Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

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Dörte Maack

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

Die Geschichte meines Erblindens und wie ich wieder Lebensfreude fand

Patmos Verlag

Inhalt

Prolog

Ungeküsste Frösche

Do wat du wullt, de Lüüd snackt doch

Trunkene Tage

Wir fallen nicht

Hornbrillen und andere Irrtümer

Die Party ist zu Ende

Medizin, Mythen und Magie

Versteckspiele

Blind Dates

Knallsüß und erfolgreich

Blinde Passagierin

Eine kleine Formalität

Blick zum Mond

Welken oder wachsen

Die mangelnde Fantasie der Sehenden

Fingerspitzengefühle

Liebe auf den letzten Blick

Lauf, lauf, lauf, Sprung!

Irgendwo wird immer getanzt

Licht und Schatten

Die schönsten Kinder der Welt

Was sollen die Leute sagen?

Spiele mit der Macht

I am with three blind people

Wir haben es geschafft

Zurück ins Rampenlicht

Wer soll es denn sonst machen?

Immer noch Konfetti im Haar

Phasen der Veränderung

Vorahnung

Schock

Verneinung und Widerstand

Einsicht: Wut, Angst und Trauer

Akzeptanz

Ausprobieren

Erkenntnis

Integration

Der Zauber im Zerbrochenen

Ich und die Beziehung zu den anderen

Ich und die Beziehung zu mir selbst

Ich und der Sinn in meinem Leben

Epilog

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für meine Mutter Marga

Prolog

Wir stehen in Hamburg am Bahnsteig, Martin, die Kinder, der Hund und ich. Zwei unfassbar große Koffer, zwei winzige Koffer – einer mit Nixen- und einer mit Batmanmotiv – und zwei kleine bunte Tagesrucksäcke stehen um uns herum. Die Lautsprecher knacken: »Auf Gleis 7 fährt jetzt ein: der ICE nach München über Hannover und Würzburg. Die Wagen der ersten Klasse befinden sich im Abschnitt A bis C, die Wagen der zweiten Klasse im Abschnitt D bis G.«

»Mist, geänderte Wagenreihung. Kommt mit!«, ruft Martin.

»Lila, voran, Tempo«, gebe ich leise meiner Blindenführhündin das Kommando.

Der Zug fährt ein und kommt zum Halten. Wir rennen am Bahnsteig entlang, Martin voran, alle anderen hinterher. Wir erreichen einen Einstieg. Hoffentlich den richtigen, denke ich. Martin hievt die Koffer und Rucksäcke in den Zug. Danach wagt zuerst Eileen, dann Emil den Schritt über den bedrohlichen Abgrund zwischen Zug und Bahnsteigkante. Konzentriert klettern die Kinder die Stufen hoch in den Zug hinein. »Lila, hopp«, rufe ich, und meine Hündin springt mit einem großen Satz in den Zug. Danach taste ich mit den Füßen nach den Stufen. Geschafft. Wir sind im Zug – aber noch nicht im richtigen Wagen. Schwer bepackt wühlen wir uns durch zum Wagen 9, Plätze 62 bis 65, den vier Plätzen mit Tisch im Großraumwagen. Schnell stecken wir unser kleines Revier ab. Wir wuchten die großen Koffer und Rucksäcke nach oben in die Gepäckablage, verstauen die kleinen Koffer und Rucksäcke, die Hündin und ihr Führhundgeschirr kommen unter den Tisch. Wir füllen den verbliebenen Platz mit Knabbergemüse, Trinkflaschen, Malbüchern, Buntstiften, Memory-Karten und dem Player mit den Kinderhörspielen.

»Papa, wo ist mein Schnitzmesser?«, »Schnuffel, hast du die Reisepässe der Kinder eingesteckt?«, »Mama, wann kriege ich endlich ein Eis?!«, plappern alle durcheinander, während Lila eine Sitzreihe weiter nach vorn robbt. Hier knistert es interessant und Menschen lassen leckere Kekskrümel zu Boden fallen.

