Кавказ и Чечня – обозрение европейских ученых. Kaukasus und Tschetschenien. Ein Überblick der europäischen Wissenschaftler

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Durch den hohen, zackigen Zug des Borsonti wird das Gechi-Becken von dem der Fortanga getrennt, das auffällig stark bewaldet ist. Zentrum ist Meredschoi. Hier wohnte früher der nach der Unterwerfung des Landes bis auf geringe Reste nach der Türkei ausgewanderte tschetschenische Stamm der Karabulaken.

Östlich des Scharo-Argun erstreckt sich – immer zwischen den beiden Ketten des Kalkgebirges ß der Gau Tschaberloi, von dem man das untere und das obere Tschaberloi unterscheidet. Getrennt werden beide durch die Andische Wasserscheide, die hier aber nicht mit der Andischen Kette zusammenfällt, sondern etwa 10—15 km westlich von deren Kamm verläuft. Der Andische Koissu hat sein Einzugsgebiet im Ansalta-Bach über die Kette hinweg nach W vorgeschoben; in enger Schlucht wird sie von diesem Bach durchbrochen. Die Wasserscheide selbst ist eine ganz flache Schwelle.

Das untere Tschaberloi liegt ähnlich wie Galantschotsch schon beträchtlich über den Argunläufen, ist aber stärker zerschnitten als jenes. Durch ihre Waldlosigkeit und brütende Hitze erinnern seine engen Schluchten schon an den Daghestan. Verwaltungspunkt des gesamten Tschaberloi ist Tschobachkineroi, ein ganz unbedeutendes Dorf, von dem sich aber ein wundervolles Gebirgspanorama von machtvollem Aufbau bietet. Durch die Lücke, die hier der Scharo-Argun in die zweite Kette gerissen hat, grüßt von S das breite, firnbedeckte Haupt des Diklos herüber.

Stärker individualisiert als Landschaftseinheit ist das obere Tschaberloi. Es ist ein weiter, flacher Kessel, der aber infolge seiner Ausdehnung als Hochfläche empfunden wird und deshalb stark an die gleichartigen daghestanischen Bildungen erinnert, denen er auch in seiner Baumlosigkeit, Ungeschütztheit gegen Sommerhitze und Winterkälte und den Dorfanlagen gleicht. Etwa 200 m über dem Kessel liegt in dessen Ostumrandung der von hohen Bergwänden eingefaßte, schöne Forellensee Esen-am, 1868 m ü. d. M., an dem die sogenannte Zarenstraße von Wedeno nach Botlich Botlich in Daghestan entlang führt. Den übrigen Tschetschenen gelten die Tschaberloier schon mehr mit den benachbarten großen daghestanischen Orten Andi und Botlich verbunden als mit den tschetschenischen Basarplätzen.

Folgt man von Schatoi aus dem Tschanti-Argun auf dem leidlichen Fahrwege und hat man die finstere und außerordentlich eindrucksvolle Klamm hinter sich, mit der er die zweite Kette durchsägt, so erweitert sich das Tal bedeutend. Die hier völlig waldlosen Hänge werden mit Eintritt in das Schiefergebiet flacher und diese Gestalt behält der Oberlauf des Argun bis zum Beginn des Hochgebirges. Die größte Breite erreicht seine Talsohle bei Itum-Kale mit fast ½ km und da hier auch ein breitsohliges Tal von SO her einmündet, so hat sich ein Bevölkerungszentrum entwickelt; Itum-Kale bildet den Verkehrs- und Handelsmittelpunkt für die ganze Südhälfte der tschetschenischen Berge. Zu seinem lebensvollen, bunten Wochenmarkte kommen die Leute, abgesehen vom eigentlichen Bezirk von Itum-Kale, der den Gaunamen «Tschanti» trägt, auch aus dem oberen Scharo-Argungebiet, ebenso aus Galantschotsch und dem wilden Maisti und Mälchsti. Ja sogar Chewsuren in ihrer interessanten Tracht sieht man ab und zu. Von hier strahlen auch die Wege aus, die über das Hochgebirge nach Tuschetien und Chewsuretien hinüber führen, nämlich nach ersterem entweder über Scharoi und den Katschu-Paß oder über Childecheroi, und nach letzterem über Mälchisti und Schatil. Schon vor der Russenzeit war Itum-Kale eine stark befestige Zentrale mit vielen Wehrtürmen. Nach deren Zerstörung bauten die Russen eine weiträumige Festungsanlage, die jetzt natürlich in Ruimen liegt, sie wird bald völlig verschwunden sein, da ihre Steine als Baumaterial weggeschleppt werden.

