Ansichten eines Hausarztes

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Ansichten eines Hausarztes
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Dr. med. Erich Freisleben

Ansichten

eines Hausarztes

ISBN 978-3-99025-511-7

Alle Rechte vorbehalten

© Freya Verlag 2021

Satz/Cover: freya_art

Lektorat: Mag. Dorothea Forster

Fotos: Hannelore Schild-Vogel, Adobe Stock: Vector Tradition

Der Inhalt dieses Buches wurde mit größter Sorgfalt erstellt, doch wie jede Wissenschaft entwickelt sich auch die Medizin ständig weiter. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Inhalte kann keine Garantie übernommen werden. Eine Haftung des Autors und des Verlags für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist somit ausgeschlossen.

Vorwort
Ein Stimmungsbild aus der Hausarztsprechstunde zur Corona-Zeit
Lauter echte Sorgen
Von April 2020 bis April 2021 – Was ist bloß geschehen?
April 2020 – Gemeinschaft und Hoffnung
April 2021 – Spaltung und Ermüdung
Die Medizin früher: Besonnene Eingriffe ins Naturgeschehen
Die Medizin heute: Kommerzialisierung und Vertrauensverlust
Politische Weichenstellungen in der Corona-Pandemie.
Die erste Weiche: einseitige Festlegungen und der Verzicht auf Abwägung
Der Panik-Plan
Die drei Sorten der Angst
Positionskämpfe
Die Hintergründe der streitenden Akteure
Zwischen den Polen: ungehörte Wissenschaftler
Politische Weichenstellungen in der Corona-Pandemie. Die zweite Weiche: Moralverwirrung und Verrat am Hippokratischen Eid
Ethik als Kampfbegriff
Der Tübinger Weg
Das Querdenker-Phänomen
Die „Esoteriker“
Das Impfthema
Die Neuartigkeit der Corona-Impfstoffe
RNA-Impfstoffe
DNA-Impfstoffe
Vektor-Impfstoffe
Eigene Erfahrungen in der Impfpraxis
Ein schändlicher Aufruf: Impfung als Voraussetzung für den Schulbesuch
Die Presse sekundiert der neuen Leichtsinnigkeit
Politische Weichenstellungen in der Corona-Pandemie. Die dritte Weiche: der Wahn totaler Kontrolle
Richtung ohne Ausweg
Parteien und Parlamentarismus im Corona-Schlaf
Verschwörungserzählungen
Kern meiner Kritik
Ein nüchterner Blick auf das Corona-Virus
Eine Gefahrenbewertung
Welche Infektionsinzidenz darf zugelassen werden?
Offizielle Statistiken geben Antworten
Zwielichtige Rolle der WHO
Kosten der Pandemie und andere Kollateralschäden
Brennende Fragen
Schwache Widerstandskräfte
Die globale Transformation
Wer profitiert am meisten?
Crash-Kurs: Arzneimittel, Ausbeutung, Macht
Eine Rechnung mit dem Wirt
Der kritische Geist
Der besonnene Mittelweg
Frische Antworten – Erkenntnis und Aufbruch
Aufbrüche
Die Wahrhaftigkeit
Persönliche Schlussbetrachtung
Zwei Arten des Wahns
Nachtrag
Der Clou zum Schluss
Quellen
Vorwort

Hausärzte müssen sich täglich immer wieder aufs Neue fragen, ob sich ihre Entscheidungen, Verordnungen und Ratschläge für die Patienten wirklich zum Besten auswirken. Wir sind aber nicht allein Spezialisten für Organprobleme, sondern müssen Krankheit auch immer im Kontext ihrer Zusammenhänge betrachten. Dazu sind wir Teil des Gesundheitssystems und der allgemeinen gesellschaftlichen Umstände. In dieser Gemengelage fallen die Antworten von Ärzten auf gesundheitliche Probleme nicht immer gleich aus. Weil ich mich nach vierzig Jahren ärztlicher Tätigkeit allmählich aus dem Berufsleben verabschiede, hatte ich das Bedürfnis, zuvor noch von meinen Erfahrungen aus mehreren zehntausend Patientenbegegnungen und von der Entwicklung unseres Medizinsystems Zeugnis abzulegen. Deshalb veröffentlichte ich im Sommer 2020 ein Buch mit dem Titel Medizin ohne Moral.

Mit dem doch sehr kritischen Titel hatte ich lange gerungen und wollte ihn zunächst mit einem Fragezeichen abschwächen. Denn es ging mir nicht um Anklage, sondern vielmehr um ein Aufrütteln angesichts der Ökonomisierung des so wichtigen Sektors Gesundheit. Das Buch, das Sie nun in den Händen halten, schrieb ich zwischen Januar und August 2021. Beurteilen Sie nach dessen Lektüre selbst, ob bei seinem Vorgänger besser ein Fragezeichen angebracht gewesen wäre.

In meiner Praxis bin ich täglich mit allen Fragen rund um Corona beschäftigt. Grundsätzlich halte ich politische Einschätzungen aus meiner hausärztlichen Arbeit heraus. In diesem Buch beschäftige ich mich jedoch ganz bewusst auch damit, denn es geht mit Corona um ein Virus, das in seiner pandemisch auftretenden Variante eine eminent politische Bedeutung erlangt hat.

Ich habe das letzte Jahr Revue passieren lassen und bin den Ereignissen mit Reflexionen, Informationen und Fragen auf den Grund gegangen. Denn eines ist ganz klar: Diese Pandemie und ihr Management werden für unsere Zukunft eine kaum zu überschätzende Bedeutung haben.

Corona betrifft mich nicht nur in meiner ärztlichen Tätigkeit und Haltung, sondern, wie jeden anderen Mitmenschen, ebenfalls persönlich. Wer wie ich Kinder und Enkelkinder hat, dem mag es besonders auch darum gehen, unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. In diesem Sinne ist es besonders wichtig, genau hinzuschauen.

Ein Stimmungsbild aus der
Hausarztsprechstunde zur Corona-Zeit
Lauter echte Sorgen

Morgens um acht. Die gefaxten Laborbefunde sind schnell überblickt, die E-Mails gelesen. Aus dem Stapel der Post sortiere ich eilig die Werbung aus. Die Überschriften der Studien in den neuesten medizinischen Fachzeitschriften kann ich nur überfliegen. Die Hälfte des Kaffees in der Tasse neben der Tastatur bleibt unberührt.

Meine erste Patientin Frau Schmidt möchte ihre Befunde erläutert haben. Schnell kommen wir darüber auf das Thema Ernährung. Sie klagt, alles sei ihr über den Kopf gewachsen. Mit ihren Mitarbeitern einer Werbeagentur tauscht sie sich online aus. Ihre beiden Kinder, wegen Corona zu Hause beschult, sind ständig um sie herum. Um selbst arbeiten zu können, stellt sie den Nachwuchs mit Videos und Hörbüchern ruhig. Sie macht sich Vorwürfe deswegen, denn bisher hatte sie den Medienkonsum immer altersverträglich gehalten. Frau Schmidt weint. Sie schaffe es nicht mehr: Home-Work, Home-Schooling, Haushalt und keinen persönlichen Ort zum Entspannen. Mein Mitgefühl und Verständnis können sie für einen Moment trösten. Mehr kann ich nicht für sie tun.

 

Das Gesicht meiner nächsten Patientin ist arg zerkratzt, an der Stirn prangt ein taubeneigroßer Bluterguss. Sie versorgt ihre kranke Mutter in der Nachbarwohnung, ihr letztes noch lebendes Familienmitglied. Sie fürchtet, sie könnte ihrer Mutter eine Infektion einschleppen und kann nicht verstehen, dass Menschen keinen Mund- und Nasenschutz tragen. In der U-Bahn geriet sie deshalb in Streit mit einer jungen Frau, die ohne Maske telefonierte. Im Laufe des Wortgefechts rastete die Frau aus, schlug meine Patientin und zerkratzte ihr das Gesicht. Im Gespräch bemühe ich mich, ihr zu helfen, den Schock zu verarbeiten. Dokumentation und Versorgung der Verletzungen, Kontrolle des Tetanus-Impfschutzes und Monitoring von eventueller HIV- und Hepatitis-Übertragung runden die Behandlung ab.

Herrn Bäumer habe ich eine traurige Mitteilung zu machen. Seit Wochen litt er unter einem trockenen Husten und war aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus erst spät zur Untersuchung gekommen. Das Röntgenbild seiner Lunge zeigt einen deutlichen Hinweis auf Krebs. Nach unserem ausführlichen Gespräch bemühe ich mich, ihm dennoch ein Stück Zuversicht zu geben. Ich telefoniere in seinem Beisein mit einem Krankenhauskollegen, um ihn schnellstmöglich in kompetente Behandlung zu vermitteln. Beim Abschied bekommt der bisher gefasst Wirkende doch noch feuchte Augen: „Wie soll ich das bloß meiner Frau sagen?“

Ein Anruf wird durchgestellt. Frau Sommer, 88 Jahre, eine Stammpatientin. Ihr 94-jähriger Ehemann hat einen Impftermin erhalten. Sie sorgt sich, ob er wegen seiner Gebrechlichkeit die Impfung verträgt. Ich wäge mit ihr alle Bedenken und Eventualitäten ab, kann ihr aber eine letzte Ungewissheit nicht nehmen. Nachdem wir zu dem Schluss kommen, dass er sich impfen lassen solle, tönt aus dem Hintergrund seine Bassstimme: „Frag den Doktor, ob man sich impfen lassen muss!“

Bei einem kurzen Abstecher in unseren Sozialraum begegnet mir mein Kollege in gedrückter Stimmung. „Herr Besten ist gestorben“, teilt er mir lapidar mit. Er hatte den bettlägerigen alten Herrn nach der Sprechstunde häufig zu Hause besucht, um seine ausgedehnten Beingeschwüre chirurgisch zu reinigen. Eine Puzzlearbeit, die er aus Gutwilligkeit auf sich nahm. Als ihn der Aufwand überforderte, wies er den Mann ins Krankenhaus ein. Kurz vor seiner Entlassung erkrankte Herr Besten an einer Corona-Infektion und verstarb daran.

Auf dem Rückweg ins Sprechzimmer, den neuen Versuch eines Kaffeegenusses in der Hand, treffe ich auf meine leitende medizinische Fachangestellte. Entnervt lässt sie Dampf ab: „Corona, Corona, Corona, das hält doch kein Mensch aus! Ich sitze nur noch am Telefon und beantworte Fragen. Wenn ich die alle zu Ihnen durchstellen würde, könnten Sie überhaupt nicht mehr arbeiten.“

Bei der nächsten Patientin dreht es sich um ein Attest zur Befreiung von der Tragepflicht einer Schutzmaske. Frau Heim war als junges Mädchen vergewaltigt worden. Immer, wenn sie die Maske aufsetze, kämen Bilder in ihr hoch, wie ihr bei dem Vorfall der Mund zugehalten worden war. Sie werde dann panisch. Seit diesem Vorfall könne sie auch keine Schals mehr tragen. Eine schwierige Abwägungsfrage!

In der Kabine für kurze Konsultationen schaue ich mir die Wunde am Oberarm von Herrn Senftleben an. Während der Wundversorgung erzählt mir der selbstständige Kameramann, seine Auftragslage sei wegen der Pandemie eingebrochen. Lange könne er die finanziellen Einbußen nicht durchhalten. Anspruch auf Hartz IV habe er allerdings erst, wenn er seine Rücklagen fürs Alter aufgezehrt habe.

Die nächste Patientin dränge ich geradezu zur Krankschreibung. Die Krankenschwester arbeitet auf einer geschlossenen psychiatrischen Station im Schichtdienst und hat schwere Schlafstörungen. Wegen Personalmangels hatte sie kaum freie Tage. Die AHA-Regeln seien bei etlichen Patienten gar nicht durchsetzbar. Ein Kollege ist wieder einmal von einem psychotischen Menschen angegriffen worden. „Ich kann einfach nicht mehr! Aber wenn ich ausfalle, habe ich ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Team.“

Und so geht die Sprechstunde weiter. Sorgen um die eigene Gesundheit, um die Kinder, um die Existenz. Verwirrungen durch die Nachrichtenfülle. Überforderung. Erschöpfung. Resignation.

Als letzte Patientin kommt Frau Berger, eine Erzieherin kurz vor der Berentung. Sie zeigt eine Region am Fuß, die bei jedem Schritt schmerzt. Fersensporn lautet meine Diagnose. Ich verordne ihr Schuheinlagen und will sie für eine Woche krankschreiben. „Nein, lassen Sie nur“, antwortet sie. „Ich habe ja nur noch ein paar Wochen. Bei uns ist alles durcheinander, die Eltern rangeln um die Notbetreuung, die Kolleginnen haben tägliche Diskussionen. Meine Kinder tun mir am meisten leid. Von den Nachrichten ist man ja noch mehr verwirrt.“ Ihr Resümee: „Herr Doktor, das kommt mir alles so merkwürdig vor.“

In der Sprechstunde äußere ich mich nie zu politischen Angelegenheiten, auch nicht zur Corona-Politik. Auf der Heimfahrt im Auto aber sortiere ich meine Eindrücke und Gedanken. Ich passiere die Gebäude meiner einstigen Ausbildungsstätte, der Infektionsabteilung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses. Auf der Isolierstation haben wir damals die ersten HIV-Patienten behandelt, im Kellergeschoss die Versorgung von hochansteckenden Krankheiten wie Ebola und Lassafieber geprobt. Wir lernten, uns zu schützen, die Angst vor Infektionskrankheiten aber verloren wir. Ich habe sie auch heute vor Corona nicht, obwohl ich altersgemäß zur Risikogruppe gehöre. Ich schätze das Arsenal der Medizintechnologie sehr. Das eigentliche Wunder ist für mich aber die Natur der Menschen, ihre Resilienz, ihre Immunabwehr und ihre Regenerationsfähigkeit. Viele Stürme des Lebens können so ausgehalten werden. Aber die Seele darf nicht Zuversicht, innere Würde und Selbstgewissheit verlieren. Ein nachhaltiger Schutz des Menschen braucht beides – moderne Heilmittel und eine Stärkung seiner Natur.

Die Pandemie macht Angst. Nicht nur die persönliche Gesundheit braucht immer wieder Ausgleich, um zur Harmonie zu gelangen, sondern auch die der Gesellschaft. Werden wir die Balance wiedererlangen?

Von April 2020 bis April 2021 –
Was ist bloß geschehen?
April 2020 – Gemeinschaft und Hoffnung

Die ersten Nachrichten über ein neues Virus in Wuhan klangen spannend, der Ort des Geschehens lag in einem weit entfernten Teil der Welt, für die meisten von uns außerhalb unseres Reisehorizonts. Blitzartig landeten jedoch die Probleme direkt vor unserer Tür. Eine Verletzlichkeit unseres Lebens, mit der wir nie ernsthaft gerechnet hatten, wurde in kürzester Zeit Realität. Als wir begriffen, dass wir selbst inmitten einer Pandemie waren, kam die Angst.

Die Berichte von den Toten in Bergamo erzeugten in den Industriestaaten einen Schock: Hilfloses Sterben auf der Straße inmitten unserer Welt der Technik, der Versicherungs- und Sozialsysteme. Der erste Lockdown stand im Zeichen des Versuchs einer solidarischen Abwehr dieser Gefahr. Die Angst vor dem Virus machte uns demütiger und lehrte uns unmissverständlich, dass in schwierigen Zeiten Mitmenschlichkeit unser Leben aufrechterhält. In der Not des ersten durch Corona bedingten Ausnahmezustands stellten wir fest, dass die schlecht bezahlten und bürokratisch überfrachteten Helferberufe wichtiger sein können als höchst alimentierte Manager, Star-Anwälte und Technologie-Giganten.

Der Verzicht auf die Freiheiten unseres gewohnten Lebens wurde damals noch im allgemeinen Konsens getragen. In den Medien tauchten ungewohnt häufig auch besinnlich-kritische Reflexionen über unsere moderne Lebensweise auf. Bisher konnte sich die Weltpolitik nicht auf die Begrenzung der Erderwärmung einigen und jetzt mussten wir anerkennen, dass das kleine Virus uns eine Atempause verschafft hat, indem es den Energieverbrauch der Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe, Fabriken und Autos massiv abwürgte. Würde uns diese Erfahrung zu einem vernünftigen Umgang mit unserem globalen Lebensraum und seinen begrenzten Ressourcen verhelfen?

Die Krise deckte auch versteckte Missstände auf. Ein Nadelöhr bei der Bewältigung stellten in den meisten Ländern die Gesundheitssysteme dar, die sträflicher Weise sehr vernachlässigt worden waren. Denn die helfenden Berufe lagen im Schatten des lauten Getriebes von mehr Wachstum und Prosperität. Über Jahre war der Personalbestand an Ärzten, Pflegern und Amtsmedizinern heruntergefahren worden. Dies wurde nun zu einem Kernproblem der Krisenbewältigung. Auch die weltweite Verlagerung der Produktion von Standardmedikamenten und medizinischen Schutzbedarfsartikeln in Billiglohnländer fiel uns auf die Füße. Die Erkenntnis: Die gnadenlose Rationalisierungsphilosophie von Ökonomen kann zur todbringenden Falle werden. Die Reflexion machte uns bewusst, dass nahezu alle Infektionsausbrüche der letzten Jahrzehnte etwas mit unseren Lebensverhältnissen, Lebensstilen und modernen Produktionsweisen zu tun hatten.

Eine Atmosphäre von Besinnung, Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsgeist, ja sogar einer ungewohnten Demut durchwehte unsere Republik.

Eine Chance schien sich aufzutun, etwas zu ändern, was schon lange als düstere Zukunftsahnung im Hintergrund lauert und für das bislang die Kräfte fehlten – die große Aufgabe, Licht und Schatten des Fortschritts endlich miteinander in Einklang zu bringen.

April 2021 – Spaltung und Ermüdung

Eine allgemeine Erschöpfung nach einem Jahr Pandemie war überall spürbar. In der Gesellschaft taten sich tiefe Risse auf, sie reichten sogar bis in die Freundschaftsbeziehungen und Familien. Das traurige Ergebnis: Der Ton in den Medien war rau geworden. Gegenseitige Beschuldigungen beherrschten die Kommunikation. Die Ansichten versteiften sich in polaren Auffassungen. Manche Gräben waren kaum noch zu überbrücken. Während der langen Lockdowns hatten viele Menschen ihr gewohntes Leben verloren. Kinder spielten kaum noch, saßen vor den Bildschirmen und wurden übergewichtig. Kein Sport, kein Vereinsleben, keine Kultur, keine Abwechslung. Gelacht wurde selten, und wenn, dann sahen wir es kaum in den maskenverhüllten Gesichtern. Seit den Bildern von Bergamo blieb ein Gefühl von drohender Todesnähe zurück. Wie in einem Crashkurs eigneten sich die Menschen wissenschaftliches Know-how über Infektionsgeschehen an, ungezählte Meldungen über Fakten und noch mehr Meinungsbeiträge waren zu verdauen. Wir lernten viel, verstanden aber wenig. Über ein halbes Jahr Angst, Stillstand, Masken, Isolation – ein Leben ohne Freude. Die Stimmung glitt in stille Resignation. Nur die Impfung kann uns aus dem eingefrorenen Leben befreien, lautete die immer wiederkehrende Botschaft. Sie sollte uns unser altes Leben zurückgeben.

Bekommen wir es wirklich zurück?

Vielleicht werden wir eine vergleichbare Lebensqualität nur dann wiederbekommen, wenn wir an der Pandemie aufwachen, wenn wir Klarheit schaffen. Die Zeit zu glauben, andere würden uns schon ein warmes Nest bereiten, ist vorbei. Die Risse in unserem Gemeinwesen sind brandgefährlich. Die Verwirrung ist groß. Bewusstsein und Aktivität werden von uns gefordert. Lassen wir die Ereignisse noch einmal an uns vorüberziehen und analysieren wir. Lernen wir mit Kopf und Bauch zu verstehen, worum es geht.

Die Medizin früher:
Besonnene Eingriffe ins Naturgeschehen

Den Infektiologen früherer Zeit waren die unterschiedlichen Gefahren von Infektionsgeschehen vom Wesen des Erregers und von den Gesamtumständen her vertraut. Sie waren darin geschult, aus akribischer Anamnese und genauer Beobachtung eine Krankheitssituation und deren Gefährlichkeit oft schon treffsicher zu erfassen, bevor überhaupt serologische oder bakterielle Untersuchungen vorlagen.

 

Der Blick auf das Verhältnis von Erreger und Immunsystem hatte einen anderen Fokus als heute. Der Begriff der „Empfänglichkeit“ spielte eine viel größere Rolle, denn das menschliche Immunsystem galt als ein bestens funktionierendes und an Sinnhaftigkeit nicht zu übertreffendes Schutzsystem des Körpers. Wenn der Mensch dennoch für eine Krankheit empfänglich ist, dann hat es aus dieser Sicht Gründe. Entweder gilt es, wie in der Kindheit, den Erreger erst einmal kennenzulernen und die ersten Abwehrstoffe zu produzieren. Infektionserkrankungen können aber auch den vorteilhaften Effekt haben, vorhandene Antikörper zu „boostern“, also aufzufrischen. Ein anderer Grund für das Auftreten von Symptomen, oft auch mit schwererem Verlauf, kann der Verlust von Abwehrkräften bei körperlicher und seelischer Beeinträchtigung oder im höheren Alter sein. Erreger, die per se hochgefährlich waren, bilden die Ausnahmen. Vor ihnen hatte man sich zu wappnen mit allem, was zur Verfügung stand.

Die Auseinandersetzung des Immunsystems eines Individuums mit den Erregern der Außenwelt wurde als ein sinnhafter und notwendiger Prozess betrachtet, um lebenstüchtig zu werden. So, wie ein Training der Muskulatur, die durch Bewegung gestärkt wird. Wie bei der täglichen Muskelarbeit immer wieder auch Arbeitsunfälle geschehen oder beim Sport schlimme Verletzungen auftreten können, nahm man auch beim Immunisierungsprozess Gefährdungen als nicht absolut vermeidbar hin. Und so, wie wir Arbeitsschutzmaßnahmen ergreifen und Sportgeräte sicherer machen, ergriff man auch Schutz vor den Infektionsgefahren. Hygiene, Umsicht im Umgang mit den Schutzbarrieren des Körpers und Vermeidung von Überforderung der Regenerationskräfte waren die wichtigsten Maßnahmen. Die Impfungen galten als ergänzender Schutz für solche Erreger, die für den Infizierten tödliche oder schwere Gesundheitsfolgen mit sich brachten.

Meinem Abteilungschef gab seine Kompetenz das Recht, auch Meinungsunterschiede glaubhaft zu vertreten Er sah beispielsweise die Influenza-Impfung nicht als besonders hilfreich an. Zum einen, weil mit der frühen Generation der Impfstoffe noch mehrere Fälle von schweren Nebenwirkungen wie das lebensgefährliche Guillain-Barré-Syndrom auftraten, eine autoimmun ausgelöste Entzündung der Nerven und des Rückenmarks. Drei solcher Fälle behandelten wir auf unserer Abteilung. Zum anderen aber hielt er die Impfung im Abgleich zwischen Gefährdung und Nutzen für einen Großteil der Bevölkerung nicht für zielführend. Ihn störte, dass sie seiner Ansicht nach den natürlichen Immunisierungsprozess der Bevölkerung behindere. Die Sorge vor einer gefährlichen Pandemie ähnlich der Spanischen Grippe von 1918, die weltweit 50 Millionen Tote kostete, trieb ihn nicht um. Denn inzwischen hatten jährliche mehr oder weniger ausgeprägte Wellen von Influenza-Infektionen eine „stille Feiung“, also eine meist symptomlos verlaufende Immunisierung der Bevölkerung durch regelmäßigen Erregerkontakt bewirkt. Diese verleiht, so sein Argument, trotz der Mutationen der Influenzaviren, der Bevölkerung auf Dauer einen zumindest teilweisen Abwehrschutz, der schlimmere Ausbrüche verhindert. Heute, vierzig Jahre später, werden die Belege für den Vorteil der alljährlichen Grippeimpfungen immer noch kontrovers diskutiert. Das Erkrankungsrisiko in Ländern mit hoher Impfrate ist nicht größer als das mit niedriger. [1]

Inzwischen gibt es jedoch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die den allgemeinen Wert des natürlichen Kontakts von Erregern auf den dauerhaften Zustand des menschlichen Immunsystems herausstellen. Für bestimmte Patienten ist die Influenza-Impfung sicher ein Vorteil, zumal die Nebenwirkungen heute geringer sind. Da viele Patienten denken, die Grippeimpfung helfe statt nur bei der Influenza auch bei den banalen grippalen Infekten, hat die alljährliche Impfung für einige auch einen psychologischen Nutzen.

Das pharmakologische und technische Instrumentarium war zu Beginn meiner Ausbildung noch völlig bedarfsorientiert. Die Erfindungen richteten sich ganz überwiegend nach Anforderungen, die sich aus dem Hilfebedarf der Ärzte für die wesentlichen Krankheiten in der täglichen Praxis ergaben. Schaden zu vermeiden hatte eine hohe Priorität.

Die zunehmenden technologischen Möglichkeiten

und die allgemeine Kommerzialisierung unserer modernen Lebensweise führten über die letzten Jahrzehnte allerdings auch in der Medizin zu einer folgenreichen Wandlung.