Ich muss jetzt dringend pinkeln. Wo ist mein Blindenstock? Er ist tief verbuddelt zwischen Sandspielzeug, Hundefutter und Badeklamotten. Martin kann mich nicht hinführen. Das Risiko, die Kinder alleine zu lassen, wäre zu groß, denn dann würde die gesamte Fami­liendynamik, die wir gerade erfolgreich in den Zugfahrmodus gebracht hatten, gefährlich ins Wanken geraten. Ein Begleitservice für mich ist ausgeschlossen, aber auch nicht nötig, befinde ich. »Bleib du bei den Kindern, ich geh’ mal kurz zur Toilette«, werfe ich Martin zu, bevor ich mich auf den Weg mache. Was soll auf diesen fünf Metern schon schiefgehen?

Ich folge dem Gang des Großraumwagens an ein paar Sitzreihen vorbei. Der Gang ist so eng, dass ich trotz heftiger Schaukelei des Wagens nur unwesentlich aus der Bahn geworfen werde. Am Ende des Ganges öffnet sich eine Schiebetür mit einem leise surrenden Geräusch ganz automatisch. Ich gehe hindurch und folge weiter dem Teppichboden. Links ertaste ich die kühle Fensterfront. Jetzt verändert sich die Akustik und ich merke, dass die beiden Ausstiegstüren links und rechts von mir sind. Ich bin also auf dem richtigen Weg, gleich muss die Zugtoilette kommen. Liegt sie rechts oder links? Im Gang ist niemand, den ich fragen kann. Ich taste nach der rechten Wand. Kaum berühre ich diese Wand, öffnet sich mit einem schnarrenden Geräusch wieder eine Schiebetür. Das ist ja richtig klasse: Ich habe die Toilette schon gefunden und sie ist frei! Ich trete schnell durch die Tür und bin irritiert. Das kann nicht die Toilette sein. Toilettenräume im ICE sind eng und schmal. Verglichen damit stehe ich in einem großen Saal. Die Schiebetür hinter mir steht noch weit offen. Eine männliche Stimme von links unten sagt etwas, das klingt wie »Banster sie nicht schlonk Tür infekt … äh hmm versetzt, nein …!« Ich folgere blitzschnell: Dieser offensichtlich sehr kleine Mann mit der nuscheligen Aussprache steht vor der eigentlichen Toilettentür in einem Vorraum. Er wartet, weil die Kabine noch besetzt ist. Mit meinem charmantesten Lächeln wende ich mich dem fremden Mann zu und frage sehr freundlich: »Oh, warten Sie hier auch?« Im nächsten Satz würde ich ihm erklären, dass ich blind bin und man mir das nicht gleich ansieht, da ich keinen Blindenstock dabeihabe, was wiederum daran liegt, dass ich nur wenige Schritte von hier entfernt mit meiner Familie sitze. So plante ich den weiteren Verlauf unserer Unterhaltung, doch so weit kommen wir nicht. Der kleine Mann wurschtelt hektisch irgendwas und eilt wortlos mit schnellen Schritten aus der großen Türöffnung davon. Ich finde das ziemlich unhöflich. Vielleicht dauerte ihm das Warten zu lange oder er befürchtete, dass ich mich vordrängeln möchte? Ich warte noch einen weiteren Moment ab. Es tut sich nichts und in der Toilettenkabine ist auch nichts zu hören. Ich suche links nach dem Türgriff der Kabine. Was ich finde, überrascht mich: Dort, wo eben noch der kleine Mann zu mir sprach, ist keine Tür, dort ist die Toilettenschüssel. Schlagartig ist mir klar, dass der Mann nicht klein war. Er hat auf der Toilette gesessen. Ich bin in der geräumigen Rolli-Toilette. Hier ist der Absperrmechanismus für Nicht-Eingeweihte nicht ganz einfach zu bedienen und der Mann hat es offensichtlich nicht verstanden, die Tür abzusperren.

 

Da erreiche ich blindes Huhn nun mein Ziel mit so viel Leichtigkeit und bringe einen ahnungslosen Mitreisenden in eine echte Scheißsituation. Ich schließe lächelnd die immer noch weit geöffnete große Schiebetür und drücke auf den speziellen Schließknopf. Unsere Italienreise fängt richtig gut an, denke ich.