Zum näheren Einflußgebiet Itum-Kales gehören verschiedene Seitentäler des Tschanti-Argun, von denen hier nur das durch Holz- und Webearbeiten bedeutende Tal von Chotscharoi und das von kaum übersteigbaren Bergmauern eingerahmte Gebiet von Childecheroi genannt seien.

Denselben landschaftlichen Charakter wie der Oberlauf des Tschanti- hat der des Scharo-Argun; auf seinen flachen Schlieferhängen liegen die Ortschaften in den verschiedensten Höhen verteilt. Hauptort ist das hochgelegene Scharoi mit zwei weithin sichtbaren, dräuenden alten Türmen (Abb. 3). Seine wehrhaften Bewohner machten 1919 der auf S. 8 erwähnten georgischen Expedition viel zu schaffen und waren noch 1925 gegen die Sowjets aufständig. Und zwar aus religiösen Gründen: die kommunistische Verneinung Gottes empörte die frommen Mohammedaner, genau so wie 1921 im benachbarten Daghestan. Bei der räumlichen Begrenztheit des Aufstandes wurden sie jedoch von den Bolschewisten ungewöhnlich nachsichtig behandelt, während man unter den tapferen Daghestarnern blutig aufgeräumt hatte. In den letzten Jahren ist auch dieses Gebiet durch einen Straßenbau erschlossen worden; die Straße führt von Schatoi hinüber zum Scharo-Argun und an diesem entlang bis Scharoi. Sie soll u. a. den Abtransport des beim Dorfe Chulandoi einstweilen mit primitiven Mitteln abgebauten Antimons ermöglichen. Infolge der größeren Entfernung vom Zentrum Itum-Kale sind Sitten und Lebensweise der Bewölkerung im Oberlaufgebiet des Scharo-Argun wesentlich ursprünglicher als in dem des Tschanti-Argun, wenn man von dessen Quellgebiet absieht.

Diese Quellgebiete des Tschanti-Argun dürfen nun von allen tschetschenischen Gauen das Hauptinteresse des Forschers beanspruchen eben wegen ihrer ethnologischen Ursprünglichkeit. Sie sind von Itum-Kale nur 1—2 Tagemärsche entfernt. Das enge Kerbtal, durch das der Argun nach der Einmündung des Kii-Baches, flußaufwärts gerechnet, hindurchtost, ist jedoch schwer zu passieren. Die Erosionswirkung ist an waldfreien Stellen außerordentlich; zumal bei Tauwetter sausen aus großer Höhe ständig Gesteinssplitter in das schäumende Bergwasser, ein Umstand, der für den Wanderer eine nicht geringe Gefahr bedeutet.

Zwei Gaue sind aus diesem Gebiet zu nennen, Maisti und Mälchisti. Maisti, das auf Childecheroi nach W folgende rechte Seitental des Tschanti-Argun, ist ebenso wie dieses durch meist nur für den Alpinisten übersteigbare Seitenmauern umrahmt, im S aber noch durch das Massiv des Tebulos-mta völlig abgeriegelt, von dem der größte Gletscher des Ostkaukasus bis etwa 2800 m herabkommt. Abgesehen von dem bis auf 1800 m herabreichen Trogal und einem kurzen Stück vor der Einmündung in den Argun ist das Maisti-Tal einevöllig ungangbare Klamm. Hoch oben erst; wo die Talwände weiter zurücktreten, ist Platz für Siedlungen. Die über blauschwarze, sehr harte und glatte Schieferplatten hinaufführenden Pfade sind selbst für das sichere Gebirgspferd gefährlich, so daß man fast nur Maulesel sieht. Aus demselben Grunde hält man auch mehr Ziegen als Schafe.

Nur drei Dörfer birgt dies letzte, tiefste Tal der tschetschenischen Berge mit insgesamt etwa 300 Seelen. Trotzdem verdient es besonders genannt zu werden, da sich hier die alte Hochgebirgsturmkultur, die sich einst viel weiter erstreckte, noch ziemlich unberührt erhalten hat. Noch wohnt man ausschließlich in den finsteren, die von hohen, schalken Wehrtürmen überragt werden, (Abb. 4) und ausgedehte Kolonien von Totenhäusern deuten auf alte religiöse Vorstellungen, die auch heute unter der erst christlichen, jetzt mohammedanischen Oberfläche noch weiter bestehen.

