Die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole

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In den ersten Lebensjahren bis ins frühe Jugendalter hinein baut das Kind eine fast unzertrennlich-innige Beziehung zu seinen Übergangsobjekten wie seinem Kuscheltier auf – durch Liebkosungen, Lallen und einzelne Wörter. Der Teddybär wird von ihm gedrückt und geherzt. Übergangsobjekte bilden über Abgründe der Angst hinweg eine Brücke in die ersehnte Geborgenheit, sind Trostspender und Heilmittel schlechthin. Das Kind erlernt durch bloßes Erleben den Prozess der Symbolbildung und erfährt zugleich intuitiv deren Wirkung. Ganz wichtig ist das Lernen durch Nachahmen. Das Kind übernimmt die in der Familie gebräuchlichen Rituale wie den Austausch von Zärtlichkeiten oder Essgewohnheiten und erprobt sie spielerisch mit seinem Kuscheltier oder real mit (Groß-)Eltern und Geschwistern. So lernen Kinder auch, mit Konflikten umzugehen und sie selbst oder mit fremder Hilfe zu lösen.

Bis in die ersten Schuljahre hinein durchschaut das Kind den spezifischen Charakter von Ritualen und Symbolen nicht. Es kann nicht erkennen, dass diese über sich hinausweisen in eine andere Wirklichkeit. Deshalb kann es nicht verstehen, was Erwachsene mit übertragener Bedeutung oder Doppelsinn meinen. Wie Till Eulenspiegel bei seinen lustigen Streichen beharrt es auf dem wortwörtlichen Sinn.

Erst am Ende der Grundschulzeit durchschauen Kinder die Mehrschichtigkeit der Symbolsprache und Redewendungen. Dann regen sich Zweifel, werden Rituale und Symbole als erklärungsbedürftige Gebilde erkannt und mithilfe der wachsenden Vernunft erst infrage gestellt, dann allmählich durchschaut. Das ist der kritische Punkt, der zunächst zu Irritationen, dann über Lerneffekte zum mehrschichtigen Symbolverständnis führt. Dieser Entwicklungsprozess braucht die Unterstützung von Menschen, die dem Kind Geschichten, Märchen und Mythen vorlesen, sie nachspielen bzw. mit Imaginationsübungen und Fantasiereisen sein Symbolverständnis anregen und es den Doppelsinn und die Brückenfunktion der Symbole entdecken lassen. In dieser Phase lernen die Kinder allmählich auch, verstandesmäßig den Sinn und die Kraft von Ritualen und Symbolen zu durchschauen. Sie werden zu Entwicklungshelfern für die eigene Person und zu Verbindungselementen zwischen dem Kind und anderen Menschen.

In der Pubertät entscheidet sich, welche Funktion den Ritualen und Symbolen zukünftig beigemessen wird. Nun müssen sie auf ihre Zukunftstauglichkeit untersucht werden. Probehandeln ist angesagt, um die eigene Rolle und Wirkung in Abgrenzung zu den Eltern auszutesten: Was passt zu mir? Was nicht? Altes wird zunächst über Bord geworfen, Neues (etwa Stars und Idole) imitiert – ihre Frisur, Tattoos und Kleidung. Darin steckt aber auch eine ernsthafte Suche nach Werten und Menschen, die diese Werte verkörpern und ihnen einen Weg zeigen können. Dann ist die Frage: Setzt man sich also mit Ritualen und Symbolen auseinander, hinterfragt man sie kritisch oder ist das alles zu anstrengend? Der einfachste Weg ist, den herkömmlichen, beobachteten und gelernten Ritualen blindlings zu folgen, völlig unreflektiert. Ein anderer Weg ist, dies alles, genauso unreflektiert, aus reiner Opposition über Bord zu werfen. Der sinnvollste Weg ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie als Chance zur Persönlichkeitsbildung zu erkennen: Rituale und Symbole bieten Hilfen zur Lebensbewältigung an, zu einem neuen Selbstbewusstsein, sie sind Halt und Geländer in Krisensituationen, sind Verbindung vom Suchenden zum Ratgeber.

Rituale und Symbole erschließen

Gute Erfahrungen haben wir mit einem Modell des Philosophen und Theologen Heinrich Ott gemacht, das wir durchgängig in diesem Buch verwenden. Den Ausgangspunkt bildet die Mehrschichtigkeit von Sprache und Wirklichkeit. Sie spiegelt sich in drei Bedeutungsebenen.