Zwanzig Jahre nach der Diagnose »unheilbare Augenerkrankung – Erblindung unausweichlich« kann ich von Herzen über meine Blindheit lachen. Ich bin angekommen in einem farbenfrohen Leben, das für mich lange absolut unerreichbar zu sein schien.

Ungeküsste Frösche

»Nie wieder Pinneberg«, hatte ich Ende der 80er-Jahre voller Übermut nachts an eine Häuserwand gesprüht. Ich hatte das Abitur in der Tasche und war so wahnsinnig froh, endlich aus der Kleinstadt rauszukommen. Nach einer Party war ich nicht ganz nüchtern, hatte eine Spraydose mit roter Farbe dabei und kam mir damit so cool wie eine Berliner Hausbesetzerin vor. Meine Sprühaktion brachte es sogar ins Pinneberger Tageblatt. Nicht, weil in Pinneberg zuvor noch nie jemand eine Wand besprüht hätte, sondern weil am nächsten Tag Kommunalwahl in Schleswig-Holstein war. Die Bürgermeisterwahlen interessierten mich gar nicht, aber die von mir ganz zufällig ausgewählte graue Betonwand war, so stand es im Lokalblatt, eine Mauer des Pinneberger Rathauses. Das war eine Verwechslung des Redakteurs, denn wie fast alle Bauten in Pinneberg war dieses Rathaus ein unscheinbarer Zweckbau der 60er-Jahre und kaum von anderen Gebäuden in der Innenstadt zu unterscheiden. Im Tageblatt hielt man meine persön­liche spätpubertäre Befreiungsaktion für eine gezielte politische Tat einer noch unbekannten Pinneberger Untergrundgruppe. »Irgendwann musste hier doch mal etwas Interessantes passieren«, hatte der Redakteur vermutlich gehofft.

Die harmlose Kreisstadt Pinneberg in Schleswig-Holstein war immer schon das liebste Spottobjekt der benachbarten Hamburger, obwohl keiner so richtig weiß, wie genau es dazu kam. Vielleicht liegt es am Autokennzeichen. Das PI auf dem Nummernschild steht aus Sicht der Großstädter für »Provinzidiot« oder vielleicht auch für »pennt immer«. Pinneberg gilt in Hamburg als Inbegriff der Langeweile und Hässlichkeit. Als Pinneberger muss man irgendwie mit diesem Stigma klarkommen. Man belügt sich selbst ein bisschen und tut so, als gehöre man zu den Weltstadtbewohnern. »In nur zwanzig Minuten bist du mit der S-Bahn mitten in der City«, war damals wie heute der Lieblingssatz eines Pinnebergers. Mit »City« ist dann natürlich nicht die kleine Pinneberger Fußgängerzone gemeint. Zur weiteren Stärkung des geschundenen Selbstbewusstseins sucht man sich als Pinneberger seinerseits gern Spottopfer. Früher fand man sie in den umliegenden Dörfern. Die Pinneberger definierten deren bäuerliche Bevölkerung als die eigentlichen Provinzidioten, die Prisdorfer zum Beispiel. Prisdorf ist das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und das bis zum Abitur meine Heimat war.

