Buch lesen: «Raus aus der Mutterfalle», Seite 3

Schriftart:

Die Freundin-Mutter

Mit dem Heranwachsen der Tochter zur jungen Frau verändert sich die Mutter-Tochter-Beziehung. Dabei strebt die Mutter nicht selten an, „beste Freundin" ihrer Tochter zu werden, indem sie mit ihr Reisen unternimmt, tanzen geht, das gleiche Outfit (Frisur, Kleidung) wählt, mit ihr Discos oder „Events" von Jugendlichen besucht, die Sprache der Jugendlichen übernimmt usw. Oft unterscheiden sich Mutter und Tochter kaum. Mit großer Selbstverständlichkeit tragen Mütter, die sich als Freundinnen ihrer Töchter verstehen, Kleidung, zu der man früher gesagt hätte, sie sei dem Alter nicht angemessen: bauchfreie Oberteile, Glitzer-Jeans und Miniröcke oder Leggings in knalligen Farben und ausgefallenen Mustern. Beim Betreten der Geschäfte und Boutiquen, die Mode für Jugendliche anbieten, ist zu beobachten, dass dort auch deren Mütter einkaufen.

Der Jugendlichkeitswahn solcher Mütter kann für diese auch zu sehr negativen Folgen führen: Der Trend zur jugendlichen Mädchenfigur treibt gestandene Frauen zunehmend zu Essstörungen, zum unkontrollierten Hungern oder zu Bulimie, sie hungern ihren Töchtern quasi hinterher. Trotz all ihrer intensiven Bemühungen, der Tochter zu gleichen, können Mütter nicht wirklich „beste Freundin" ihrer Töchter sein, weil Freundschaften auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Mütter aber kann man sich nicht aussuchen und Töchter auch nicht. Freundschaften sucht man sich auf der Basis von Ähnlichkeiten und gemeinsamen Interessen. Freundschaften kann man kündigen, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist dagegen unkündbar.

Ein weiterer Grund dafür, dass eine Mutter nicht wirklich Freundin ihrer Tochter sein kann, ist die bestehende Intimitätsschranke.

Lisa, 18:

Ich habe ein freundschaftliches Verhältnis zu meiner Mutter und verstehe mich gut mit ihr, aber auf einer ganz anderen Ebene, als es bei meiner besten Freundin oder allgemein Freunden der Fall ist. Meine Mutter ist und bleibt meine Mutter, nicht meine Freundin. Ich hätte ehrlich gesagt nicht die geringste Lust, mit ihr über Sex oder sonstige sehr intime Dinge zu sprechen. Ganz im Gegenteil, das wäre mir wirklich unangenehm. Ehrlich gesagt möchte ich später als Mutter auch keine Einzelheiten über das Sexleben meiner Tochter erfahren."

Fanny, 21:

„Ich liebe meine Mutter über alles, kann mit ihr über fast alles sprechen, gehe gern mit ihr shoppen und tratsche auch mal mit ihr. Aber es gibt eben auch Dinge, die sie als meine Mutter nichts angehen und die ich wirklich nur mit meiner besten Freundin besprechen würde."

Wie beide Beispiele zeigen, können Kinder durchaus zwischen freundschaftlicher Beziehung und bester Freundin unterscheiden. Manchen Müttern gelingt das offenbar nicht, vor allen denen, die Probleme mit ihrem Alter haben. Sie geben sich der Illusion hin, durch gleiches Outfit den Altersunterschied kaschieren zu können, indem sie mit ihrer Tochter die „Klamotten" tauschen, die gleichen fetzigen Frisuren tragen wie auch Piercing und Tattoos. Größte Triumphe empfinden sie, wenn ihnen Komplimente gemacht werden wie „Ihr seht euch zum Verwechseln ähnlich" oder „Ich dachte, du wärst die ältere Schwester". Das kann für Töchter cool, aber auch extrem anstrengend oder sogar verunsichernd sein.