Das Beispiel Brot

• Die alltäglich-reale Bedeutungsebene erschließt sich uns, indem wir Brot mit allen Sinnen betasten, sehen, riechen, schmecken, also wahrnehmen und es entdecken als Grundnahrungsmittel, das uns stärkt und gesund erhält.

• Die übertragene Bedeutungsebene begegnet uns in Sprichwörtern, Märchen, Bildworten (Metaphern). In ihnen verdichtet sich die Erfahrung vieler Menschen über einen langen Zeitraum hinweg. Nehmen Sie als Beispiel »Wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing’.« Es verweist auf die riskante Abhängigkeit des Brot-Nehmers vom Brot-Geber und bietet dazu eine Lösung: Rede/singe ihm nach dem Mund. Alles andere ist gefährlich.

• Die religiöse Bedeutungsebene finden wir in biblischen Erzählungen vom Manna (Brot, das vom Himmel fällt) oder in der Erzählung vom Letzten Abendmahl Jesu (Brotteilen zum Abschied – ein dauerhaftes Erinnerungszeichen). Alle drei Ebenen ergänzen und durchdringen sich gegenseitig und lassen über den Entstehungsund Verwendungszusammenhang den Sinn erkennen. In der Vaterunser-Bitte um das tägliche Brot bilden alle drei Ebenen ein Ganzes. Mit den Worten Jesu dürfen wir von Gott alles Lebensnotwendige erhoffen.

Ein zweites Modell zur Erschließung haben Sie beim Märchen Die drei Sprachen kennengelernt. Es lädt ein, alle äußeren Gegebenheiten und Gestalten des Textes so zu interpretieren, dass sie die eigenen inneren Kräfte, Zustände und schicksalhaften Verknüpfungen (subjektive Variante) oder die der anderen Menschen (objektive Variante) widerspiegeln. Ich kann probehalber mich selbst oder andere Menschen damit identifizieren und so eine heilsame, neue Sicht über mich selbst oder über andere gewinnen.

Der französische Sprachphilosoph Paul Ricœur nennt dieses Vorgehen auch den Weg vom ersten zum zweiten Sinn. Dieser Weg bildet in seiner Theorie zugleich die Brücke von der ersten zur zweiten Naivität. Auch für ihn gilt: Der erste Sinn, vergleichbar der natürlichen Bedeutungsebene, ist durch möglichst eingehende Wahrnehmung sowie mehrfachen Perspektivwechsel freizulegen. Denn der zweite Sinn wohnt dem ersten inne. Das ist der springende Punkt, damit Märchen und Träume ihre heilenden Kräfte im Menschen wecken und den inneren Heiler aktivieren können. Rituale und Symbole können ihre Heilkraft entfalten, wenn sich der Mensch mit ihnen auseinandersetzt und so ihren Sinngehalt, den inneren Bedeutungsgehalt freilegt.

Was ist ein Symbol, ein Ritual?

Das erzählt uns eine alte Sage zur Erklärung des Wortes Sym-bol (griech. sym-balein = zusammenfügen): Zwei Freunde im alten Griechenland nehmen Abschied voneinander. Sie ritzen ihre Namen auf eine Tonscherbe und brechen sie in zwei Stücke. Jeder nimmt eine Hälfte mit; er weiß, dass er den Freund lange nicht sehen wird. Das Brechen von Ton und Namen drückt den Schmerz des Abschieds aus. Das sorgfältige Bewahren bringt Treue zum Ausdruck. Jede Hälfte verweist auf die Freundschaft, die gestern erlebt wurde, und ist zugleich ein Zeichen der Hoffnung auf die Freundschaft, die morgen neu erfahren werden kann. Der zerbrochene Teil der Tonscherbe (des Rings oder der Schale) ist zwar selbst nicht Freundschaft, aber er ist ein sinnliches Erkennungszeichen, das abwesende Freundschaft vergegenwärtigen, in die Gegenwart hineinziehen kann. Nach langer Zeit treffen sich die Freunde wieder: Bei einer Schale Wein setzen sie die Tonstücke zusammen. Ton und Namen ergänzen sich wieder. Sie feiern das Glück der Wiedervereinigung des Getrennten.7

Das Symbol birgt und entbirgt seinen Sinn in einem Gegenstand (Ring, Tonscherbe, Freundschafts- oder Ehering). Das Ritual übermittelt seinen Sinn in einer Handlung mit dem Symbol (Ring bzw. Tonscherbe wieder zusammenfügen, Ehering anstecken in einer Feier). Deshalb sprechen manche von Gegenstands- und Handlungssymbol (= Ritual). Ein Ritual braucht einen definierten Anfang und Schluss, eine klare Abfolge von Teilelementen und festgelegte Deute-Worte/Formeln, die den Sinn eingrenzen und festlegen. Rituale entfalten ihre Wirkung aus der Spannung zwischen Wiedererkennen und Überraschung. Ohne Überraschungsmomente, ohne Aktualisierung auf unsere Lebenssituation heute werden sie allmählich stumm, verlieren ihre (Heil-)Kraft und erstarren in totem Ritualismus.

Quellen der Heilkraft

Diese Quellen zu erkunden, verlangt nun tatsächlich etwas Zeit zum Nachdenken. Vielleicht bringt uns der Rückblick Lorenz Wachingers unter dem Motto Wie Wunden heilen auf die richtige Spur. Er resümiert: Rituale und Symbole, mit viel Fingerspitzengefühl und großer Erfahrung vom Therapeuten gezielt in den Heilungsprozess eingebracht, wirken wie ein überraschender Energiestoß. Wenn die Therapie positiv verläuft, weckt ein energetischer Impuls den inneren Heiler, setzt die gefesselten Selbstheilungskräfte, die zuvor erblindete Selbsterkenntnis frei, und bringt Erstarrtes wieder in Bewegung. Der Prozess der Verwandlung, der Heilung nimmt seinen Lauf. Und woher kommt sie? Wachinger meint, sie kommt aus der Mitte des an seiner Situation leidenden oder von Begeisterung erfassten Menschen, aus der Leben erhaltenden und fördernden Bündelung all seiner Kräfte, seiner Emotionen, seiner Vernunft und seines Geistes. Sie verbünden sich mit den Kräften des Therapeuten. Aber der Leidende oder Über-Begeisterte selbst gibt also den Ausschlag mit seiner Bereitschaft, sich der Kraft der Rituale, der Heilungsmethoden und Symbole anzuvertrauen. Aus unserer Sicht ist das jedoch noch nicht alles. Wir fragen weiter: Sind bei unseren Brückenbauern, den Ritualen und Symbolen, auch noch spirituelle Kräfte am Werk? Hier kommen Humanwissenschaften und Theologie ins Spiel.

Die Humanwissenschaften belegen durch ihre Forschung, dass der Mensch nicht auf Rituale und Symbole verzichten kann. An der Grenze zum Un-Sag-baren bleibt er auf sie angewiesen. Dazu gehören die Psychotherapien und die Hilfe von Ritualen und Symbolen, mit denen Heilerfolge erzielt werden. Das Unterscheidende zwischen Humanwissenschaften und Theologie bleibt in erster Linie der zentrale Gegenstand theologischer Forschung: die Suche nach Gott und der Glaube an Gott mit seiner Gestaltungskraft. Die Vertreter der Humanwissenschaften üben an diesem Punkt Zurückhaltung, klinken sich redlicherweise aus. Sie fühlen sich aber durchaus geachtet, wenn Theologen den erarbeiteten Zuwachs an Erkenntnissen über den Menschen, seinen Sprach- und Symbolgebrauch in den Humanwissenschaften respektvoll aufgreifen und für die eigene Arbeit fruchtbar machen. Aus Respekt vor dieser Grenze haben wir die Unterscheidung zwischen allgemeinen und christlichen Ritualen getroffen, obwohl gerade die Praktische Theologie großen Nutzen aus den Humanwissenschaften zieht: in der Seelsorge, bei der Gestaltung der Gottesdienste und bei der Erschließung des christlichen Glaubens für Menschen jeglichen Alters.

 

Von der Kraft christlicher Rituale und Symbole

Die Sehnsucht der Menschen nach Gesundheit und Wohlbefinden, nach Glück und Frieden ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir betrachten diese Sehnsucht neben dem Streben nach Erkenntnis als die Kraft im Menschen, die ihn drängt, die Frage nach dem Woher und Wohin des Kosmos sowie des Menschen zu stellen. Viktor Frankl spricht aus seiner KZ-Erfahrung sogar vom Willen zum Sinn. Diese Kraft ist aus menschlicher Sicht der Ursprung der Religionen. Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist sie allen Menschen vom Schöpfergott vom Anfang an mitgegeben und sucht deshalb ihre Erfüllung in Gott, d. h. im Bereich der Transzendenz.

Wir möchten mit Ihnen nach diesen Spuren in Ritualen und Symbolen des christlichen Glaubens suchen, wie sie uns heute begegnen und deren einende Mitte Jesus Christus bildet. Wir bleiben dabei unserem Motto treu, den Weg von der äußeren Gestalt zum inneren Gehalt zu gehen.

Kirchenschätze, Bibeltexte, Kunstwerke – ein Spaziergang

Zunächst ein ganz realer Spaziergang, nicht nur im Kopfkino mithilfe Ihrer Fantasie oder Erinnerung.

Aus dem Schatz christlicher Kirchenräume

Wir laden Sie ein, sich auf Entdeckungstour in eine evangelische oder katholische Kirche zu begeben. Es sollte eine sein, die Ihnen gefällt. Wir geben Ihnen drei Aufgaben mit.

Impuls

Aufgabe eins: Den Kirchenraum im Umhergehen aufmerksam erleben, mit allen Sinnen wahrnehmen und beobachten: Wie wirkt der Raum mit seiner Atmosphäre, seinem Baustil, den Lichtverhältnissen, der Anordnung von Altar und Bänken auf Sie (lichtüberflutet oder mystisch-halbdunkel, kühl oder warm, kahl oder überfüllt, kraftvoll oder leer, nüchtern oder einladend, erschlägt er Sie oder lässt er Sie aufatmen)? Welche Gefühle, Gedanken, Erinnerungen löst er in Ihnen aus? Lassen Sie sich Zeit dazu!

Aufgabe zwei: Welche Bilder, Figuren, Symbole, Gegenstände können Sie erkennen und benennen (Kreuz, Kreuzweg, Heiligenfiguren, z.B. Maria) und welche Vorrichtungen für rituelle Feiern (Altar oder Altäre, Kanzel, Ambo mit Bibel, Taufbrunnen, Taufbecken, Tabernakel …)? Melden sich Erinnerungen an frühere Erlebnisse? Regt sich die Sehnsucht nach mehr und engerem Kontakt oder nach mehr Distanz?

Aufgabe drei: Suchen Sie Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit Leiden und Erlösung, Krankheit und Heilung (Kreuzwegdarstellung, Votivtafeln, Inschriften, Schriften)!

Setzen Sie sich abschließend, bevor Sie die Kirche verlassen, an den Ort, der Ihnen guttut. Genießen Sie die Stille, atmen Sie ruhig, und suchen Sie in Ihrem Innern eine neue Standortbestimmung für sich:

Der christliche Glaube und seine Symbole wirken auf mich wie …

Das möchten sie mir vielleicht geben: …

Das Ergebnis dieses geistlichen Spaziergangs bleibt Ihr persönliches Geheimnis. Wir können aber unsere Intention abschließend noch einmal verdeutlichen: Wir wollten Sie mit diesem Spaziergang ermutigen, das Potenzial des Raumes in einer christlichen Kirche zu erleben, den Raum mit allen Sinnen wahrzunehmen und seine Bedeutung für sich selbst neu zu erschließen und auszuschöpfen. Wir sind überzeugt von diesem Potenzial, dieser Energie, kennen aber auch die großen Unterschiede. Mehr als auf den Raum kommt es auf die Menschen an, die diesen Raum füllen, aktuell gestalten, ihm mit ihren lebensnahen, aussagekräftigen, den Glauben stärkenden, rituellen Feiern Faszination und Ausstrahlung geben. Traditionspflege genügt nicht. Kirchen sind keine Museen.


Aus der Fülle biblischer Erzählungen

Im Alten Testament findet sich eine Erzählung mit märchenhaften Zügen: Das Buch Tobit. Es ist benannt nach einem tiefgläubigen jüdischen Mann, der zwischen 722 und 587 vor Christus in Ninive im Exil lebt, allen Schicksalsschlägen zum Trotz an seinem Glauben festhält und sehnsüchtig auf die Rückkehr nach Israel hofft. Sein Sohn heißt Tobias (hebr. Tobija = Gott ist gut). Ein Name – ein Programm! Im Fortgang tritt ein Engel mit dem Namen Rafael (hebr. = Gott heilt) in die Erzählung ein. Ein ganzes Glaubensbekenntnis in einem Namen. Paracelsus sagt: »Die Natur heilt, der Arzt kuriert nur.« Somit konfrontiert uns diese Erzählung mit der Frage: Woher kommt die Heilkraft wirklich?

AUS DEM BUCH TOBIT

Der gesetzestreue Jude Tobit begräbt gegen den Willen des assyrischen Königs seine Glaubensgenossen und unterstützt die Armen. Ausgerechnet er erblindet und wird zum Spott der Leute, selbst seiner Frau. Er klagt Gott sein Elend.