Ich lebte in einem großen schmucken Bauernhaus mit einem riesigen Heuboden, mit Kuhstall, Schweinestall, Hühnerstall. Ein gutmütiger Collie, viele Katzen in allen Farben, ein großer Gemüsegarten und zwei Streuobstwiesen mit Bäumen zum Draufklettern, ein kleiner Fluss hinter dem Haus und saftige grüne Wiesen voller pastellfarbenem Wiesenschaumkraut und tiefgelben Sumpfdotterblumen. Das war in rosiger Rekonstruktion meiner Kindheitserinnerungen das norddeutsche Bullerbü. Ich war Lisa mit blonden geflochtenen Zöpfen. Wie sie hatte auch ich zwei Brüder. Nur waren sie viel älter als Lasse und Bosse bei Astrid Lindgren und mussten deshalb schon sehr viel auf dem Hof mitarbeiten. Aber ich war nicht nur die wohlbehütete, brave Lisa, ich war auch die eigensinnige, wilde Pippi, die viel allein spielte: In der Wildnis pflückte ich bunte Blumensträuße, baute ein Floß, saß in den Bäumen, kuschelte die Katzenbabys oder übte Saltos im Heu. Gegenüber wohnte Tommy, der im richtigen Leben Bernd hieß. Er war so alt wie ich, hatte blonde strubbelige Haare und Sommersprossen. Beide waren wir nicht im Kindergarten und verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Gemeinsam badeten wir als Nackedeis in der Kuhtränke auf der Hausweide, heirateten heimlich im Kuhstall mit zwei der roten Plastikringe, die die Hühner am Bein trugen. Manchmal haben Bernd und ich uns geprügelt. Ich war stärker und konnte kratzen wie eine Katze. Das tat weh und Bernd lief dann weinend nach Hause zu seiner Mutter. Wir haben unsere Wunden geleckt, schnell alles vergessen und uns noch am selben Tag wieder vertragen.

Die beste Zeit war der Sommer. Dann war unser großer Gemüsegarten ein üppiges Paradies. Alles, was reif war, erntete ich und stopfte die farbenfrohe Beute direkt in meinen Mund: Himbeeren, Stachelbeeren, Erbsen, junge Karotten und Radieschen und natürlich die Erdbeeren. Manchmal musste ich beim Strohfahren, beim Kühehüten, Kälbertränken oder bei der Milchkontrolle ein bisschen mithelfen.

Meine beiden Brüder waren vierzehn und sechszehn Jahre älter. Mit mir hatte keiner mehr gerechnet. Ich war nicht geplant und für mich gab es keine Pläne. Später würde der ältere meiner Brüder sagen: »Wir wurden noch erzogen, aber Dörte wurde verzogen«, und würde damit meinen, dass ich sehr viel Freiheit und kaum Grenzen erfahren habe. Ich würde später sagen: »Ich habe mich selbst erzogen«, und würde damit meinen, dass die Erwachsenen zu beschäftigt waren, um sich um mich zu kümmern.

In unserem Haus waren die beiden Weltkriege noch nicht lange her. Einige Fenster in den alten Holztüren hatten einen Sprung. Das war passiert, als die benachbarte Bahnstrecke bombardiert wurde. In den großen dunklen Eichenschränken und Truhen, in denen ich an langen Wintertagen so gern wühlte, fanden sich Uniformen, Säbel und Orden. Auch im Kopf meines Vaters und besonders im Kopf meiner Großmutter schien der Krieg noch ganz nah zu sein.

Als meine Mutter mit mir schwanger war, hoffte sie auf ein Mädchen. Meine Großmutter glaubte nicht daran und sagte: »Mädchen wachsen auf diesem Hof wohl nicht.«

Sie war schon mit Anfang zwanzig Mutter von drei Söhnen und Witwe. Ihr Mann kam aus dem ersten Weltkrieg nicht zurück. Auf dem Rückweg von der Krim bekam er die Spanische Grippe. »Ernst, wir kommen doch jetzt nach Haus«, hatte ein Kamerad ihn ermutigen wollen und er antwortete: »Ihr kommt alle nach Haus, aber ich nicht mehr.«

Er wurde in Griechenland bei Saloniki begraben und musste seine junge Frau mit den Kindern und dem großen neuen Hof allein lassen.

Die drei Söhne mussten in der Landwirtschaft früh sehr hart arbeiten. Obwohl er fast noch ein Kind war, musste auch der jüngste Sohn, der später mein Vater werden sollte, den schweren Ackergaul oft allein anschirren. Einmal schlug der bockige Gaul heftig aus und traf meinen Vater in den Bauch. Aus Angst vor den Kosten wurde kein Arzt gerufen. Ein Nachbar brachte den schwer verletzten Jungen schließlich im letzten Moment noch ins Krankenhaus. Es war allerhöchste Zeit: Er wäre fast innerlich verblutet. In einer langen Notoperation wurde ihm die Milz entfernt und sein Bauch wieder zusammengeflickt.