Die Chaos-Mutter

Ende der 60er Jahre revoltierten weltweit junge Erwachsene gegen die als verkrustet empfundenen Gesellschaftsstrukturen und gegen die „schwarze Pädagogik" ihrer Kriegseltern. Mehr als anderswo beschäftigten sich die 68er in der Bundesrepublik auch mit Erziehungsfragen. Für sie war klar: Der Nationalsozialismus hatte seine Wurzeln auch in einer Erziehung, die auf Unterordnung und unbedingtem Gehorsam fußte.

Nach Ansicht damaliger Aktivisten sollten die nachfolgenden Generationen endlich herrschaftsfrei, also antiautoritär erzogen werden. Danach waren strenge Regeln tabu - Kinder sollten ihre Grenzen selbst austesten. Zu Hause herrschte kreative Unordnung. Wildes Toben, Klettern, sich schmutzig machen - alles war erlaubt. Die antiautoritären Eltern ließen sich gern von den Kindern mit dem Vornamen anreden, um vermeintlich gleiche Augenhöhe herzustellen.

Wie sich antiautoritäre Erziehung auswirken kann, erkennt man an dem folgenden Beispiel:

Eine alte Dame steht im Supermarkt an der Kasse, hinter ihr eine Mutter mit einem Kind. Gelangweilt schiebt das Kind den Einkaufswagen hin und her und rammt ihn der alten Dame ständig in die Hacken. Die dreht sich um und bittet die Mutter, dem Kind zu sagen, dass es das unterlassen solle. Darauf die Mutter: „Ich erziehe mein Kind antiautoritär!" Hinter der Mutter steht ein junger Mann an der Kasse. Er öffnet ein Glas Honig aus seinem Einkaufswagen und kippt dem Kind den Honig über den Kopf. Die Mutter reagiert entsetzt: „Sind Sie wahnsinnig? Was machen Sie mit meinem Kind?" Der junge Mann antwortet cool: „Ich bin auch antiautoritär erzogen."

Zugegeben, die Szene, die die Folgen antiautoritärer Erziehung zeigt, fällt etwas drastisch aus. Doch sie zeigt zugespitzt die Ambivalenz dieser Erziehungsmethode.

Einerseits sollten Mütter ihren Kindern genügend Freiheit lassen, um sich entfalten zu können, andererseits müssen sie ihnen Grenzen setzen.

Kinder, die tun durften, was sie wollten, fällt es später oft sehr schwer, zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Außerdem kommt es in der Schule und im Beruf nicht selten zu Anpassungs- und in Folge zu Leistungsproblemen. Es fehlt ihnen oft an Konzentration, Ausdauer und Disziplin.

Die Helikopter-Mutter

Mütter, die quasi wie Hubschrauber über ihren Kindern kreisen, um sie vor Stress, Frust, Ungerechtigkeiten und Zumutungen des Lebens zu bewahren, nenne ich nach Josef Kraus7 „Helikopter-Mütter".

Helikopter-Mütter wollen nur das Beste für ihre Kinder. Diese Kategorie Mütter übertreibt es nicht nur mit der optimalen Frühförderung und Ausbildung ihrer Kinder, indem sie deren Hausaufgaben minutiös überwachen, sie organisieren sogar Nachhilfe, um das Gute noch zu verbessern. Ihr Optimierungswahn treibt sie dazu an, die Leistung ihrer Kinder zu steigern, und damit deren vermeintliche Zukunftschancen.

Diese Mütter sind allgegenwärtig, werden regelmäßig bei den Lehrern vorstellig und versuchen, Einfluss auf die Notenvergabe zu nehmen. Wenn die Kinder Klavier üben sollen, ist die Mutter präsent. Selbst der Reitunterricht wird unter den kritischen Augen der Mutter absolviert. Wenn die Tochter Ballett tanzt, überwacht die Mutter die Tochter bei ihren täglichen Positionsübungen an der extra für sie im Haus installierten Übungsstange, ermahnt sie immer wieder wegen ihrer Körperhaltung und achtet bei jeglicher Nahrungsaufnahme auf die Kalorien.