Dasselbe gilt von dem argunaufwärts folgenden Gau Mälchisti. Das Arguntal, vor allem das seines linken Nebenflusses Meschi-achk, ist hier wieder etwas offener, und so sieht man überall von den Hängen die alten Turmbauten heruntergrüben. Über ein Dutzend Dörfer verzeichnet in diesem Gebiet die 5 Werst-Karte, in Wirkllichkeit gibt es deren nur drei: Dscharego, Teretego und Bonisti, das übrige sind burgartige Einzelhüfe, deren Beschreibung weiter unten folgt. Die Bewohner bilden zusammen mit denen von Maisti den tschetschenischen Stamm der Kisten. Mit ihren Nachbarn, den Chewsuren, die auch auf dem Nordhang einige Dörfer haben, leben sie eher in Fehde als in Frieden. Ursache hierfür ist gewöhnlich Viehdiebstahl auf den Hochweiden und damit verbundener Totschlag. Der Fehdezustand erstreckt sich jedoch meist nur auf einzelne Dörfer bzw. Sippen, nicht auf die ganzen Stämme. So lebten während meines ersten Aufenthaltes 1919 die Dscharegoer Kisten in Feindschaft mit den Schatiler Chewsuren, beim letzten Aufenthalt nicht mehr, dafür aber der direkte Weg nach Tiflis verschlossen. Die Antwort auf die Frage: «Wie steht ihr mit den Einwohnern dieses oder jenes Dorfes?» lautet jedenfalls nie schlankweg «gut» oder «schlecht», sondern «zur Zeit gut» oder «zur Zeit schlecht».

Über Lage und Gestalt der Ssunscha-Ebene wurden schon eingangs einige Ausführungen gemacht. Völlig eben ist sie nicht, sie neigt sich leicht nach NO und zeigt kaum merkliche Bodenwellen. Außerdem beleben zahllose Kurgane von I bis etwa 6 m Höhe die flachen Felder. Die Flußtäler sind so breit, daß sie für eine viel größere Wassermasse bestimmt erscheinen als für die, die heute hindurchfließt. Auch bei kleineren Bächen hat das Tal noch an 100 m Breite, das des Argun ist bis 1 km breit, das der Ssunscha stellenweise wohl gar 2 km. Der Höhenunsterschied zwischen Talsohle und Steppe kann bis 20 m betragen. auf weite Strecken ist der Talboden mit dichtem Gestrüpp bedeckt, z. B. der der Ssunscha, in dem sich u. a. auch Wildschweine tummeln. Zu den zahlreichen Flüssen und Bächen, deren Strömung immer noch recht rasch ist, kommen Bewässerungskanäle hinzu, die aber auch im Laufe der Zeit die Form von Flußläufen angenommen haben. Künstliche Bewässerung ist in größerer Entfernung vom feuchteren Gebirgsfluß eben doch schon erforderlich, besonders für Gartenkulteren in der Nähe von Grosny.

Die Ebene ist heute größtenteils von Steppe bedeckt, die mit Annäherung an das Gebirge wesentlich frischer wird. Früher soll aber der Überlieferung zufolge auch hier der Wald weit verbreitet gewesen sein. Seine Spuren sind noch in ausgedehnten, bis zu 5 meter Höhe erreichenden Buschbeständen erkennbar. Während aber die edleren Hölzer abgeschlagen werden. läßt man das dicht wuchernde Christdorn-Gestrüpp stehen; es nimmt schon bedeutende Flächen ein, die somit natürlichvöllig nutzlos daliegen.

 

Die Steppe ist ihrerseits schon stark durch Ackerland eingeschränkt. Mais und wieder Mais, dieses Hauptnahrungsmittel für Mensch und Tier, soweit das Auge reicht. Andere Früchte, besonders Getreide, verschwinden demgegenüber völlig. Der fruchtbare Boden hat eine hohe Bevölkerungsdichte zur Folge. Zwar liegen die Dörfer oft meilenweit auseinander, dafür haben sie aber zuweilen erstaunlich hohe Einwohnerziffern. Das Dorf Schali z. B. hat nach der Zählung von 1926 15000 Einwohner, Urus-Martan gar über 20000! Da sie außerdem noch sehr weitläufig gebaut und die meisten Höfe noch von Maisgärten umgeben sind, so kann es Stunden dauern, bis man solch ein Dorf durchquert hat. In der Regel besteht der Dorfplan aus vielen parallelen Straßenzügen, die durch gelentliche Querstraßen mit einander verbunden werden. Die in Itschkerien so verbreiteten, aus vielen Einzelgehöften bestehenden weit zerstreuten Dorfanlagen fehlen vollkommen. Im Grün versteckt, von hohen Pappeln überragt, machen die Dörfer mit ihren sauber getünchten, ziegelgedeckten Satteldachhäusern einen sehr freundlichen, kultivierten Eindruck. Nichtsdestoweniger sind die Bewohner aber noch reichlich unfügsam; Bandenwesen herrscht in hohem Maße, mehr als in den Bergen. Ich kannte russische Polizeibeamte, die nach längerer Tätigkeit in der Ebene zur Erholung einen Posten in den Bergen erhalten hatten.