Fern in Ekbatana lebt Raguel, ein Schuldner Tobits, mit seiner Tochter Sara, der die Männer wegsterben. Man sagt, ein Dämon wohne in ihr. Sie klagt und betet zu Gott. Da sendet Gott den Engel Rafael.

Raguel schickt Tobit mit dem Schuldschein nach Ekbatana. Rafael begleitet ihn als Beschützer, aber auch Aufgabensteller: Tobit muss unter Todesgefahr einen Fisch angeln, Galle, Leber und Herz entfernen und mitnehmen. Mit einem Teil davon vertreibt Tobit den Dämon Saras. Beide feiern Hochzeit und begeben sich auf die Rückreise.

Unglaubliches geschieht. Mit der Galle heilt Tobit mit Rafaels Hilfe die Blindheit Raguels. Rafael gibt sich als Gottes Bote zu erkennen und verabschiedet sich mit den Worten: »Alles geschah im Auftrag Gottes. Er meint es gut mit euch. Lobt und preist ihn ein Leben lang!« 8

Impuls

Es lohnt sich, diese Erzählung im Original, also in der Bibel zu lesen. Allein schon die Gebete Tobits und Saras sind es wert, die Bibel aufzuschlagen.

Um den tieferen Sinn dieser märchenhaften Erzählung zu erschließen, ist es wichtig, sich ihr historisches Alter bewusst zu machen: 700 Jahre vor Christus! Sprache und Inhalt spiegeln das damalige Weltbild und Auffassungsvermögen wider. Wir können sie nicht wortwörtlich ins Heute übersetzen. Als Christen gehen wir davon aus, dass wir Gottes Wort nur im Menschen-Wort begegnen können. Auch diese Erzählung ist Ausdruck zutiefst menschlichen Glaubens, inspiriert von Gottes Geist und trotzdem im zeitgebundenen Gewand.

Ihr Sinn kann sich erschließen u. a. mit der Ihnen inzwischen bekannten tiefenpsychologischen Methode Lorenz Wachingers:

• Der Name Rafael ist ein »altes Bekenntnis zu der Macht, die wirklich heilen kann«9.

• Wie Held und Heldin in einem Märchen müssen Tobias und Sara einen weiten, mühe- und gefahrvollen Weg mit schmerzhaften Erlebnissen meistern.

• Dennoch bleibt unübersehbar: »Alle Personen dieser Geschichte erfahren ihre Heilung«,10 gehen den Weg innerer Veränderung und Verwandlung, von materieller bzw. seelischer Not und Heillosigkeit angetrieben, kurzzeitig auch in Erstarrung festgehalten. Ihre erste Zuflucht ist das Gebet. Sie klagen und schreien zu Gott. Doch dann rührt eine Hand sie an und befreit sie.

• Ein Mensch hat eine innere Wende, eine Umkehr vollzogen. Die Berührung (samt eigentümlicher Medizin) ist angekommen, wirkt sich aus. Ein Schicksalsschlag ist verarbeitet, eine seltsame Verstrickung gelöst, die Botschaft verstanden.

• »Gewiss gibt es Unglück, das einem zustößt. Es lohnt sich aber, den (eigenen) Anteil der Angst zu sehen: Angst vor dem Neuen, vor der Macht der Triebe, Angst vor dem Fremden …

• Der Mythos legt nahe, dass das Vertrauen eine Gestalt braucht, an die es sich halten kann, eine Gestalt, die aus dem göttlichen Bereich kommt, wird (zusätzlich) zu den eigenen Kräften Mut machen können.«11

Lorenz Wachinger schließt mit einem Zitat, das Martin Buber von seiner Großmutter überliefert hat: »Man weiß nie vorher, wie der Engel aussieht.«12

Weitere wichtige Gesichtspunkte der Geschichte sind:

• Die Tobit-Erzählung erreicht uns heute nach fast 3000 Jahren über zunächst lange mündliche, dann schriftliche Überlieferung in einer völlig veränderten Welt.

• Christliche, gottesdienstliche Riten und Rituale, aber auch theologische Seminare holen die Gestalten der Erzählung immer wieder aus der Versenkung hervor und halten den Überlieferungsprozess lebendig, verhindern, dass sie zu stummem Wissen erstarren. Sie bauen tragfähige Brücken bis in unsere Zeit.

• Schon die Namen der Hauptakteure rückten die zentrale Botschaft ins Zentrum: »Gott ist gut« und »Gott heilt«. Zugleich reichen sie die Fragen »Wer ist Gott? Auf welche Weise berührt er mich?« an uns weiter.

• Gott ist für die Menschen dieser märchenhaften Erzählung eine feste Bezugsgröße, den sie preisen und loben, aber auch bitten und anklagen in Glück und Elend. Nicht an Leid und Zweifel vorbei, sondern durch beides hindurch zeigt ER sich. Auf ihn setzen Tobit, Tobias und Sara ihre ganze Hoffnung und scheitern nicht. Ihre Gebete lassen sie Schicksalsschläge ver-kraft-en. Sie begraben trotz aller Gefahren ihre Toten und geben ihnen damit ihre Würde zurück.

• Christlicher Glaube ist von Grund auf interreligiös. Judentum und Christentum sind in der Bibel unauflösbar miteinander verbunden und noch mehr in Jesus, dem gläubigen Juden, Christus, d. h. dem Gesalbten Gottes.

• Heilung geschieht aus der Dynamik dieses Gottesglaubens heraus: ER ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, der den Anfang und das Ende für alle und alles setzt und der heilt – aber nicht ohne die Menschen! Sie werden manchmal zu Engeln: »Man weiß nie vorher, wie der Engel aussieht.«

Christliche Kunstwerke – »Christus in der Dose«

Sowohl der Künstler als auch seine teils provokante Symbolsprache sind Ihnen sicher bekannt. Anfangs glaubten selbst manche Kunstkenner, es handle sich bei diesem Kunstwerk um Blasphemie. Sind auch Sie entsetzt? Es handelt sich um ein Frühwerk Joseph Beuys’ aus der Nachkriegszeit, entstanden 1949. Lassen Sie sich auf dieses Kunstwerk ein, und versuchen Sie, erst selbstständig seine Bestandteile zu sammeln und zu entschlüsseln.


© VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Unsere Gedanken

• Da sind … eine Zigarrenkiste aus Sperrholz, links mit den alten Werbeemblemen der Firma und den dazugehörigen Schriftzügen – unverkennbar Nachkriegszeit!

• Rechts – nicht so leicht erkennbar – ein Körper, eine Figur aus knetbarem, inzwischen bröseligem Fensterkitt in Kreuzform mit einem Überbau, einer Gloriole.

• Dose steht nur im Titel. Zu sehen ist keine. Das ist also schon alles!

• Zigarren galten in der schweren Nachkriegszeit – wie heute – als Genussmittel, Geschenkartikel, Statussymbol. Wollen sie einen Hinweis geben auf die Möglichkeit, für eine Zigarrenlänge Elend und Not entfliehen zu können, alles zu unterbrechen, hinter sich zu lassen, der harten Wirklichkeit zu entfliehen …? Nach Johann B. Metz ist Unterbrechung die kürzeste Definition für Religion, deren Grundaufgabe es ist, Leiden zu unterbrechen.

• Zigarrenkistchen waren damals kostbar, darin konnte man Briefmarken, Münzen, Muscheln, Briefe sammeln. Sie waren die reinsten Schatzkästchen. Vielleicht soll uns die Kiste an mittelalterliche Reliquienschreine erinnern, in denen die Gebeine der Heiligen gesammelt und verehrt wurden … ein Schrein ohne Gold, aus Alltäglichem.

• Die Figur, geknetet aus Fensterkitt – nach eigenem Gusto, eigenem Geschmack? Christus, leicht manipulierbar und zugleich zerbrechlich?

 

• Nein! Denn dieser Christus in der Dose – alias: Zigarrenkiste – ergibt mit Gloriole einen Anker, der bei genauerer Betrachtung mit dem Firmenlogo korrespondiert, dem Anker auf der linken Seite: geschäftlich ein werbeträchtiges Zeichen, aber in der Realität der feste Punkt, der Halt gibt, auch noch im Sturm. Vorsicht! Die Grenze zwischen Klischee und wahrem Symbolzeichen verläuft manchmal fließend.

• Wenn es Joseph Beuys ernst meint, dann vereint er in diesem Kunstwerk Kreuz und Anker. Dann ist das Kreuz zugleich unser Anker und Christus ebenfalls – nicht an Leid und Tod vorbei, sondern mittendrin und mitten hindurch, in Solidarität mit allen Leidenden.

• Unterstrichen wird diese Annahme durch den Titel Christus in der Dose: Auch Dosen waren im Nachkriegsdeutschland etwas Kostbares, nichts zum Entsorgen im Wertstoffhof. Dosen boten Haltbares, Überlebenswichtiges an wie die Eiserne Ration im Krieg.

• Wer Augen hat zu sehen, der sehe und glaube an diesen zerbrechlichen Christus, der Halt gibt, der die eiserne Ration ist für alle Verwundeten, Leidenden, der »zu kurz gekommen« ist. »Er hat unsere Krankheiten und unsere Schmerzen auf sich genommen … durch seine Wunden sind sie, sind wir geheilt.«13

Mit der Erschließung dieses Kunstwerks haben wir zugleich das zentrale Symbol des christlichen Glaubens für uns erschlossen: das Kreuz. Mit dem Jesaja-Zitat aus den Gottesknechtsliedern ist zugleich ein Beispiel gegeben, wie Altes und Neues Testament in Jesus Christus verbunden und überbrückt werden. Diese Jesaja-Stelle bildete damals für die Jünger Jesu eine der Schlüsselstellen, um dem Kreuzestod Jesu einen Sinn abzuringen. Der Prophet Jesaja steht neben der Johannespassion im Zentrum der Karfreitagsliturgie, der jährlichen Feier der Christen zum Gedenken an Jesu Tod am Kreuz. Aber das Kreuz verweist nicht nur auf den Tod, sondern auch auf das (Weiter-)Leben, auf die Auferweckung Jesu Christi durch Gott. Christen feiern sie an Ostern. Nicht der Tod, sondern Hoffnung und Leben haben das letzte Wort. Christen glauben: Das Kreuz umspannt beide Pole. Es ist unser Anker.

Impuls

Vor einiger Zeit feierten Freunde von uns ihre goldene Hochzeit. Sie baten uns, zu diesem Anlass eine religiöse Feier mit allen Gästen mitten in der Natur zu gestalten. Dabei entstand zu einer bekannten Melodie ein Text, also ein Lied, das wir gemeinsam singen konnten. Es greift das Anker- und Netz-Symbol auf und verhilft Ihnen vielleicht zu einem tieferen Verständnis … Eine Einladung zur Meditation.

Du bist unser Leben, du bist unser Strom,

Du bist unser Grund im Ozean der Zeit.

Du bist unser Anker, Netz, das trägt und hält,

dir vertrau’n wir, wenn auch Wind und Wellen uns bedroh’n.

Mit dir gibt es keine Angst; denn du hältst uns fest.

Sei uns nahe, bleibe bei uns, Gott!

Du gibst uns den Atem, schenkst uns Raum und Zeit.

Danke für die Zeit des Miteinander-Seins,

Danke für die Menschen, die uns anvertraut.

Licht und Dunkel wechseln, doch dein Netz umfängt uns sanft.

Dank für deine Liebe, für Geborgenheit.

Danke für dein Dasein Tag und Nacht.

Du bleibst unsre Hoffnung auf dem Weg ans Ziel, für die Zahl der Jahre, die noch vor uns steh’n.

Jenseits aller Grenzen halte uns dein Netz fest zusammen im Vertrauen auf das Wiedersehn.

Schenk uns deinen Frieden, Frieden für die Welt.

Segne uns mit deiner Liebe Kraft!

Gertrud und Norbert Weidinger

Ausdrucksformen des christlichen Glaubens

Sich Jesus annähern

Wer Gott sein könnte, erahnen wir zunächst im täglichen Leben mit allen Aha-Erlebnissen und Rätseln, allen Freuden und Nöten, die uns von Tag zu Tag erwarten, sowie aus den Antworten, die wir darauf suchen und finden. Christen haben jedoch ein Vorbild für ihren Glauben: Jesus von Nazareth. Er muss in der Geschichte der Menschheit eine große Rolle gespielt haben. Wie sonst käme es zu unserer offiziellen Zeitzählung seit 2020 Jahren, die mit seiner Geburt beginnt? Wer war und wer ist er? Welches Bild haben Sie von ihm?

Schon als Zwölfjähriger nahm Jesus wie alle frommen Juden an der jährlichen Wallfahrt zum Paschafest im Tempel von Jerusalem teil. Er besuchte auch die Synagoge in Nazareth und feierte mit seiner Glaubensgemeinschaft z. B. das Laubhüttenfest mit den vorgeschriebenen Ritualen und Bräuchen. Doch mit der Taufe im Jordan durch Johannes änderte sich sein Leben. Sie muss eine tief greifende Erfahrung, eine Art Berufung für ihn gewesen sein mit einer ihn verwandelnden Kraft. Von da an zog er sich des Öfteren zum Gebet in die Einsamkeit zurück, wurde Wanderlehrer und -prediger. Er scharte Jünger, auch Jüngerinnen um sich. Jesus muss aus einer ganz einzigartigen Beziehung zu Gott gelebt haben. Die wiederum gab ihm eine kaum beschreibbare Ausstrahlung.