Motivation für solche Mütter ist der Gedanke: „Egal, was meine Kinder machen, ich werde sie dabei unterstützen, die Besten zu werden!" Die Kinder werden dann zum „Projekt" solcher Mütter und damit verantwortlich für deren Erfolgserlebnisse und Erwartungen.

Was sind die Folgen dieser Haltung? Die Überfürsorglichkeit, das Überengagement und die ständige Präsenz von Helikopter-Müttern können sich auf die Entwicklung ihrer Kinder kontraproduktiv auswirken. So geprägte Kinder können sich zu unselbstständigen, unsicheren und passiven Menschen entwickeln, weil sie ja immer geführt wurden und vorgegeben bekamen, was sie wie zu tun hatten. Raum für Experimentelles blieb ihnen nicht und damit wurde auch ihre Kreativität unterdrückt. Solche Mütter nehmen ihren Kindern nicht nur die Chance, sich auszuprobieren und eigene Erfahrungen zu machen, sondern kreisen, wie der Name sagt, wie ein Hubschrauber ständig über ihrem Kind, um seine Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen und seine Entwicklung zu überwachen.

Fördern, fördern, fördern lautet ihr Credo. Alphakinder und glückliche, erfüllte Sieger sollen ihre Kinder werden. Was von Helikopter-Müttern gut gemeint sein mag, betrachten Psychologen und Wissenschaftler mit großer Sorge, denn mit ihrer Überfürsorge gefährden sie die Entwicklung ihrer Kinder.8 Helikopter-Mütter übertreiben und projizieren m. E. ihre eigenen Versagensängste auf ihre Kinder.

Von außen betrachtet wirkt das Familienleben von Helikopter-Eltern perfekt. Die Eltern besuchen jede Schulaufführung und jedes Fußballspiel ihrer Kinder, kennen alle Freunde ihrer Kinder und die Berufe der anderen Eltern und wenn die Schulleistungen abfallen, organisieren sie Nachhilfe.

Nach Kraus seien Helikopter-Eltern aber auch immer öfter militant als „Kampf-Hubschrauber" unterwegs, indem sie die „ungerechte Beurteilung" der Leistungen ihrer Kinder durch deren Lehrer ahndeten, regelmäßig mit dem Anwalt drohten und Schulen mit Klagen überzögen, weil eine Überidentifikation stattfinde und die Eltern sich durch schlechte Leistungen selbst ungerecht behandelt fühlten.

Zu erkennen seien Helikopter-Eltern daran, dass diese ihr Kind völlig verplanten und deren Leben takteten wie das eines Managers. Seiner Beobachtung zufolge schone man auf der einen Seite Kinder im Übermaß, während man sie auf der anderen Seite durch Förderprogramme dressiere und auch überfordere. Er warnte, dass damit immer mehr Kinder in der „Gluckenfalle" landeten. Die Folgen seien fatal: eine zunehmende Unselbstständigkeit und eine Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen. Der Autor beklagt, dass die Kinder keine Zeit mehr hätten, zu spielen und auf Entdeckungsreise zu gehen, und ist davon überzeugt, dass ein normales, anregendes Elternhaus für eine gesunde Entwicklung von Kindern völlig ausreiche. Von der Vielzahl an Förderkursen und Lernprogrammen für die Kleinsten profitierten nur die Anbieter.

Dass Kinder als „Projekt" gesehen werden, zeigt sich auch darin, dass die Universität Münster seit 2004 akademische Wochenenden für die Eltern der Studierenden mit dem ironischen Titel Elternalarm9 anbietet, womit sie Helikopter-Eltern auch 2014 noch für erwachsene Kinder eine Kontroll- und Überwachungsmöglichkeit gibt.