Die Zahl der in der Ssunscha-Ebene wohnenden Tschetschenen beläuft sich nach der Zählung von 1926 auf etwa 190 000. Da nun der Flächenraum mit reichlich 2000 qkm angesetzt werden kann, so kämen auf 1 qkm ungefähr 90 Menschen, eine für diesen Erdraum gewiß sehr bemerkenswerte Dichteziffer! Dabei ist die Bevölkerung von Grosny mit 95 000 Einwohner nicht mit einbegriffen. Zwei Drittel des ganzen Volkes wohnen also in der Ssunscha-Ebene, obwohl sie nur etwa den vierten Teil des Autonomen Gebietes der Tschetschenen einnimmt.

Etwa genau soviel Flächenraum wie die Ssunscha-Ebene nimmt das Gelände der beiden die Ebene im N begrenzenden Hügelzüge des Terek-Ssunscha-Gebirges ein. Es ist aber wegen seiner Öde und Unfruchtbarkeit – letzters wegen Wassermangels – so gut wie unbewohnt und wird nur als Weidegebiet benutzt, wenigstens so weit die Tschetschenen daran interessiert sind. Seine besondere Bedeutung erhält es jedoch durch die sogenannten Alten Petroleumbohrfelder Grosnys, die sich am Nodhange des südlichen Höhenzuges befinden.

B) Sprachliche Stellung und dialektische Verschiedenheiten.

Die Bevölkerung des Kaukasus besteht aus drei großen Gruppen: I. den eigentlichen Kaukasusvölkern, 2. Arischen Völkern, 3. Turkvölkern. Die Tschetschenen gehören nun zu den eigentlichen Kaukasusvölkern, die Karthwelier im SW mit dem Hauptvolk der Georgier, 2. Die Abchasen, Ubychen und Tscherkessen im NW und 3. Die Tschetschenen und daghestanischen Völker im NO. Nach dem Urteil der Sprachforscher, besonders des Barons von Uslar, stehen die Tschetschenen sprachlich unter den Kaukasusvölkern den Daghestanern am nächsten. Auch kulturell hat man sie der daghestanischen Gruppe zugeordnet, worüber man jedoch verschiedener Ansicht sein kann; meiner Ansicht nach sind sie ethnologisch viel eher den zentralkaukasischen Völkern zuzuzählen, wie noch näher dargetan werden soll. Man wird in diesen Dingen besonders von dem ausgezeichneten russischen Sprachforscher Jakowlew wertvolle Aufklärungen zu erwarten haben, der sich mit der tschetschenischen Sprache in den letzten Jahren befaßt hat und auch ethnologisch arbeitet.

Nächst den Georgiern sind die Tschetschenen mit über 300 000 Köpfen das zahlenmäßig stärkste der eigentlichen Kaukasusvölker. Sprachlich und kulturell gehören zu ihnen aber ohne weiteres noch die Inguschen und der kleine Stammessplitter der Batser am Südhange des Hauptkammes7). Die Kopfzahl der Tschetschenen im weiteren Sinne würde dann etwa 400 000 betragen. Dialektunterschiede bestehen wohl, sie sind aber ganz geringfügig, so daß Tschetschenen und Inguschen sich mühelos miteinander verständigen können. Trotzdem müssen die Inguschen als ein besonders Volk betrachtet werden, da sie politisch eine Sonderentwicklung durchgemacht haben, was ja in der Ausdruck kommt, Tatsache zum Ausdruck kommt, daß ihnen von der Sowjetregierung ein eigenes Autonomes Gebiet errichtet wurde.

Auch die Sprache der Tschetschenen im engeren Sinne, von denen in dieser Arbeit nur die Rede ist, weist anscheinend noch geringe dialektische Verschiedenheiten auf. Bemerkt habe ich das jedenfalls bei den Kisten von Maisti und Mälchisti, in deren Munde die mir bekannten tschetschenischen Worte einen etwas anderen Klang hatten. Als Beispiel erwähne ich das tschetschenische Wort für Wehrturm «bau», das bei den Kisten «vau» lautete. Ebenso wurde mir versichert, daß auch die Tschaberloier eine vom übrigen Tschetschenischen leicht abweichende Sprechweise hätten. Auch lexikalische Unterschiede zwischen dem Tschetschenish der Ebene und dem der Berge wurden mir genannt.

Da aber zu diesen sehr geringen dialektischen Unterschieden wesentlich stärkere kulturelle hinzukommen, so kann man doch von einer Gliederung der Tschetschenen in kleinere Stämme sprechen. Man wird dabei auch an den Stamm der Karabulaken denken müssen (ein Name offensichtlich türkischer Herkunft: kara-schwarz, bei Wasser im Sinne von schlecht, trübe gebaucht; bulak-Quelle), die, wie schon erwähnt, im Fortanga-Gebiet saßen und nach der Besitzergreifung des Landes durch die Russen bis auf geringe Reste, die sich im Dorfe Atschchoi-Martan in der Ebene erhalten haben, nach der Türkei auswanderten. Rückwanderer siedelten sich in dem Aul Sagopsch in der kleinen Kabarda an. Die Karabulaken sollen sich durch ganz besondere Wildheit und Verwegenheit ausgezeichnet haben und dialektische sowohl von den Tschetschenen wie auch von den benachbarten Inguschen leicht verschiedenen gewesen sein. (Nach Iwanow, Lit. Verz. 17). Als tschetschenischen Namen des Stammes nennt Jakowlew den Namen «earštchuoj».

C) Geschichtliches. Untersuchungen über die Herkunft der Tschetschenen müssen sehr schwierig sein, da wir ja nicht wissen, unter welchem Namen die Tschetschenen früher einmal aufgetretenen sind. Denn der jetzige Name ist neueren Ursprungs. Er bedeutet zunächst nichts anderes als Bewohner des etwa 15 km südöstlich Grosny am Argun gelegenen Dorfes Tschetschenen, eines Dorfes, da einst am weitesten von allen tschetschenischen Dörfern nach N vorgeschoben war, mit dem also Russen, Kabardiner und andere zuerst in Berührung kamen. Der Russe sagt also «čečenec», Mehrzahl «čečency», der Kabardiner «šašan», der Ossete «tsatsan». In der deutschen Kaukasusliteratur hat sich bedauerlicherweize der Name «Tschetschenen» eingebürgert, obwohl es richtig «Tschetschener» heißen müßte; der Einheitlichkeit halber wird jedoch auch in dieser Arbeit «Tschetschenen» gesagt. Zum ersten Male schriftlich belegt ist der Name «Tschetschenen» in einem Vertrage der Russen mit dem Kalmükenführer Ajuki-Chan aus dem Jahre 1708. (Nach Berge, Lit. Verz. 3, S. 140). Selbst nennen sich die Tschetschenen «nachčoi» was einfach Volk bedeutet, wie so manche andere Völkernamen (Singular nachčuo). Nach Laudajew S. 3 (Lit. Verz. 24) werden sie von den Daghestanern «burtel», vn den Kumüken «mičikiš» genannt. Das Wort setzt sich nach Laudajew zusammen aus «mičik» und «giši», «giši» soll im Kumükischen Leute bedeuten. «mičik» heißt ferner ein rechter Zufluß des Ssunscha-Nebenflusses Gudermes im östlichsten Winkel der Ssunscha-Ebene also im Grenzland gegen die Kumüken. Au einer sehr interessanten alten, von einem Gehilfen Schamils entworfenen Karte (Lit. Verz. 37), die den Herrschaftsbereich Schamils, als das nördliche Daghestan und das Tschetschenen-Gebiet, umfaßt, indet sich das Wort «mičik» auch als Gauname für besagtes Gebiet eingetragen. «mičikis» ist nach Ansicht Semenows (Lit. Verz. 46, S. 217) gleichbedeutend mit dem Namen des alten Volkes der Massageten, was noch durch andere, von ihm nicht näher bezeichnete Quellen erwisen sei. In diesem Zusammenhange erwähnt er auch die tschetschenischen Dorfnamen Machketi und Mesketi, ersteres in Itschkerien, letzteres in Auch gelegen).8

Ferner ist zu erwähnen der Name «Kisten», mit dem die Gebirgsgeorgier die Tschetschenen, im besonderen ihre unmittelbaren Nachbarn, also die Bewohner von Maisti und Mälchsti, belegen und der auch in der deutschsprachigen Literatur vorkommt, auch in der Form Kistiner. Die Bewohner der Kistengaue bezeichnen sich selbst und werden von ihren Stammesgenossen nur nach ihren Landschafts bzw. Sippennamen Maisti und Mälchisti bezeichnet. Anscheinend hat der Name Kisten auch für die Inguschen gegolten, nach dem Flußnamen Kistinka zu urteilen, den der 5 Werst-Karte zufolge zwei rechtsseitige Zuflüsse des Terek in der Darial-Schlucht tragen.

