Die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole

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Ich bin das Licht der Welt.

Ich bin der gute Hirt.

Ich bin die Auferstehung und das Leben.

Ich bin der wahre Weinstock, ihr seid die Reben.

Joh 6,35; 8,12; 10,11; 10,14; 11,25; 15,5

Ohne Zweifel verweist der Evangelist damit auf den alttestamentlichen Gottesnahmen: Jahwe (hebr.: Ich bin, der ich bin). Die Ich-bin-Worte schlagen also eine Brücke vom Alten zum Neuen Testament. Sie offenbaren sowohl seine Einheit mit dem Vater als auch die radikale Hingabe seines Lebens für die Rettung der Ausgestoßenen und Verlorenen. Jesus gibt sich selbst hin für das Leben der Welt. Er schenkt seinen Jüngern die Kraft, die sie brauchen – auch uns heutigen. Er ist die Tür zum himmlischen Vater. Deshalb kann er sagen: »Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben.«14

Impuls

Beim Versuch, den persönlichen Glauben an Jesus in Worte zu fassen, entstand ein kurzes Glaubensbekenntnis, zugleich eine Überleitung zum nächsten Abschnitt. Eine Einladung für Sie zur Meditation.

Ich möchte ein Mensch werden wir du, dessen Leben und Gestalt anderen Hoffnung gibt und Halt.

Ich möchte ein Mensch werden wie du, der Einsamen zur Seite steht, mit ihnen redet, isst und geht.

Ich möchte ein Mensch werden wie du, dessen Leiden Früchte trägt und wie ein Same Wurzeln schlägt.

Ich möchte ein Mensch werden wie du.

Norbert Weidinger

Christliche Symbolik in Jesu Taten

Jesus vollzieht heilsame Zeichenhandlungen, die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nach damaligem Verständnis Wunder nennen. Sie haben ihre Vorgeschichte bei den Propheten. Diese verstärken durch Zeichenhandlungen die Wirkung ihrer Reden oder Visionen von drohendem Unheil, z. B. durch das Zerschmettern eines Kruges. Und wie war das bei Jesus? Ein Begriff für »Wunder im Sinne des Wider-Naturgesetzlichen findet sich in der Bibel nicht«, lesen wir im Bibellexikon. Und: »Wo wir von Wunder sprechen, spricht sie (die Bibel) differenziert von Krafttaten, Staunen erregenden Geschehnissen, Zeichen oder Heilungen … erzählt davon, dass Gott Menschen durch seine mächtige Hilfe gerettet hat.«15 Die Bibel ist in einer anderen Zeit verfasst. Die Norm, an der Wunder zu messen sind, ist nicht das Naturgesetz, sondern die Lebenserfahrung der damaligen Menschen. Sie sahen Gott am Werk.

Bei den biblischen Heilungserzählungen Jesu fallen jedenfalls drei Dinge auf:

• Jesus fragt in der Regel: »Willst du geheilt werden?« Er sucht das Ja des Hilfe suchenden Menschen.

• Er berührt den leidenden Menschen und sucht den direkten Kontakt zu ihm.

• Und schließlich folgt zum Abschluss meist der Satz: »Dein Glaube hat dir geholfen.«

Der Glaube ist das Entscheidende, damit Jesu Wirken heilsam werden kann. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann wahrnehmen, mit welcher sensiblen Intensität und zugleich Vorsicht und Vorliebe sich Jesus kranken, bedürftigen Menschen zuwendet, vor allem jenen, die wegen ihrer Krankheit aus der Gesellschaft ausgestoßen sind – wie die Aussätzigen. Sie holt er zurück in die Gemeinschaft, wie zum Beispiel den Zöllner Zachäus, das »leichte« Mädchen Maria Magdalena, den blinden Bettler Bartimäus oder jene, mit denen ein frommer Jude keinen Umgang haben durfte: den römischen Hauptmann von Kafarnaum oder die phönizische Frau mit ihrer kranken Tochter, die Samariterin am Jakobsbrunnen: Ihnen allen spricht Jesus die rettende Nähe des barmherzigen Gottvaters zu, wenn sie offen dafür sind. Das ist die eigentliche Heilung aus der Sicht Jesu – ohne ihre Menschenwürde zu verletzen, ohne sie zum Objekt herabzuwürdigen. Mit diesen Menschen hält Jesus Mahl und setzt so ein Zeichen. Sie lädt er ein: »Kommt ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch Erleichterung und neue Lebensfreude schenken!«16 In Jesus ist dieser heilende Gott zum Greifen nah.