Die Tiger-Mutter

Eine besonders extreme Ausprägung der Helikopter-Mutter ist die sog. „Tigermutter". Sie ist das krasse Gegenteil zur Chaos-Mutter. Mit Drill, Strenge und absoluter Kontrolle, Strafen und eiserner Disziplin will sie ihre Kinder zum Erfolg führen.

Hierzulande ist dieser Mutter-Typus vor allem durch den Bestseller „Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte" („Battle Hymn Of The Tiger Mother") von Amy Chua10 bekannt geworden und durch die Autobiografie von Midori.11

Tigermütter sind ehrgeizige Mütter, die ihre Kinder drangsalieren und unter Leistungsdruck setzen, um aus ihrem Kind ein Wunderkind zu machen, das bereits als Kind perfekt Klavier spielt, Ballett tanzt oder andere sportliche Höchstleistungen vollbringt und zur Projektion ihrer eigenen Lebensträume missbraucht wird.

Obwohl in Deutschland, im Gegensatz zu asiatischen Ländern, Kinder nicht die „Lebensversicherung" ihrer Eltern sind, gibt es auch bei uns immer mehr Tiger-Mütter, die die Weichen für ein erfolgreiches Leben ihrer Kinder stellen. Sie begründen ihre Strenge damit, dass sie ihr Kind damit fordern und fördern. Es soll am Ende zur „Elite" gehören.

Die eingeschüchterte Mutter

Eingeschüchterte Mütter wurden meist sehr autoritär erzogen und hatten sich dem Willen ihrer Eltern zu unterwerfen. Die „schwarze Pädagogik" der 50er und 60er Jahre war der Nährboden für Einschüchterung. Die Erziehung und Prägung basierte auf Kontrolle, Angst und Gewalt, was dazu führte, dass kein Selbstbewusstsein aufgebaut werden konnte. Aus Angst, bei den Eltern in „Ungnade" zu fallen, „funktionierten" solche Kinder.

Sigrid, 67:

„Ich bin ein Nachkriegskind, das aber Kriegseltern hatte, die sicherlich durch den Krieg seelisch deformiert waren und fast täglich Gewalt als Erziehungsmittel einsetzten. Ihre Ansagen waren Befehle. Besonders mein Vater konnte seinen Kasernenhofdrill nicht ablegen und glaubte, sich dadurch Respekt und Autorität sichern zu müssen. Wer nicht ‚funktionierte‘, riskierte, eine Tracht Prügel mit der ‚siebenschwänzigen Katze‘ zu bekommen, und so gehorchten wir Kinder aus Angst, denn wir waren ja unseren Eltern ausgeliefert. So geprägt, geriet ich an einen gewalttätigen Ehemann und glaubte auch noch, seine Gewalttätigkeiten verdient zu haben und selbst schuld zu sein."

Was Sigrid erlebt hat und beschreibt, ist klassisch: Unbewusst suchen sich Kinder ihre Partner nach dem Muster aus, auf das sie geprägt wurden, selbst dann, wenn sie darunter gelitten haben.

Dass es in Partnerschaften und Ehen Krisen und Streit gibt, ist normal, solange es fair bleibt. Es kann sogar wichtig sein, dass Kinder erleben: Mama und Papa streiten miteinander und vertragen sich wieder. Doch in manchen Familien wird aus Streit seelische oder körperliche Gewalt. Das kommt in allen sozialen Schichten vor, unabhängig vom Einkommen der Eltern, ihrem Beruf oder ihrer Religion.

Oft kommt es dann zu übergriffen, wenn sich im Leben etwas ändert und die junge Familie plötzlich vor großen Problemen steht, z. B. nach der Geburt eines Kindes, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Trennungen. In den allermeisten Fällen sind es Frauen, die von Gewalt bedroht sind, und immer leiden auch die Kinder.