Der zweite Weltkrieg nahm meiner Großmutter dann zwei ihrer Söhne. Ihr ältester Sohn, der den Hof hätte übernehmen sollen, kam aus Russland nicht zurück. Ihr mittlerer Sohn, der als einer der ersten aus dem Dorf in Hamburg Abitur gemacht hatte, war ein Offizier der Luftwaffe. Er wurde mit seiner Propellermaschine abgeschossen. Nur mein Vater musste wegen der Folgen seiner Operation nicht in den Krieg ziehen. Er war der Einzige, der meiner Großmutter blieb. Sie sagte später bei schlimmen Ereignissen immer: »Wer weiß, wozu das noch gut ist.«

Meine Brüder bekamen die Namen ihrer gefallenen Onkel, deren gerahmte Fotos in Schwarz-Weiß über dem Sofa meiner Großmutter hingen. Ich bekam nicht so einen gebrauchten altmodischen Namen wie meine Geschwister. Meine Brüder wählten »Dörte« für mich aus. Sie fanden den Namen damals total schick und modern. Sie konnten nicht wissen, dass keine Mädchen außerhalb von Norddeutschland und auch dort keine, die nach 1970 geboren wurden, so heißen würden.

In der Grundschule lernte ich Mädchen kennen und spielte immer weniger mit Bernd. Meine neuen Freundinnen waren die Töchter der Zugezogenen. Sie lebten mit ihren Familien in Einfamilienhäusern in den Neubaugebieten. Sie hatten Zentralheizung, große Fenster ohne Gardinen und Möbel aus hellem Holz. In ihren Wohnzimmern standen offene Bücherwände und Stereoanlagen. Viele hatten Partykeller mit Tresen und Barhockern und im Garten hatten manche sogar einen Swimmingpool. Meine Freundinnen hatten Väter, die morgens im Anzug zur Arbeit fuhren und abends wiederkamen. Sie hatten Mütter mit Kurzhaarfrisuren, die mit dem Auto zum Supermarkt fuhren, Tennis spielten und in modernen Einbauküchen lange Spaghetti kochten oder Artischocken zubereiteten.

In den Ferien fuhren meine Freundinnen mit ihren Eltern mit dem Wohnwagen nach Frankreich, mit der Segelyacht nach Schweden oder flogen mit dem Flugzeug nach Spanien. Als mir mein Bullerbü langsam zu klein erschien, fing ich an, die anderen um ihre Ferienabenteuer in den fernen Ländern zu beneiden. Dass die anderen mich wegen des Heubodens, der Kletterbäume und der Katzenbabys beneideten, war mir nur ein schwacher Trost.

Immer öfter sagte ich zu Hause Sätze, die mit »Die anderen haben auch alle …« anfingen, und meine Mutter antwortete mir dann immer in ihrer einfühlsamen, warmherzigen Art: »Das mag sein, aber wir sind nicht die anderen.«

Sie hatte verdammt recht. »Leider«, fand ich. Trotzdem hatte ich mit den Kindern der anderen eine sehr gute Zeit. Annette, Anke, Steffi, Berrit, Kirstin und ich liefen Nachmittage lang Schlittschuh, bauten Verstecke im Wald und verkleideten uns oft. Wir turnten, tanzten, spielten Handball und Tennis im TSV Prisdorf. Am besten war es mit Annette. In einer Osternacht standen wir um Mitternacht auf, gingen stumm zu einer Quelle, um uns dort zu waschen. Das würde ewige Schönheit bringen, hatten wir irgendwo über diesen aufwendigen Osterbrauch gelesen. Wir fanden nur den Graben neben den Bahngleisen, wuschen uns trotzdem und waren sicher, dass wir nun immer schön sein würden. In den Wiesen der Pinnau-Niederung suchten wir nach Fröschen, um sie zu küssen. Keiner verwandelte sich in einen Prinzen. Das machte aber nichts, denn es gab ja noch unzählige ungeküsste Frösche und sicher würden wir irgendwann den richtigen Frosch finden.