Wenn nun auch schriftliche Zeugnisse fehlen, so haben natürlich die Tschetschenen eine mündliche Überlieferung bezüglich der Herkunft ihres Volkes und seiner weiteren Schicksale. Es muß nur dabei im Auge gehalten werden, daß diese Überlieferungen keine eigentliche Volksgeschichte darstellen, sondern daß es lediglich Familienüberlieferungen sind. Denn ihre Geschichte als Volk beginnt streng genommen erst mit der Bildung des Autonomen Gebietes durch die Sowjets. Von jetzt ab erst treten alle Zweige des Volkes geschossen auf den Plan. Bis dahin bestand ihre Geschichte nur in einem Nebeneinanderleben verschiedener Stämme oder besser noch von Sippen, Großfamilien, die wohl zeitweise z. T. gemeinsam handelten, ebenso oft aber einander befehdeten. Soweit wir wissen, hat es also niemals einen tschetschenischen Herrscher gegeben oder sonst etwas einer Regierung ähnliches, der das ganze Volk für längere Dauer gefolgt wäre. Selbst zur Zeit der kaukasischen Kriege galt das noch. Hauptsächlich kämpfen nur die Tschetschenen gegen die Russen, au die sich unmittelbar der Einfluß Schamils erstreckte, d. h. die an den Dagestan grenzenden Gaue, besonders die Itschkerier. Auch der Volksname «nachčoi» z. B. ist nach Laudajew erst in jüngerer Zeit für alle Tschetschenen gültig geworden; bis dahin bestanden nur die verschiedenen Gaunamen.

Es existiert nun bei den Tschetschenen eine Sage über den Ursprung ihres Volkes, die verschiedene Varianten aufweist. Se ist tatsächlich sehr verbreitet; mir wurde sie verschiedentlich erzählt. Ich gebe sie in der Form wieder, wie sie sich bei Semenow verzeichnet findet (Lit. Verz. 46, S. 209), da sie dort ausführlicher dargestellt ist, als ich sie hörte. Es handelt sich dabei um Übersetzung eines arabischen Textes, der von einem Mullah im Jahre 1828 niedergeschrieben wurde. Die Sage hat demnach folgenden Wortlaut:

Geschichte der Auswanderung des Stammes Nachtschu aus dem Dorf Nachtschuwan im 63. Jahr nach der Hedschra (also 685 n. Chr.).

Aus dem Dorf Nachtschuwan zogen drei Brüder aus: Abdul-Chan, Raschid-Chan und Hamsat-Chan, Söhne des Said-Ali-Schami, der seinerzeit den Titel Saiedul-Umarai-Sultanu-Salatini hatte, 100 Jahre lebte und in Schami starb. (Schami = Damaskus oder Syrien).

Nach dem Tode des Vaters ging ihre Fürsten- und Sultanswürde über in die Hände dazu nicht berechtigter. Infolgedessen flohen die Brüder nach Nachtschuwan. Aus Nachtschuwan gingen sie nach Kagysman, wo Verwandte des Vaters wohnten. Dort lebten sie 10 Jahre. Der jüngste Bruder starb daselbst. Von Kagysman siedelten Abdul-Chan und Raschid-Chan nach Arsuman über, wo sie 6 Jahre wohnten. Dort starb der zweite Bruder Raschid-Chan. Abdul-Chan übersiedelte nach Chalyb mit seiner Familie, die aus drei Söhnen, vier Töchtern, seinem Weibe und einem Neffen bestand. Hier heiratete Abdul-Chan die Tochter des Fürsten der Ungläubigen Albulat. Er ließ den Neffen in Chalyb zurück und zog mit der Familie an einen Ort, wo außer Wölfen und anderen wilden Tieren niemand weiter wohnte und wo der kleine Fluß Baschan (Baschan) floß. Dort errichtete verschiedene steinerne Türme. Von seinen dort geborenen Söhnen nannte er einen Baschan. Dort starb er auch 90 Jahre alt.

 

Nach Abdul-Chan blieben drei Söhre übrig: Scham-Chan, Said-Ali und Fachruddin und vier Töchter: Sagidat, Habisat, Fatimat und Sainab. Scham-Chan verheiratete im 153. Jahre nach der Hedschra seine Schwestern an Fürsten von Abasakan und nahm sich selbst bei ihnen ein Weib, die Tochter Surchais. Seiner Schwestern wegen entstand zwischen ihm und den Abasaken ein Streit, weshalb er und seine Brüder vom Baschan zu einem kleinen Fluß übersiedelten und dort ein Sohn geboren, den sie Argun nannten. SaidßAli blieb dort wohnen, für Fachruddin wählten sie als Wohnplatz BaimaßSawraini (in einem anderen Bericht heißt es Syrin-kort, der östliche der beiden Hügel südlich Grosny), Scham-Chan aber zog nach Naschach und wohnte dort in einem von ihm erbauten steinernen Turme. Das war im Jahre 213 nach der Hedschra. Scham-Chan starb in Naschach. Nach ihm bildeten sich in Naschach 13 Geschlechter. Argun, der Sohn Said-Alís, überließ seinen Wohnsitz seinen Brüdern und zog nach Machketi (in Itschkerien).

Weiter ist in dem Text die Rede von Dingen, die mit der Ausbreitung der Tschetschenen direkt nichts mehr zu tun haben, von Fürsten der Kalmüken in der Ebene, von vermutlich chasarischen Fürsten und von der Ausbreitung des Islam, Dinge, über die außerdem andere Berichte vorliegen.

Die Sage hat offensichtlich unter dem Einfluß des Islam ihre ursprüngliche Gestalt verloren. Sie ist ja auch gerade zur Zeit des Aufkommens des Müridismus im Daghestan niedergeschrieben. So werden zunächst die Namen der Helden in echt arabisch-mohammedanische umgewandelt sein, die ja auch heute als Vornamen bei den Tschetschenen so gut wie bei anderen mohammedanischen Völkern verwandt werden. Zu der Annahme ist man um so mehr berechtigt, als in einer andereb Form der Sage der Name des aus Damaskus auswandernden Stammvaters anders laulet, nämlich Turpal. Andere Namen aus den Stammessagen sind Molkcha oder Malkchu, dessen Sohn heißt Tinawin-wissu, seine Recken Tinielder, Termagalla, Guno-Karkaloi, Gardaseirik, Schirdi-Kanat u. a. (Berge, Lit. Verz. 3, S. 124).

Wenig Glauben verdienen auch die Zeitangaben. Da der Stammvater unbedingt ein Rechtgläubiger sein mußte, so konnte der ‚Schreiber der Sage die Auswanderung auch erst nach Mohammeds Wirken stattfinden lassen. Daß kleinere mohammedanische Völker ihre Vorfahren gern als echte Mohammedaner hinstellen und aus der Familie des Propheten, ist ja eine bekannte Erscheinung. Im Nibelungenliede gehen die Helden ja auch als fromme Christen zur Kirche. Bei den Tschetschenen ist es nun erwiesen, daß ihre Vorfahren erst vor rund 200 Jahren zum Islam bekehrt wurden.

Man hat die Sage aus diesen Gründen als für die Aufklärung der tschetschenischen Geschichte belanglos hingestellt, so Berge und Jakowlew9) (Lit. Verz. 19); ich glaube jedoch, daß man den geographischen Kern des Ganzen nicht völlig außer Acht lassen darf. Schon der Gleichklang des tschetschenischen Ethnikons «nachtschoi» (nachčoi) bzw. «nachtschuo» mit «Nachtschuwan» oder «Nachitschewan» sollte doch zu denken geben, wenn man nicht etwa umgekehrt annehmen will, daß erst auf Grund des Volksnamens «nachtschoi» die Sage den Ursprung des Volkes volksetymologisch nach Nachitschewan verlegt hat. (Außer der bekannten Stadt Nachitschewan am Araxes gibt es nach dem Ortsverzeichnis der 5 Werst-Karte noch ein Dorf Nachitschewan in der Nähe des in der Sage ebenfalls erwähnten Städtchens Kagysman in Zentralarmenien zwischen Eriwan und Kars.) Dazu kommt dann die bestimmte Nennung anderer armenischer bzw. nordostkleinasiatischer Orte, wie Arsuman (nach Semenow = Erserum=, und Chalyb. Ein Volk der Chalyber wohnte nach dem Zeugnis antiker Schriftsteller an der Südostküste des Schwarzen Meeres.

Diese Ortsangaben verdienen um so mehr Beachtung, als es feststeht, daß ein altkaukasisches Volk, die Moscher (Mos-cher) eben aus diesen Gegenden einst nach NO zog (Leonhard, Lit. Verz. 25, S. 295= wie ja überhaupt die engen Verbindungen der kaukasischen Welt mit Armenien und Vorderasien besonders in der Sprachforschung immer mehr hervortreten.

Der Landschafts- und Volksname Abasakan ist sicher gleichbedeutend mit Abchasien bzw. Abchasen. Nach Ansicht Semenows kann jedoch auch die Kabarda damit gemeint sein. Mit dem Flußnamen Bas-chan dürfte der Baksan gemeint sein, was für Kabarda sprechen würde.

Hinweisen möchte ich bei dieser Gelegenheit darauf, welch wertvolle Aufschlüsse eine genauere Untersuchung der geographischen Namen des Tschetschenen-Gebietes für die Sprach- und Geschichtsforschung noch bringen kann. Ich habe mich damit begnügen müssen, den Gleichklang tschetschenischer Ortsnamen mit nichttschetschenischen, bzw. nichtkaukasischen festzustellen und muß es Fachleuten überlassen, zu entscheiden, ob diese Übereinstimmungen vielsagend oder nichtssagend sind. Es sind reine Zufallsfunde, von denen ich hier einige erwähnen möchte. So gibt es nördlich vom See Esenßam einen Gebirgszug Kerket mit gleichnamigem Paß, über den die Straße von Wedeno in Itschkerien nach Botlich im andischen Daghestan führt. Der Name entspricht vollkommen dem antiken Namen Choi; eine gleichnamige Stadt gibt es am Urmia-See in Nordwestpersien. Nach Persien deutet ebenso ein nur wenige Kilometer vom tschetschenischen Dorfe Choi gelegener Ort Parsenoi. Der Name des Flusses Argun kommt, wie ich dem Ortsverzeichnis der 5 WerstßKarte entnehme, in den Kaukasusländern noch mehrfach vor, teils als Flußß, teils als Ortsname. (Lit. Verz. 48) Eigenartig sind die Übereinstimmungen gerade, was die Flußnamen anbelangt, mit Sibirien. Bekannt ist der Quellfluß des Amur, mit Namen Argun oder Ergune. Derartige Übereinstimmungen ließen sich noch viele anführen.

Bei Benutzung der russischen Karten ist freilich Vorsicht geboten, da sie die tschetschenischen Ortsnamen häufig stark verstümmelt wiedergeben. Als Beispiel führe ich die Namen einiger Ortsnamen bzw. Einzelfestungen in Mälchisti an wie sie auf der 5 Werst-Karte10) verzeichnet sind und wie sie in Wahrheit ausgesprochen werden.

Nach der 5 Werst-Karte Aussprache der Einw.

 
Džarego – Dža’re
Sachano – Sa’chen
Ikišlo – Ikilče
Teretego – Te’rtje
Muzo – Me’si
Bonisti – Bänist
Kagnjacho – K’e’gnjech
Banacho – Bana’ch
Kamalago – Koma’lche
Dorze – Do’dze
Bazdeti – Ba’ste
Ami – A’me
 

Oder im Nachbargau Maisti:

 
Pogo – Pu’hu
Togo – T’u’ga
 

Wenn diese Abweichungen nicht auf Unachtsamkeit der russischen Kartographen beruhen, so bleibt noch die Möglichkeit, daß die Ausprache der benachbarten Chewsuren maßgebend gewesen ist; für Džarego trifft dies jedenfalls zu, für die übrigen Orte habe ich es nicht mehr nachprüfen können. Außerdem sei noch folgende Abweichung erwähnt, die weniger auf Ungenaigkeit der Kartographen als vielmehr auf einem Mißverständnis beruhen dürfte. Die Karte verzeichnet Scharo’i, Schikaro’i, Santcho’i, Schato’i, usw., die Tschetschenen, die ich über diesen auffälligen Unterschied befragte, gaben mir folgende Erklärung, wenn ich die einfachen Leute recht verstanden habe. Das Dorf heiße an und für sich Schare, Schikare usw.; Scharoi, Schikaroi wäre indessen nicht direkt unrichtig, es bedeute nur nicht den Ort selbst, sondern die Bewohner desselben, deutsch ausgedrückt also die Schare’er usw. Die Bewohner oder der Dolmetscher der russischen Kartographen hätten eben die Frage, wie der Ort heiße, immer nach der Bewohnerschaft beantwortet. Vielleicht liegt der Grund auch darin, daß die Tschetschenen an und für sich eher sagen z. B. «Ich gehe zu den Schare’ern» als «Ich gehe nach Schare»; es würde sich das daraus erklären, daß ja die Bewohnerschaft eines Gebirgsauls viel mehr eine geschlossene Einheit darstellt, als wir es aus unseren Verhältnissen heraus uns vorstellen können; gehört doch vielfach die gesamte Einwohnerschaft ein und derselben Familie an, die mithin geschlossen, sei es feindlich, sei es freundlich, den anderen Aulen bzw. Familien gegenübersteht. Ich möchte diese Ansichten jedoch nur mit größter Vorsicht äußern, da ich keine näheren Untersuchungen darüber angestellt habe.

7Die Batser wohnen in den Gemeinden Sagirta und Indurta in Tuschetien. Ferner gibt es tschetschenische Niederlassungen am kachetischen Alasan nahe der Alwanischen Ebene; es sind die Gemeinden Oberß und UnterßPankis. (Merzbacher, Lit. Verz, 28, I, S. 209).
8Auf Grund einiger Linguistischer und ethnologischer Erscheinungen z. B. Spuren früheren Matriarchates, glaubt Jakowlew die Tschetschenen mit den Gargaräern, Jasamaten und Sauromaten der alten Schrifsteller in Verbindung bringen zu können. (Lit. Verz. 19).
9Nach Jakowlew ist die Sage aus dem Daghestan übernommen und entspricht genau der Familienüberlieferung der Schamchale von Tarki.
10Eine andere Karte stand mir leider nicht zur Verfügung.