«

»Mit einem Mann, der darin geübt war, Tiere zu erlegen.« Avros Blick wanderte von Alders Gesicht zu den anderen, schaute jedem in die Augen. »Dumarest ist kein Tier, sondern ein schlauer, mutiger, einfallsreicher und gnadenloser Mann, wie es die Aufzeichnungen beweisen. Er ist also, das vermute ich, mit gewissen paranormalen Gaben gesegnet. Man kann es Glück nennen oder das positive Zusammenfallen geeigneter Umstände, aber es arbeitet immer zu seinen Gunsten. Wie sonst wäre zu erklären, dass er uns dermaßen oft entwischt ist? Und das wird sich auch nicht ändern, ehe wir keine andere Herangehensweise wählen.«

 

Thern sagte: »Er wird gefangen werden. Pläne wurden vorbereitet. Diesmal kann er unserer Falle nicht entkommen.«

»Und wenn doch?« Avro ließ die Bombe platzen. »Ich fordere den Rat auf, mir die Aufgabe zu übertragen, Dumarest zu fangen. Volle Autorität über alle Ressourcen ist notwendig. Männer, Maschinen, Geld – ich fordere volle Freiheit.«

»Und …« Dekel unterbrach sich, ehe er dann fortfuhr: »Sie wurden als möglicher Nachfolger für das Amt des Cyber Prime ausgewählt. Als solcher …«

»Als solcher wäre ich verpflichtet, in meinem Arbeitszimmer zu wirken. Um Dumarest zu fangen, muss ich hinaus. Daher muss ich auf diese mögliche Beförderung verzichten.«

»Aber als Cyber Prime könnten Sie über all die Machtinstrumente verfügen, die Sie für nötig halten«, klärte Icelus die Lage. »Sagen Sie uns, dass Sie Marle für besser geeignet halten für diese Position als Sie selbst?«

»Nein.« Avro weigerte sich anzunehmen, dass jemand fähiger war als er selbst. »Der Unterschied zwischen uns ist vernachlässigbar. Aber ich bin am ehesten geeignet, Dumarest zu fangen.«

Glot sagte: »Ihre Geste ist respektabel, aber unnötig. Bald schon wird Dumarest gefangen und von uns kontrolliert.«

»Und wenn nicht?«

»Dann wird man Ihnen die Macht geben, nach der Sie fragen«, beendete Dekel die Diskussion. »Und Marle wird der neue Cyber Prime.«

Die Erlösung kam am dreizehnten Tag in Gestalt eines kleinen Punktes, verschwommen sichtbar durch verzerrtes Licht. Als sie näher kamen, wurden Details sichtbar, Ebenen, Hügel, dampfende Vulkane. Ein verkrustetes Ufer an einem bleiernen Ozean. Flecken von Vegetation, durchschnitten von Flüssen und verstreuten Lichtungen. Die Oberfläche war von brütender Stille, wie ein Friedhof.

Ysanne erwachte, rang nach Luft, griff nach der Hand, die über ihrer Nase und ihrem Mund lag, während sie gleichzeitig nach dem Laser an ihrer Hüfte langte. Finger aus Stahl ergriffen ihr Handgelenk und sie keuchte in plötzlichem, unbewusstem Terror.

»Langsam«, beruhigte Dumarest. »Langsam.«

»Earl!« Sie holte Luft, als die Hand von ihrem Mund verschwand. »Was zur Hölle machst du da?«

»Du hast laut geschrien«, sagte er. »Sehr laut.«

Sie war in einem Albtraum verloren gewesen und damit Beute von Geistern und Schrecken aus ihrer Vergangenheit. Als sie sich aufrichtete, spürte sie auf ihrem Gesicht getrockneten Schweiß unter dem sanften Streicheln einer kühlen Brise.

»Ein Traum. Ich habe geträumt.«

Und hatte Lärm gemacht, den er mit ernsthafter Effizienz gestoppt hatte, ihr die Luftzufuhr verwehrt, um weitere Schreie zu verhindern. Der Trick eines Attentäters – hätte er den Druck aufrechterhalten, wäre sie gestorben.

»Geht es jetzt besser?«, fragte er.

»Ja.«

»Dann leg dich wieder hin und schlafe.«

Sie war zu wach, um wieder Ruhe zu finden. Stattdessen beobachtete sie Dumarest, wie er sich wieder um das Feuer kümmerte, die Flammen mit Resten von Treibstoff fütterte, sodass sie den Leib des Tieres rösteten, das über der Feuerstelle platziert war. Das tanzende Licht erhellte sein Gesicht, akzentuierte die Falten und Wölbungen, die harte Linie seines Kiefers, die Untiefen seiner Augen. Ein barbarisches Gesicht, und es passte zu Welten, die von jeglicher Zivilisation noch unberührt waren. Und dies war so eine Welt, klein, hart, um eine wilde Sonne kreisend. Der Himmel schimmerte tagsüber lavendelfarben und war nun eine Masse blitzender Sterne. Die Hülle der Erce ragte in mechanischer Symmetrie auf. Aus dem Schiff kam das monotone Geräusch der Pumpen.

Sie holte Luft, das Leder ihrer Kleidung wurde über ihren Brüsten gespannt, und sie genoss die Süße der natürlichen Atmosphäre, erinnerte sich an die letzten Tage ihrer Reise, die immer größer werdende Verzweiflung, das Wissen, dass das Leben aller von ihren Fähigkeiten abhängig war. Einen Hafen zu finden und die Erce dorthin zu steuern – für jeden Navigator in der Chandorah eine schwere Prüfung. Noch mehr, wenn man im Gefängnis eines Druckanzugs saß, die Haut wund gescheuert durch Stoff und Metall, die Lungen verhungernd, die Nase verstopft mit dem Gestank angesammelten Abfalls.

Eine schwere Zeit, aber sie hatten es überlebt. Da war eine zusätzliche Note in der Luft und sie atmete erneut ein, genoss die Note, den Geschmack. Die Luft wurde gerade in die Tanks am Bord des Schiffes gepumpt, aber sie würde an Bord niemals genauso schmecken wie zurück im Weltall.

Sie erhob sich und schritt auf leisen Füßen zum Feuer. Eine große Frau, die dicken Zöpfe von der gleichen Schwärze wie ihre Augen. Der weite Gürtel, der ihre Hüfte umrundete, betonte die Rundungen ihres Körpers. Ihr Gesicht schimmerte kupfern, und wenn unbewegt, wirkte es unbeteiligt wie das einer primitiven Skulptur.

»Ich bin nicht müde.«

Obgleich sehr leise, hatte Dumarest ihre Annäherung gespürt, schaute von seiner Sorge für das Feuer auf.

»Wenn du schlafen möchtest, kann ich mich um das Feuer kümmern.«

Er schüttelte den Kopf, drehte den Braten über der Feuerstelle, ein Tier wie ein Eichhörnchen, groß wie ein kleiner Hund, das einige Tropfen Fett zischend in die Flammen fallen ließ.

»Ich glaube, ich könnte den anderen helfen«, überlegte sie. »Aber es eilt nicht. Wie auch immer, ich möchte die Nacht genießen.«

Sie meinte die Dunkelheit und seine Gegenwart in der engen Intimität des Feuers. Sie drehte sich um und beobachtete die Gegend, doch jenseits des Glühens war nichts zu erkennen außer formlosen Schatten, Pflanzen mit schimmernden Blättern, irreguläre Linien am Rande des nächtlichen Himmels, dünne, spinnenartige Blätter, die in der sanften Brise einen kaum hörbaren Laut entwickelten. Sie lauschte und hörte nur das und das Stampfen der Pumpen und das sanfte Rascheln der fallenden Glut.