Impuls

Der poetische Text des deutschen Priesters und Lyrikers Wilhelm Willms hat uns geholfen, als wir vor der Frage standen: Wie können wir uns Heilungen, zeichenhafte Handlungen Jesu vorstellen? Vielleicht lässt dieser Text auch Sie erahnen, welche Art von Beziehung Jesus mit Hilfe suchenden Menschen aufgebaut und auf welche Art er ihnen geholfen hat.

IST DAS WAHR

wußten sie schon

daß die nähe eines menschen

gesund machen

krank machen

tot und lebendig machen kann

wußten sie schon

daß die nähe eines menschen

gut machen

böse machen

traurig und froh machen kann

wußten sie schon

daß das wegbleiben eines menschen

sterben lassen kann

daß das kommen eines menschen

wieder leben läßt

wußten sie schon

daß die stimme eines menschen

einen anderen menschen

wieder aufhorchen läßt

der für alles taub war

wußten sie schon

daß das Wort

oder das tun eines menschen

wieder sehend machen kann

einen

der für alles blind war

der nichts mehr sah

der keinen sinn mehr sah in dieser welt

und in seinem leben

wußten sie schon

daß das zeithaben für einen menschen

mehr ist als geld

mehr als medikamente

unter umständen mehr

als eine geniale operation

(…)

als jesus

den tauben heilte

da ist er mit dem finger

in dessen ohren gegangen

er blieb nicht auf distanz

jesus ist ganz dicht

an den tauben herangegangen

und hat gesagt ▷

komm laß mich mal an deine ohren heran

und dann hat jesus mit dem finger

in seinen ohren gebohrt

die waren nämlich total verstopft

jesus hat den gehörgang des tauben

frei gemacht

von floskeln

von lügen

von allgemeinplätzen

von vorurteilen

ganz tief drinnen17

Wilhelm Willms


Die Spuren der Transzendenz, die Symbolsprache des christlichen Glaubens sind tief verwurzelt in der Gestalt, den Worten und Taten Jesu, seinem Leben, seinen Gleichnissen, Ich-bin-Worten und Zeichenhandlungen, seiner Art zu beten, von Gott zu sprechen. So ist er für uns Vorbild geworden im Glauben, im Beten und in gottesdienstlichen Ritualen bis auf den heutigen Tag. Wir beten noch immer das Vaterunser, feiern das Abendmahl, die Eucharistie, die Taufe, die Krankensalbung. Diese Feiern sind das Wertvollste, was Jesus uns hinterlassen hat mit der Verheißung, unter diesen Symbolzeichen und Ritualen wirkmächtig und heilend gegenwärtig zu sein. Die Sakramente des christlichen Glaubens sind für Christen und Christinnen wirksame Zeichen seiner Transzendenz im Heute. Allerdings müssen sie in jede Zeit und Generation hinein neu übersetzt, nicht nur als alt-ehrwürdige Museumsstücke weitergegeben werden, sondern als wirkungsvolle Zeichen der Nähe Gottes. Ihre Wirkung schafft eine neue Wirklichkeit, wie wenn zwei Menschen sich aus ganzem Herzen zusprechen: »Ich liebe dich.« Vergleichbares geschieht, wenn Menschen zu Gott beten (z. B. das Vaterunser): Dann ist der Ich-bin-da mitten unter uns, und sein Reich wächst unter und mit uns. Auf die gleiche Weise wirkt unter Christen die Bitte um Gottes Segen heilsam.

Quellen der Heilkraft

Sehr viele Menschen – auch Christen – gehen davon aus, dass die Natur Heilkräfte in den Urelementen Wasser, Feuer, Luft und Erde birgt, auch in Heilpflanzen und Bäumen. Eine beredte und unumstrittene Zeugin dafür ist Hildegard von Bingen. Allerdings verweist sie zugleich auf einen ausschlaggebenden Unterschied: Aus dem Verständnis des christlichen Glaubens heraus verdankt sich jede natürliche Heilkraft der Schöpferkraft Gottes, eines – gemäß der Botschaft Jesu – wohl-wollenden Gottes. Auch in der Bibel (Weish 11,26) wird Gott »Freund des Lebens« genannt. Er ist die erste Quelle aller Energie und Heilkraft.