Und warum lassen sich Frauen Gewalt in verschiedenster Form gefallen? Das hat oft - wie das vorausgegangene Beispiel zeigt - mit deren Biografie zu tun. Wenn z. B. bereits die eigene Mutter vom dominanten Ehemann/Vater eingeschüchtert wurde, kann dieses von Kindern erlebte Muster unbewusst in der nächsten Generation erneut wirksam werden, wie folgendes Beispiel zeigt.

Ingeborg, 65:

„Als ich meinen Mann kennenlernte, bewunderte ich seine energische, durchsetzungsfähige Art, die ich schon von meinem Vater kannte. Meine Mutter wagte es nicht, ihm zu widersprechen, und ordnete sich stets unter. Schon kurze Zeit, nachdem mein Mann und ich verheiratet waren, begann er damit, mich nicht nur zu bevormunden und zu demütigen, sondern zu unterdrücken, zu attackieren und zu drangsalieren, und ich ließ es zu - wie ich es von meiner Mutter gelernt hatte. Ich mutierte zu einem verschüchterten kleinen Mäuschen. Erst nachdem ich und unsere Kinder krank geworden waren und sie Verhaltensauffälligkeiten, schulische Probleme, Entwicklungsverzögerungen und Angstzustände entwickelten, gelang es mir, mich und meine Kinder aus dieser Tyrannei zu befreien."

Was Ingeborg erlebt hat, ist häusliche Gewalt, die viele Gesichter und Ausprägungen hat, immer aber bei den Opfern tiefgreifende Spuren zurücklässt. Zumeist betroffen sind Frauen, wobei das nicht ohne Auswirkungen für die Kinder bleibt. Es handelt sich um ganz normale Frauen jeden Alters, jeden Bildungsstands, jeden Aussehens.

Gewalt ist das, was das Opfer als solche empfindet, was verletzt, demütigt und erniedrigt. Im Gegensatz zu Streit, Konflikt oder Auseinandersetzung treffen bei Gewalt zwei ungleiche Machtpositionen aufeinander, bei der sich die eine immer durchsetzt. Dem Gewalttäter geht es um Alleinherrschaft.

Gewalttätigkeiten fangen häufig mit Demütigen, Bloßstellen und Diskriminieren an: „Meine Frau hat davon sowieso keine Ahnung!”, „Du kannst nichts!”, „Wie du schon aussiehst!” Mit vielfältigen Mitteln versuchen diese Männer, ihre Frauen psychisch zu destabilisieren und zu isolieren: Sie ziehen über Freundinnen oder Arbeitskolleginnen her oder benehmen sich ihnen gegenüber besonders schlecht. Sie überwachen jeden Schritt ihrer Frauen, sind eifersüchtig, entwickeln Kontrollverhalten, indem sie genausten Bericht verlangen, über alles, was diese machen.

Eine so eingeschüchterte Frau kann sich dann auch nicht mehr zur Wehr setzen, wenn ihr Mann auch körperlich übergriffig wird und sie zum ersten Mal schlägt oder vergewaltigt. Danach gibt es immer Erklärungen: Eifersucht, Alkohol, schlechter Tag, ärger am Arbeitsplatz, schwere Kindheit, Überforderung oder Vorwürfe: „Du hast mich provoziert”, „Die Kinder waren zu laut”, vielleicht sogar Versprechen: „Das kommt nie wieder vor!”

Viele Frauen fangen irgendwann an, selbst das Verhalten des Täters zu entschuldigen. Immer wieder bauen sie die Hoffnung auf, dass es dieses Mal das letzte Mal war, dass von jetzt an alles anders werden würde. Es bleibt aber gleichzeitig die Angst, dass es wieder passiert. Und fast durchweg wird der Partner erneut gewalttätig. Denn: ob er schlägt oder nicht, hängt nicht vom Verhalten der Frauen oder Kinder ab, sondern von seiner Entscheidung dazu.