»So friedlich«, sagte sie. »Ein Paradies. Wir sind seit Tagen hier und nichts scheint uns zu bedrohen.«

»Bis jetzt.«

»Es ist eine verlassene Welt, Earl«, beharrte sie. »Keine Bewohner. Nicht einmal ein Name. Nur ein Ort mit einer Nummer. Wir hatten verdammtes Glück, ihn zu finden.« Und sie fügte schnell hinzu: »Müssen wir schnell weiterreisen? Dies ist eine gute Welt. Wir könnten bleiben. Ein Haus bauen, eine Farm, jagen. Einen Stamm gründen. Wir …« Sie brach ab, als er seinen Kopf schüttelte. »Nein?«

»Nein.«

»Aber warum nicht, Earl?« Sie kannte den Grund und äußerte ihn, bevor er antworten konnte. »Die Erde!« Sie spuckte das Wort aus wie einen Fluch. Funken sprühten, als sie nach dem Feuer trat, und füllten die Luft mit glitzernden Punkten, um dann als graue Asche auf ihrem Stiefel zu landen. »Was kannst du dort finden, das es hier nicht gibt? Und wir wissen, dass diese Welt hier existiert!«

»Wie die Erde.«

»Das sagst du, aber egal wen man fragt, wird derjenige einem sagen, es sei nur eine Legende. Ein Mythos. Diese Welt ist keines von beiden. Sie ist hier und wir sind auf ihr und wir könnten sie zu unserer machen. Unsere, Earl. Unsere!«

Der Traum, den jeder Abenteurer hatte, der ins Weltall aufbrach. Eine jungfräuliche Welt zu finden, sie zu besiedeln, zu besitzen und zu beherrschen. Es war immer noch möglich und war einst üblich gewesen, aber wie immer gab es Nachteile. Dinge, auf die Dumarest hinwies, noch während seine Augen die Schatten durchsuchten, die unruhige Linie der Vegetation vor dem Hintergrund des Sternenhimmels.

Ysanne war dickköpfig. »Du verstehst es nicht, Earl. Du willst es nicht verstehen. Eine Erkundungsmission kann die Gegend bereits erforscht und alle bewohnbaren Welten überprüft haben. Sie mussten dafür nicht einmal landen. Oder eine Bergwerksfirma kann schon vergeblich nach wertvollen Rohstoffen gesucht haben. Oder …«

»Diese Welt stand in der Liste.«

»Nur eine Nummer, kein Name.«

»Was bedeutet, dass sie vor einiger Zeit entdeckt wurde.«

»Ja, aber …«

»Sie haben vielleicht Säureregen entdeckt«, unterbrach er sie. »Tödliche klimatische Veränderungen. Zerstörerische Strahlung von Sonneneruptionen – tausend Sachen. Und wir sind vier Menschen in einem beschädigten Schiff. Nehmen wir an, die anderen wären willig, was sollen wir tun? Landwirtschaft? Ohne Maschinen, Samen und Kenntnisse der lokalen Ökologie? Bauen? Jagen?«

»Leben«, sagte sie. »Diesen Ort zu unserem machen. Eine Welt, die wir unseren Kindern vermachen.«

Ihr Wunsch war aus Sehnsucht geboren, aus grundlegenden Bedürfnissen, aber ihr früheres Leben machte sie blind für die Härte eines solchen Daseins. Diese Welt war kein Paradies, in dem Nahrung an jedem Baum wuchs und nützliche Rohstoffe unter jedem Busch – frei von jeder Krankheit oder Bedrohung. Hier zu überleben, würde alle Anstrengung nötig machen, die sie aufbringen konnten, und Kinder würden so wild wie diese Umgebung werden müssen, wenn sie zu existieren hoffen wollten. Aber die Sehnsucht konnte er verstehen.

»Es tut mir leid.« Ysanne spürte seine Stimmung. »Ich bin eine Närrin, glaube ich, aber es schien mir eine gute Idee. Sie scheint es für mich immer noch zu sein.« Sie füllte ihre Lungen mit der duftenden Luft. »Es ist verrückt, in einer metallenen Kanne zu leben, wenn man doch hier draußen sein könnte. Die Sonne und den Regen spüren, die Berührung des Windes. In einer geraden Linie gehen zu können, bis man keinen Schritt mehr schafft. Zu rennen und zu springen und das Abendessen zu jagen.« Sie schüttelte den Kopf, ihre dicken Zöpfe umrahmten ihr Gesicht und machten ein seidenes Rascheln, als sie am Leder ihrer Tunika entlangstreiften. »Ich hatte all das einst – warum nur habe ich es verlassen?«