Mit dem ersten Pfingsten (Apg 2,1–42) kommt eine weitere Quelle in den Blick: der Heilige Geist, der göttliche Funke, der sich in jedem Menschen niederlässt in Taufe und Firmung. Hildegard von Bingen preist ihn mit den Worten:

»O du Feuergeist und Tröstergeist, Leben des Lebens aller Geschöpfe, heilig bist du, der du lebendig machst die Gestalten. Du Heiliger, mit deiner Salbe rettest du die Verletzten. Heilig bist du, durch deine Reinigung heilst du die eitrigen Wunden. O du Hauch der Heiligkeit, o du Feuer der Liebe, … beschütze alle, die vom Feind in die Kerker geworfen wurden, befreie, die in Banden liegen, mit göttlicher Kraft willst du sie ja retten. … Du bringst auch immer wieder die Menschen zur Einsicht, beglückst sie durch den Anhauch der Weisheit … du Freude des Lebens, du Hoffnung und mächtige Ehre, du Schenker des Lichts. Amen.«18

Impuls

Nehmen Sie sich etwas Zeit, und lesen Sie das Gebet Hildegards noch einmal langsam für sich. Streichen Sie dann jene Stellen an, die Sie berührt haben. Sie können auch eine Zeile für sich selbst ergänzen, um der christlichen Quelle der Heilkraft näherzukommen.

Wie alle Mystikerinnen glaubt Hildegard an den göttlichen Funken, Gottes Geist, in jedem Menschen. Am ersten Tag der Schöpfung schwebte er über den Wassern (Genesis). Beim ersten Pfingstfest kam er über die junge christliche Gemeinde im Sturm und in Feuerzungen (Apostelgeschichte). Diese Geisteskraft rührt das Innerste im Menschen an, stiftet eine vitale Beziehung zwischen Gott und Mensch, fördert Können und Erkenntnis in allen Bereichen der Wissenschaft und Kunst, auch der Heilkunst. Er weckt den Glauben an den dreieinigen Gott: Vater – Sohn – Heiliger Geist. Ein äußerst dynamisches Gottesbild! Ein aus gegenseitiger Beziehung wirkender Gott, der auch die Beziehung zu den Menschen sucht. Er ist die Quelle und Ursprung aller Heilkraft und Heilung.

 

In Ritualen und Symbolen des christlichen Glaubens bahnen sich die heilenden, verwandelnden Kräfte dieses dreieinigen Gottes ihren Weg. In ihnen dürfen Glaubende schon im Hier und Jetzt etwas von der verheißenen Lebensfülle erfahren:

• in Meditation und Gebet – in all seinen Formen und Facetten

• in Segensworten zu vielen Anlässen – im »Benedictionale«, dem Segensbuch der Kirche mit 150 Segensritualen

• in gottesdienstlich-liturgischen Feiern, einschließlich der Sakramente

Zusammenfassung

Der große Bogen ist gespannt vom allgemeinen Verständnis der Rituale und Symbole zum spezifisch christlichen: Zu Beginn hielten wir Ausschau danach, wie Menschen Rituale und Symbole ganz allgemein verwenden, nämlich als Kommunikationsmittel in Politik, Kunst, Psychotherapie sowie im ganz alltäglichen Austausch von Erfahrung und Lebenswissen. Rituale und Symbole haben ihren spezifischen, unersetzbaren Platz und bilden die Brücke zwischen Sagbarem und Noch-nicht- oder vielleicht In-Worten-nie-Sagbarem. Schon allein deshalb übernehmen sie eine enorm wichtige Funktion im Leben des Einzelnen wie im Zusammenleben aller Menschen. Diese lässt sich zutreffend mit heilsam umschreiben. Ihre Heilkraft erweist sich, wo geistig-seelische Prozesse ins Stocken geraten, gestört oder blockiert sind und wieder in Gang gesetzt werden, wo Wunden der Vergangenheit heilen sollen – im privaten, im politischen wie im therapeutischen Bereich.

Durch alle Erscheinungs-, Funktions- und Wirkungsschichten der Rituale und Symbole hindurch suchen glaubende Menschen, auch Christen, nach einem ersten und letzten verlässlichen Bezugspunkt ihres Lebens, nämlich nach Gott. Auch hierbei übernehmen sie eine unersetzbare Rolle. Das Spezifische der christlichen Rituale und Symbole ist ihre Verwurzelung in den Glaubenszeugnissen der Menschen, vor allem der Bibel. Die Bibel verstehen Christen als Gotteswort im Menschenwort. Die gleiche Qualität haben auch die in der Bibel überlieferten Rituale und Symbole, insbesondere die von Jesus Christus gestifteten. Somit werden für Christen Beten, Meditieren, Segnen und Sich-segnen-Lassen und die Sakramente zu Orten und Feiern der Begegnung mit Gott. Sie bilden die Brücke, über die sie mit Gott in Verbindung treten und mit seiner Heilkraft in Berührung kommen. Er weckt auch unsere inneren Heilkräfte und den inneren Heiler in uns.

HEILKRÄFTE ERÖFFNEN DEM LEBEN NEUE MÖGLICHKEITEN

Was meinen wir, wenn wir von Heilkraft reden, wenn wir den Begriff Heilkraft gebrauchen? In welchem Zusammenhang und in welchen Situationen unseres Lebens greifen wir ihn auf?

Beobachtungen und Wahrnehmungen

Der Begriff Heilkraft ist zunächst einmal ein zusammengesetztes Nomen mit dem Grundwort Kraft und dem Bestimmungswort Heilen, also Heilkraft als Kraft zum Heilen (wovon?). Die beiden Grundbegriffe verbinden sich unter vielen anderen Bedeutungen mit Dynamik und Vitalität, Energie und Heilung.

Heilkräfte begleiten uns jeden Tag, ob wir es wahrnehmen oder nicht. So beleben uns beispielsweise die Heilkräfte der Luft, wenn wir morgens die Fenster öffnen und frische Luft durch unsere Lunge strömt. Sie begegnen uns häufig und in großer Vielfalt, sind unerschöpflich, individuell und gestaltbar.

Wenn wir spazieren gehen, können Heilkräfte der Natur auf uns wirken, wie die Heilkraft der Sonne, wenn das Licht unsere Stimmung hebt. Solche Kräfte wirken einfach so, ohne unser Zutun. Sie werden uns geschenkt oder fehlen uns. Wer sich ihnen allerdings bewusst zuwendet, kann ihre Heilwirkung viel intensiver wahrnehmen.

Auch in alltäglichen Ritualen und Symbolen können wir Heilkraft erleben, erfahren, spüren (z. B. in Verabschiedungsritualen, wenn wir aus dem Haus gehen). Ob im Miteinander oder jede für sich selbst, ob be-greif-bar oder als Gedanke, ob als stille innere Haltung oder im sichtbaren Vollzug: Heilkräfte sind dort am Werk, wo Menschen ihr Leben gestalten. Dies gilt im Alltag, zu besonderen Hoch-Zeiten, in Phasen des Glücks und Erfolgs genauso wie im Schmerz, in der Not und in der Verzweiflung.

Heilkräfte sind Geschenke, die uns einfach so zur Verfügung stehen (z. B. die Heilkräfte der Natur), die wir manchmal erbitten (z. B. die Heilkraft des Trostes), nach denen wir uns sehnen (z. B. die Heilkraft des Vertrauens) oder die wir uns individuell und persönlich erarbeiten und mit denen wir uns selbst bescheren (z. B. die Heilkraft unserer Lebensgestaltung).

Heilkräfte eröffnen neue Horizonte

Ursprung und Urquelle der Heilkräfte

Die tiefste Quelle der Heilkraft liegt im Menschen selbst. Es ist die Ur-Heilkraft. Sie ist in einer anderen, nur dem Menschen eigenen Dimension angesiedelt, in einer Höhen- oder auch Tiefendimension. Das ist eine Dimension, die über Körper und Seele hinausgeht, die den Menschen in seiner Ganzheit ausmacht. Es ist eine spezifisch humane geistige Dimension. Dort sind Werte und Sinn beheimatet, dort finden wir die spezifisch humane Fähigkeit der Selbstreflexion (über sich selbst nachdenken, sich das eigene Tun zurückspiegeln), Selbstdistanzierung (Stellung beziehen zu sich selbst, zum Körperlichen und zum Seelischen) und Selbsttranszendenz (Menschsein verweist immer auch über sich selbst hinaus, es ist auf die Ergänzung durch anderes, Höheres angewiesen). In dieser Dimension finden wir Eingebung, Inspiration und Kreativität (künstlerisches Schaffen, Muße im weitesten Sinn), aber auch so etwas wie Humor, Urvertrauen, Hoffnung und Glauben (und vieles mehr). Für diese Dimension gibt es keine hintergründigen Erklärungen. Die Frage nach Wissenschaftlichkeit, Begründungen und Nachweisen erübrigt sich, weil nichts zu beweisen und zu begründen möglich ist.

Wer möchte und kann schon erklären, wieso ein Franz Marc dieses wunderbare blaue Pferd gemalt hat? Wer möchte und kann schon eruieren, woher eine Hildegard von Bingen ihre Eingebungen hatte? Wer möchte und kann schon nachweisen, wieso kranke Menschen durch die Heilkraft der Liebe genesen können? Wer möchte und kann schon feststellen, woher die Sehnsucht der Menschen kommt, über sich hinauszuwachsen und sich mit etwas Höherem zu verbinden (mit Gott, dem Universum, dem Kosmischen)?

Alle Erklärungen, Nachweise, wissenschaftlichen Untersuchungen laufen in dieser nur dem Menschen eigenen Dimension ins Leere. Und wer diese menschliche Urquelle doch definieren will, läuft Gefahr, den Menschen zu reduzieren, z. B. auf die Gehirnfunktionen, auf Nervenreaktionen, auf Hormone, auf das Zusammenspiel von biologischen, chemischen und anderen Prozessen.

Impuls

Kennen Sie in Ihrem Leben diese Ur-Heilkraft? Vielleicht achten Sie einmal darauf. Sie werden erstaunt sein, wie oft sie sich am Tag zeigt.

Heilende Kraftquellen

Um leben zu können, kann der Mensch noch andere Heilkraftquellen benutzen, z. B.:

• Heilkräfte aus Gottes Schöpfung, der Natur (Wasser, Feuer/Licht, Erde, Luft, Pflanzen und Bäume)

• Heilkräfte, die der schöpferischen Kraft des Menschen entsprungen sind (Getreide/Brot und Trauben/Wein)

• Heilkräfte aus Lebens-Grundhaltungen und -Grundbedürfnissen (die Heilkraft der Liebe, die Heilkraft des Glaubens und Vertrauens, die Heilkraft der Hoffnung, die Heilkraft des Trostes → Heilsame Grundhaltungen, Seite 169 ff.) und Selbstheilungskräfte

• Heilkräfte aus Medizin und Forschung

• Heilkräfte aus der Erforschung der menschlichen Seele (Psychologie, Psychotherapie)

• Heilkräfte aus Herausforderungen des Lebens, aus Berührungen


Die Palette kann noch unendlich erweitert werden. All diese heilsamen Kräfte können bewusst wahrgenommen und gestaltet werden. Einige sind in jedem Menschen schon von Anfang an angelegt. Sie sind sozusagen die Mitgift des Lebens, kostenlose Geschenke. Andere entstehen aus dem Zusammenspiel zwischen Leben und Mensch, aus Lebenserfahrungen.

Anstoß zu einem Verwandlungsprozess

Heilkräfte tragen in sich die Kraft der Verwandlung. Damit ein Prozess der Verwandlung in Gang kommen kann, braucht es einen aktiven und einen passiven Anteil. Es geht darum, sich verwandeln zu lassen, um eine innere Bereitschaft und Zustimmung einerseits und andererseits, um verwandelt zu werden, etwas, was sich ohne unser Zutun vollzieht. Zum einen: Bin ich überhaupt bereit, mich verwandeln zu lassen? Und zum anderen: Eine Situation, ein Ereignis, ein anderer Mensch, eine Begegnung, etwas Schicksalhaftes, etwas nicht zu Änderndes passiert, es vollzieht sich.

Manchmal stellt uns das Leben vor Herausforderungen, stellt uns Fragen, will unsere Antworten. Oft sind es diese Herausforderungen, wo heilsame Kräfte sichtbar und spürbar werden. Und genau da kann sich ein Prozess der Verwandlung vollziehen: von einem Defizit hin zu einer Aussicht (beispielsweise von der Sehnsucht nach Akzeptanz hin zu einer Begegnung auf Augenhöhe), von der erdrückenden Realität zu einem neuen Horizont (von einem Mangel an Gesundheit hin zu neuer Hoffnung), von einem Weniger hin zu einem Mehr (von Oberflächlichkeit hin zu mehr Tiefe, mehr Erfüllung), vom Menschlichen hin zur Transzendenz (vom funktionierenden Wesen Mensch hin zu einem geisterfüllten menschlichen Leben mit Gott).

Verwandlung steht als Metapher für eine Wendung des Lebens hin zu Gelingendem, Passenderem. Dafür steht das Stichwort Kohärenz (Leben und Situation passen zusammen, sind stimmig für einen Menschen, mehr dazu im Kapitel Ausklang: Eine andere Perspektive → Seite 195 ff.). Heilkraft bedeutet Heilsam-Werden, Heilsam-Sein, eine heilsame Kraft, die dynamisch (uns bewegt) und prozesshaft ist (eine Entwicklung mit sich bringt).

Die Sehnsucht nach Heilwerden an Leib, Seele und Geist, die Bitte um Kraft zur Heilung ist ein Prozess und durchzieht jedes Leben. Und sie ist zugleich auch etwas, das uns an etwas Höheres anbindet. Gläubige Menschen nennen es Gott. Diese Anbindung leuchtet in vielen heilkräftigen Ritualen und Symbolen des Alltags und des Christentums auf. Die Heilkraft der christlichen Rituale und Symbole liegt im Seelisch-Geistigen und zeigt sich oft auch im Körperlichen.

Heilsame Kräfte können sich dort entwickeln, wo Menschen nicht stecken bleiben in ihrer Lähmung durch Schicksal, Leid und Unrecht, sondern aufbrechen und sich lösen aus der Erstarrung. Oft gelingt einem das nicht mehr, weil man schon zu sehr gelähmt und verstrickt in etwas ist und keinen Ausweg sieht. Da haben Freunde ihren Platz, da können sie heilsam wirken und den Gelähmten in Bewegung bringen. Wo Ratlosigkeit und Resignation überwunden werden, tut sich ein Tor auf, kann Heilung in Gang kommen.

Die Bandbreite erahnen

Unterschiedliche Menschen fühlen sich von unterschiedlichen Symbolen, Ritualen und ihren heilenden Kräften unterschiedlich angesprochen. Was für die eine ansprechend und hilfreich ist, muss für den anderen noch lange nicht gelten. Was für den einen kräftigend und hilfreich ist, muss für die andere noch lange keine Bedeutung haben. Und je nach Situation kann ein Händedruck heilsam oder nichtssagend sein.

Heilkraft hat ihren Platz im Leben, sie nimmt in unendlich vielen Formen Gestalt an, sowohl im Miteinander als auch für jeden einzelnen Menschen: in Gedanken und Ideen, im Leisen und im Schönen, im Hörbaren und im Sichtbaren, in der Natur, der Sprache, in Worten und Zeilen, in Mimik und noch so unscheinbaren Gesten, in Tönen und Musik, Bildern, Farben und Formen, in Skulpturen und Bauwerken, in Kreativität und Intuition.

Wer den Heilkräften im Leben Raum gibt, sich ihrer bewusst wird und sie als Geschenk annimmt, kann sein Leben auch klarer, vielfältiger und lebensbejahender gestalten.

Heilkraft braucht weder einen Zeitpunkt noch einen Ort. Überall und jederzeit kann sie wirken: am Schreibtisch, im Bett, am Esstisch, beim Arzt, im Pflegeheim, in der Asylbewerberunterkunft, in der Kirche, auf der Straße, im Bus.

Immer wieder lässt sie sich anzapfen und benutzen, ohne Zeitbegrenzung, ohne Verschleiß. Heilkräfte sind also individuell, vielseitig, gestaltbar, zeitlos und unerschöpflich.

 

Impuls

Was denken Sie nun dazu? Wie würden Sie jetzt das Phänomen Heilkraft für sich buchstabieren? Vielleicht können Sie das in einem Bild ausdrücken oder in einer Metapher, einem Vergleich.

Heilkräfte in alltäglichen Worten, Gesten und Ritualen

Im persönlichen Leben

Jeder Mensch hat für sich seine eigenen Worte, Gesten und Rituale, die ihn durch den Tag begleiten. Es gibt Worte und Redewendungen, die wir häufig benutzen. Ich denke an einen Freund unserer Familie. Er beendet häufig seinen Satz mit »… so, so«. »Na ja« oder »gut, gut« gehören ebenso in diese Sparte. Wenn ich etwas Unglaubliches höre, kommt mir sehr schnell das Wort »Echt?« oder die Redewendung »Da schau an!« über die Lippen. Solche floskelhaften Äußerungen entlasten zunächst das Denken und geben etwas Zeit.

Impuls

Ab und zu tut es gut, sich selbst einmal zuzuhören und auf solche Floskeln oder auf eigene Gesten zu achten. Gesten sind oft Ausdruck der unreflektierten momentanen Befindlichkeit.

Welche Geste fällt Ihnen gerade ein? Spiegelt sie vielleicht auch Ihre momentane Befindlichkeit wider?

Rituale sind wie ein unsichtbares Geländer, an dem man sich entlanghangeln kann. Sie vollziehen sich immer gleich, sie geben dem Tag Struktur. Rituale gestalten den Tag, bedeuten eine Zäsur im Fluss des Tages und sollen Kraft für das Nächste geben. Rituale tragen auch immer die gleiche Botschaft und Bedeutung.

Das Bettgehritual für Kinder ist ein gutes Beispiel dafür. Wehe, wenn etwas weggelassen oder deutlich verändert wird! Das Ende des Tages ist erreicht, lautet die Botschaft, und nun beginnt das Nächste, die Nacht.

Viele Menschen haben für sich Rituale entwickelt, die im Tagesverlauf eine Rolle spielen. Ich denke da an ein Ritual, das ich selbst nach dem Aufstehen praktiziere, meine Morgengymnastik.

Gerade ältere Menschen halten sich gern an Ritualen fest. Ich kenne einige Menschen, die ihren Partner verloren haben und nun allein den Tag bestehen müssen. Sie gestalten den Tag mithilfe von Ritualen, die sie schon immer mit dem Partner praktiziert hatten. Nun führen sie das Ritual allein aus. Das hilft ihnen.

Oder es gibt das Ritual des Kaffeekochens, Teezubereitens. Daraus entwickelten sich ganze Zeremonien. Denken Sie an die Teezeremonie in Fernost. Worte, Gesten und Rituale des täglichen Lebens entpuppen sich als heilkräftig, weil sie dem Einzelnen Halt und Stütze geben.

Haben auch Sie Rituale, die Sie durch den Tag begleiten? Welche sind das?

Im Miteinander

Worte, die wir einander sagen, sind oft mit Gesten verbunden. Sie können zu Ritualen werden, besonders im Leben mit anderen Menschen. Das gebräuchlichste Ritual des Alltags im Miteinander ist wohl der Gruß. Er ist stets ein Ausdruck für eine Beziehung. Wie tief die Beziehung ist, lässt sich an der Art des Grußes ablesen. Der Gruß verdeutlicht: Ich sehe dich, ich nehme dich wahr. Und das heißt nichts anderes als mit dem anderen in eine – wenngleich vielleicht nur kurze – Kommunikation zu treten. Wenn wir grüßende Menschen sehen und die Wirkung des Grußes bedenken, so können wir oft leuchtende Augen und hochgezogene Mundwinkel beobachten. Es tut dem anderen gut, etwas zugesprochen zu bekommen. Ein Gruß kann heilsam, heilend sein. Deshalb soll er hier seinen Platz finden. Nicht zuletzt, weil er uns einen Weg zeigt zu den christlichen Segensritualen.

Der Gruß und die Begrüßung

Worte als Gruß bzw. Wunsch: Hallo, Hi, Servus, Guten Tag. Ich grüße Sie, Herzlich willkommen, Moin, moin, Grüß Gott, Grüß dich (Griaß di), Grüeziwohl, Habe die Ehre, Tschau, Auf Wiedersehen, Wiederschaun, Gott befohlen, Behüt dich Gott (Pfiadi), Ade, Adios, Adieu (abgeleitet vom Lateinischen ad deum, d. h. zu Gott, also geh mit Gott), Tschüss und Tschö (aus dem Portugiesischen adeus, in den damals spanischen Niederlanden atjüs), Meinen Segen hast du (ich wünsche dir, dass dies gelingt), Schönen Tag noch, Guten Appetit, Mahlzeit (eigentlich: gesegnete Mahlzeit), Frohe Weihnachten, Fröhliche Ostern usw.


Die Geste als Gruß

Anderen zuwinken, zunicken, sich verneigen, Hände schütteln, mit der Hand an die Schläfe tippen (Matrosengruß, militärisches Begrüßungsritual), den Hut ziehen, Arme ausbreiten (Geste des Willkommenheißens).

Die gegenseitige Berührung als Gruß

Händedruck, sich Hände reichen, Hände schütteln, das Gegenüber an beiden Händen fassen, Hand auf Hand legen, Hand auf den Unterarm des anderen legen, mit der Handfläche den Handrücken berühren, Hand auf die Schulter, Umarmung, Wangen berühren, Bussi, französische Küsschen, ein Kuss, »Give me five«-Gruß, das gegenseitige Abklatschen, Gruß durch Berührung der Fäuste und Abklatschen (Gruß vieler Jugendlicher).