Unsere Lehrerin in der Dorfschule war Frau Allègue. Sie war eine kluge, sehr strenge Frau und ich habe sie sehr gemocht. Obwohl mir die Vorbereitung durch den Kindergarten fehlte, war Schule für mich von Anfang an leicht. Ich war im Unterricht ein stilles Kind, erledigte aber alle schriftlichen Arbeiten meist fehlerfrei. Meine Lehrerin leitete auch die kleine Dorfbücherei. Am Ende der vierten Klasse hatte ich dort jedes Kinderbuch mindestens einmal durchgelesen.

Frau Allègue bestand schließlich darauf, dass ich auf das Gymnasium gehen sollte. Mein Vater war überhaupt nicht begeistert, fand das generell und besonders für Mädchen überflüssig. Zum Glück konnte sich meine Lehrerin mit ihrer Autorität bei ihm durchsetzen.

Frau Allègue hatte einen klaren Blick für die Möglichkeiten, die in den ihr anvertrauten Kindern steckten. In mein Poesiealbum schrieb sie ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe, das mir bis heute viel bedeutet: »Ursprünglich eignen Sinn lass dir nicht rauben! Woran die Menge glaubt, ist leicht zu glauben.«

In meiner Straße wohnte in einer Doppelhaushälfte Katja. Bei ihr zu Hause war alles ganz besonders doll anders als bei mir. In ihrem Wohnzimmer hing eine Grafik, die Wolf Biermann mit einer unbekleideten Frau mit drei Brüsten zeigte. Das kannte ich so nicht. In unserem Wohnzimmer, das wir »Gute Stube« nannten, hingen norddeutsche Landschaften im Eichenrahmen. Katjas Mutter war Lehrerin und eine sehr eindrucksvolle Person. Im Sommer sonnte sie ihre üppige Fülle splitternackt auf der Terrasse. Sie leitete eine Theatergruppe in unserem Sportverein. Das war neu. Mit uns Kindern spielte Katjas Mutter die Stücke des Grips-Theaters, einem emanzipatorischen Kindertheater aus Berlin. Wir sollten uns mit kreativen Schimpfworten wie »Du vollgeschissener Turnschuh!« anbrüllen und Lieder mit Mutmachparolen singen:

 

»Trau dich, trau dich. Andern geht’s genauso schlecht –

Trau dich, trau dich. Kämpft um euer Recht!«

Ich war nicht gut darin. In Gegenwart vieler Menschen war ich ein sehr stilles Mädchen und verstand außerdem nicht, um welches Recht wir da eigentlich kämpften.

Katja lud mich immer zu ihrem Geburtstag ein. Als sie zwölf wurde, war sie in der 6. Klasse. Ich war elf und gerade in die 5. Klasse gekommen. Wir waren beide auf demselben Gymnasium in der Stadt, in Pinneberg.

Katja hatte auch Jungs aus ihrer Klasse eingeladen. Einer hieß Percey. »Percey – so heißen die Jungs im Dorf nicht. So heißt man nur in der Stadt«, analysierte ich.

Ich fand Percey toll und wollte, dass er mich auch toll findet. Zuerst versuchte ich ihn mit Hula-Hoop zu beeindrucken. Ich konnte das so lang wie keine: Zehn Minuten am Stück kreiste der rote Plastikreifen um meine Hüften! Später spielten Percey und ich mit ein paar anderen Geburtstagsgästen Wortfix. Man musste eine Karte ziehen, auf der zum Beispiel »Ein Fluss mit …« stand. Dann musste man eine Scheibe drehen. Wenn sie zur Ruhe kam, zeigte sie einen Buchstaben. »Ein Fluss mit K«. »Krückau«, rief ich sofort, und nachdem Katjas Mutter bestätigte, dass dies tatsächlich ein winziger Nebenfluss der Elbe in der Marsch war, durfte ich die Karte behalten. Weil ich so viel wusste, hatte ich am Ende den höchsten Kartenstapel von allen vor mir liegen. Ich war total gut in diesem Spiel und Percey würde mich toll finden – das war gewiss.

Percey schaute mich an und sagte: »Ich glaube, du bist eine Hexe.«

»Warum?«, fragte ich.

»Weil du so schlau bist … und so hässlich.«