Als zentrale Botschaft verkündet dieser Jesus in starken Bildern das Kommen des Reiches Gottes und behauptet, dass es mit ihm angebrochen sei. Viele Leute, die ihn hören, rätseln und kommen zu dem Schluss: Er redet anders von Gott als unsere Priester. Er redet wie einer, der Macht hat.

Je mehr Leute ihn sehen und hören wollen, desto mehr gerät er in Konflikt mit der Priesterschaft, die um ihre Autorität fürchtet. Am Ende wird er vom römischen Statthalter Pilatus – gegen dessen eigene Überzeugung – als Aufwiegler unschuldig zum Tod am Kreuz verurteilt. Wie Jesu Jünger glauben wir Christen noch heute an seine Auferweckung durch Gott. Im Sturm und an Feuerzungen erkannten seine Jünger und Jüngerinnen die von Jesus verheißene Sendung des Heiligen Geistes, der Christen seither beisteht, tröstet, inspiriert und den Glauben stärkt in allem Suchen, Fragen und Zweifeln – auch in Zeiten von Krankheit, innerer Not und schicksalhaften Verstrickungen. Für Christen ist Gott dreifaltig-einer: Vater – Sohn – Heiliger Geist.

Christliche Symbolik in Jesu Worten

Auch Jesus stieß mit seiner Botschaft an die Grenze, die Schallmauer des Unsagbaren. Deshalb spricht er von Gott und seinem Reich in Gleichnissen und in Ich-bin-Worten, wenn er seinen Gottesglauben zum Ausdruck bringen will.

Um seinen Zuhörern, vor allem den Kranken und Gekränkten, Freunden und Gegnern seinen Glauben an das Anbrechen des Reiches Gottes zu verdeutlichen, erzählt Jesus Gleichnisse wie zum Beispiel: Mit Gottes Reich ist es wie …

• … mit der Saat, die der Sämann auf den Acker streut … (Mk 4,1–9)

• … mit dem entdeckten verborgenen Schatz … (Mt 13,44–46)

• … mit dem barmherzigen Samariter … (Lk 10,25–37)

• … mit dem verlorenen Schaf (Lk 15,1–10) oder dem verlorenen Sohn … (Lk 15,11–32)

Manchmal reicht ein einziger Satz, und schon erwachte in seinen Hörern und Hörerinnen eine neue, ganz andere Vorstellung von Gott und seinem Reich, und es geht uns heute noch so.

Impuls

Lesen Sie doch für sich einmal eines der Gleichnisse in der Bibel. Jedes sagt sehr viel aus über den Glauben Jesu und seine Vision von Nächstenliebe, von einer Welt, in der einer dem anderen zum Nächsten wird.

Man mag solche Gleichnisse als Metaphern, Parabeln oder Bildreden deuten. Immer beschreiben sie einen Vorgang, einen Prozess. Immer greifen sie auf alltäglich Erlebbares zurück, erzeugen so Interesse und – im positiven Fall – ein Aha-Erlebnis, eine sich plötzlich einstellende neue Einsicht. Sie bringen darunter oder dahinter Liegendes zum Vorschein, nämlich Gott als

• geduldigen Sämann, der nicht jedes Unkraut ausreißt.

• gütigen Vater, der für den verloren geglaubten Sohn ein Fest initiiert.

• guten Hirten, der seine Schafe bewacht und dem verirrten Schaf nachgeht.

Fast alle Bibelforscher kommen zum Ergebnis: Nirgends sind wir heutige Menschen der originalen Stimme Jesu so nahe wie in den Gleichniserzählungen. Jesus sprengt damit die Grenze zum Un-Vorstellbaren und Un-Sagbaren, überbrückt den Graben, der uns von ihm und seiner Zeit trennt, knüpft auch für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, eine neue Beziehung zu Gott, ermutigt, stiftet Vertrauen – die Grundlage jeglicher heilsamen Verwandlung oder Heilung.

Im Johannesevangelium erfahren die Gleichnisse noch eine Steigerung und theologische Überhöhung durch Jesu Ich-bin-Worte:

Ich bin das Brot des Lebens.