Geste und Berührung als Gruß …

… verbunden mit anderen Ausdrucksmitteln, z. B. mit einem Wort oder Satz: Hallo, meine Liebe, schön, dass du da bist, ich freue mich, ich brauche dich, ich denk an dich, ich wünsche dir viel Kraft. Oder verbunden mit sichtbaren Emotionen wie Lachen oder Weinen; verbunden mit Bewegungen wie Tanzen und Hüpfen, vertieft durch mehrmalige Wiederholung, durch unterschiedlichen Druck der Berührung, durch die unterschiedliche Länge der Berührung.

Impuls

Wie begrüßen oder verabschieden Sie sich von Ihrer besten Freundin? Wie tun Sie das mit Ihrem Chef, der Chefin? Welche Bedeutung hat das für Sie?

Heilkräfte in christlichen Worten, Gesten und Ritualen

Im Zeichen des Kreuzes

Da die meisten Segensgesten mit dem Kreuzzeichen verbunden sind, betrachten wir in diesem Zusammenhang das Kreuz in besonderer Weise. Es ist das zentrale Symbol des Christentums. Das Kreuz – in jeder Ausgestaltung, ob mit gleich oder unterschiedlich langen Balken. Es taucht in den verschiedensten Varianten auf, wo Christen leben: im Wohnzimmer oder in der Öffentlichkeit als Gipfel-, Flur- oder Wegkreuz, als Kirchturmkreuz oder als Umhängekreuz – kunstvoll bearbeitet oder ganz schlicht, mit oder ohne den Korpus des Gekreuzigten. Für Christen ist es nicht nur ein Zeichen unter Tausenden, nicht nur Schmuckstück, sondern Erinnerungs- und Bekenntniszeichen an und zu Jesus Christus. Denn er ist am Kreuz gestorben zum Heilwerden der Menschen. Aber der Tod hatte in seinem Leben nicht das letzte Wort: Gott hat diesen Jesus Christus auferweckt zu neuem Leben. Deshalb ist das Kreuz zugleich Symbol seines schmerzvollen Todes wie auch seiner Auferstehung. Es ist somit Heils- und Heilungszeichen schlechthin für alle, die an ihn glauben und sich mit dem Kreuzzeichen zu ihm bekennen. Es verbindet in Jesus Christus Himmel und Erde, Gott und Mensch, Sterben und Auferstehen.

Mit dem Kreuzzeichen beginnen und beenden Christen ihr gemeinsames Gebet. Mit ihm rufen sie Christus in ihre Mitte, der ihnen verheißen hat: »Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt!« (Mt 28,20). Mit dem Kreuz als Segensgeste segnen Christen einander und erbitten Gottes Schutz und Nähe bei Tag und Nacht, in der Arbeit und der Ruhe, am Beginn und am Ende einer Reise oder eines Vorhabens.

Mit dem Kreuz spenden Priester bzw. Laien die Sakramente, die Jesus gestiftet und hinterlassen hat, wie Taufe und Eucharistie. In der katholischen Kirche gelten auch Firmung, Beichte, Ehe, Priesterweihe, Krankensalbung als Sakramente. Es sind Zeichen an den Übergängen des Lebens, die das heilsame Wirken Jesu fortsetzen über seinen Tod hinaus – so wie er es wollte: »Tut dies zu meinem Gedächtnis!« (Lk 22,19). Keiner kann ein Sakrament aus eigener Vollmacht spenden, sondern nur in Jesu Namen. Mit dem Kreuzzeichen besiegelt ER den Bund, den er uns auch heute noch anbietet, mit dem er die Verbindung mit jedem initiiert und aufrechterhält, der sie aus Liebe und aufrechtem Glauben sucht.


Deshalb ist das Kreuz für Christen das Zeichen des Heils, die Quelle jeglicher Heilkraft, die uns weiterhelfen und uns retten kann in den Stürmen des Lebens – wie damals die Jünger Jesu: Bei Nacht waren sie auf dem See Genesareth in Seenot geraten. Er kam ihnen über den See entgegen. Aber sie hielten ihn für ein Gespenst. Doch als er in ihr Boot stieg, legte sich der Sturm. Sie staunten, wussten nicht recht, wie ihnen geschah. Sie waren gerettet. Das Kreuzzeichen ist und bleibt das Symbol unserer Rettung. Es legt eine Sinn-Spur von seinem Tod in Jerusalem bis in unsere Zeit, im Auf und Ab unseres Lebens, von Übergang zu Übergang bis zum Allerletzten.

Nicht auf allen Wegen, die wir geh’n, lässt sich tanzen.

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