Der Leidensdruck einer so malträtierten, eingeschüchterten Frau (Mutter) muss schon extrem sein, bis sie die Reißleine zieht und sich und die Kinder vor weiteren übergriffen schützt.

Linda, 43:

„Ich bin eine zutiefst verunsicherte, eingeschüchterte Mutter, die über Jahre massiver Gewalt ausgesetzt war, zuerst in meiner Herkunftsfamilie, später in meiner Ehe. Immer hoffte ich darauf, dass mein Mann irgendwann mit seinen Schikanen aufhören und nur noch seine ‚guten Seiten‘ zeigen würde. Ich fühlte mich für alles verantwortlich und schämte mich, versagt zu haben. Vieles habe ich auch ertragen, um Schlimmeres zu verhindern. Ich befand mich in einem Geflecht von Ängsten und Abhängigkeiten und hatte immer Angst vor der Unberechenbarkeit meines Mannes, der oft damit drohte, den Kindern oder sich selbst das Leben zu nehmen.

Erst nach einer psychosomatischen Kur mit entsprechender seelischer Aufrüstung gelang mir der Absprung, den mein Mann allerdings nicht verkraftet hat. Er, der glaubte, alles, vor allem mich, so fest im Griff und unter Kontrolle zu haben, musste erleben, dass ich ihn verließ. Sein Selbstbild geriet ins Wanken.

Meine Erfahrung ist, dass es zwar sehr schwer ist, sich als eingeschüchterte, verunsicherte Frau aus solchen Beziehungen zu lösen, dass man aber auch große Unterstützung finden kann. Ich bin sehr dankbar für die Hilfestellungen, die ich im Rahmen einer Kur bekommen habe. Ohne sie wäre es vermutlich nie gelungen, die Kinder und mich aus diesem destruktiven Umfeld zu befreien. Leider musste mein ältester Sohn bereits mehrfach die Schule wechseln, weil er gewalttätig wurde und Mitschüler zusammenschlug. Er wurde zu Sozialstunden verurteilt und musste eine Anti-Aggressions-Therapie absolvieren. Mir ist bewusst, dass das die Folge erlebter Gewalt ist, und das macht mir ein schlechtes Gewissen."

Nicht selten entwickelt sich aus erlebter Gewalt eine Gewaltspirale und Kinder neigen später als Erwachsene ebenfalls zu gewalttätigem Handeln. Gewalt vererbt sich durch das Vorbild der Eltern weiter.

Die verschiedenen Gewaltformen, die zur Unterdrückung und Einschüchterung angewandt werden, dienen immer dazu, das Rückgrat des Opfers zu brechen und sie in einer Abhängigkeit zu halten. Diese langanhaltende seelische Gewalt schlägt Wunden, die nur schwer verheilen.

Diejenigen, die einer oft jahrelangen Unterdrückung, körperlicher oder seelischer Gewalt ausgesetzt waren, sind so eingeschüchtert und geschädigt, dass sie oft kaum die Kraft haben, ohne Hilfe von außen ihrer ausweglos scheinenden Situation zu entkommen. Lethargie, Hoffnungslosigkeit, Resignation und ein Ergeben in die Situation sind die Folge.

Da häusliche Gewalt darüber hinaus ein Tabuthema ist und bei Bekanntwerden zur Ausgrenzung führt, trauen sich Betroffene nur selten, sich zu offenbaren und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil wird um jeden Preis das Bild einer intakten Familie nach außen aufrechterhalten, besonders dann, wenn strafrechtliche Konsequenzen drohen.

Oft verlängern durch Gewalt eingeschüchterte Mütter bestehende Verhältnisse, auch wenn sie eigentlich unerträglich sind, indem sie wegsehen, weil sie fürchten, im Falle strafrechtlicher Konsequenzen ihre eigene und die Versorgung der Kinder zu verlieren.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

12,99 €
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
170 S. 1 Illustration
ISBN:
9783945574683
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip