Die Gesichter des Bösen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Gesichter des Bösen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Dorothee Boss

Die Gesichter des Bösen

Die Gesichter des Bösen

Dorothee Boss


Dorothee Boss, geboren 1961, studierte Theologie an der Universität Bonn und Mediation an der Fernuniversität Hagen, arbeitet als freie Autorin und Publizistin und lebt in Aachen.

Noch ein Hinweis für alle Leserinnen und Leser: Zur besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet, ohne damit jedoch eine Diskriminierung zum Ausdruck bringen zu wollen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlag: Peter Hellmund, Würzburg

Titelbild: Marc Chagall: Cain et Abel (M. 238), Bible 1960

© VG Bild-Kunst, Bonn

Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de) Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe

ISBN 978-3-429-03365-1 (Print)

ISBN 978-3-429-03366-8 (PDF)

ISBN 978-3-429-06030-5 (Epub)

Inhalt

Einführung

Die Begriffsvielfalt des Bösen

Böses, Übel und Leid

Der christliche Begriff des Bösen

Das Böse im christlichen Glauben

Das Böse im Alten Testament

Das Böse im Neuen Testament

Teufel, Satan und Dämonen

Die Ursprünge des Bösen

Christliche Strategien gegen das Böse

Das Böse und die Frage nach Gott

Das Böse im Verständnis der Kirchen heute

Das Böse heute

Die Verwandlung des Bösen

Konstrukte des Bösen heute

Das magische Böse

Die Faszination des Bösen

Resümee

Literaturverzeichnis

Einführung

Mit der Publikation ‚Die Gesichter der Engel‘ (2010) wurde der Engelglaube in seiner Bedeutung und Begrenzung eingehend beleuchtet. Mit den ‚Gesichtern des Bösen‘ soll nun quasi seine Schattenseite betrachtet werden. Dieses Buch versucht dementsprechend, eine schmale Schneise in die Vielfalt der Konzepte vom Bösen zu schlagen. Dabei können viele interessante und wichtige Denkmuster nicht betrachtet werden. Die Komplexität des Bösen muss daher auf einige wenige zentrale Aspekte heruntergebrochen werden.

Relevant ist die Thematik auf jeden Fall, denn das menschliche Lebensglück ist nach wie vor zerbrechlich. Leiden, Verletzungen, Tod, Trennungen, Bedrohungen, Gewalt, Armut, Korruption, Gemeinheit, Diskriminierung sind nur einige der alltäglichen Facetten des Zerstörerischen durch Menschenhand, das im Deutschen mit dem Begriff des ‚Bösen‘ umschrieben wird. Das alltägliche wie das extreme Böse behält sein schreckliches Potenzial in unserer hochtechnisierten Welt. Dieser Begriff konfrontiert mit dem Schrecklichen, dem Unfassbaren, dem Beängstigenden und dem Fragilen menschlichen Handelns und Erlebens, dessen Restrisiko niemals ausgeschlossen werden kann.

Das gesamte komplexe Problem des menschlichen Bösen zu verstehen, scheint unmöglich. Denn es entzieht sich in letzter Konsequenz der menschlichen Fassungskraft. Im fernen wie im nahen Bösen: Wer das Böse erfährt, ist betroffen, aufgeschreckt und leidet darunter. Die bedrängenden Erfahrungen des Negativen lassen die Fragen nach dem Bösen nicht verstummen. Sie klingen wie ein ständiger Begleitakkord menschlichen Lebens: Welcher Sinn liegt hinter dem Bösen? Was treibt Menschen zu bösen Taten? Wieso wirkt sich selbst ein guter Wille manchmal so negativ aus? Warum lassen sich Gewalt und Leid nicht endgültig überwinden? Wieso trifft das Böse auch Unschuldige? In diesen komplexen Problemen lässt das Böse niemanden los.

Dazu kommt, dass das Zerstörungspotential menschlicher Technologien in diesem Jahrhundert gegenüber antiken oder mittelalterlichen Vernichtungsmöglichkeiten um ein Vielfaches gesteigert ist. Nuklearkatastrophen löschen in nur wenigen Sekunden millionenfaches Leben in weitem Umkreis aus. Ihre Wirkungen sind noch jahrtausendelang zu messen. Terrorangriffe töten Hunderte oder Tausende von Menschen auf einen Schlag. Umweltzerstörungen haben Auswirkungen auf das Klima des gesamten Globus. Es fragt sich zu Recht, wie diese Herausforderungen, die der Mensch selbst geschaffen hat, wirksam zu meistern sind.

Seit seinen Anfängen hat das Christentum das Problem des Bösen nicht als Nebenthema behandelt, sondern seine Bekämpfung zu seinem erklärten Anliegen gemacht. Durch die Kirche wurden früh relativ systematische Antworten auf die Frage nach Bedeutung, Ursprung und Verbreitung, aber auch nach Lösung und Überwindung des Bösen entwickelt, die bis heute bedacht und praktiziert werden. Doch gerade die christlichen Konzeptionen im 21. Jahrhundert mit seinen veränderten geistigen und sozialen Bedingungen und Möglichkeiten überzeugen heute immer weniger Menschen. Stattdessen konkurrieren heutzutage unterschiedliche Deutungskonzepte um die Erklärung des Bösen.

Dieses Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Teil sollen die verschiedenen Begriffe des Bösen inklusive des christlichen Bösen zur Orientierung vorgestellt werden. Im zweiten Schritt werden christliche Konzepte vom Bösen sowie kirchliche Gegenstrategien entfaltet. Im dritten Teil werden die grundlegenden Konzepte des Bösen der Gegenwart kritisch erörtert, die seine heutigen Deutungen maßgeblich bestimmen. Hierbei sollen sowohl ihre Reichweite wie ihre Begrenzung zur Sprache kommen. Im vierten Teil wird ein Resümee gezogen.

‚Die Gesichter des Bösen‘ geben einen Überblick über die unterschiedlichen Vorstellungen vom Bösen im Christentum und in der Moderne. Das Buch trägt zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen bei und versucht, die verschiedenen Aspekte des Bösen zu beleuchten. Den Leser möge es grundlegende interessante Deutungsmuster an die Hand geben, um das eigene Nachdenken über das Böse auch aus christlicher Perspektive zu unterstützen.

Die Begriffsvielfalt des Bösen
Böses, Übel und Leid

Für das ‚Böse‘ gibt es keine allgemeinverbindliche Begriffsdefinition. Deutlich wird aber, dass das deutsche Hauptwort ‚das Böse‘ einen Oberbegriff für alles mögliche Negative und Zerstörerische im menschlichen Leben darstellt. Im Laufe der Geschichte wurde er allerdings je nach den gesellschaftlichen Kontexten unterschiedlich bestimmt. Unter dem Begriff des Bösen lässt sich heute vieles zusammenfassen: Leid und Übel, Krankheit und Tod, zerstörende Naturkräfte und unmoralisches Verhalten, Aggression und Aggressivität, Unheil und Ungerechtigkeit, Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit, Fahrlässigkeit und Vernachlässigung etc. (vgl. Knoche, 2002). Der Kirchenlehrer Augustinus nennt es kurz und präzise: Es ist „das, was schadet“ (Augustinus, in: Häring, 1999).

Seit der Antike wird das Böse in der westlichen Kultur mit dem sogenannten ‚Übel‘ identifiziert. Man unterscheidet deshalb das physische oder körperliche Übel (malum physicum), das moralische Übel (malum morale) und das metaphysische Übel (malum metaphysicum). Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der große Philosoph, Mathematiker und Staatsmann, hat diese seit der Antike bekannten Einordnungen in seiner ‚Theodizee‘ weiterentwickelt: Das ‚physische Übel‘ entsteht aus der Natur und ihrer Anlage sowie Dingen und Umständen heraus (Schmerz, Entbehrung, Krankheit, Unglücke, Enttäuschungen). Diese Form des Übels ist nicht eigentlich mit dem Bösen gleichzusetzen, denn es kommt jedem lebenden Wesen und damit auch den Tieren und Pflanzen zu und entsteht nicht aus freien Entscheidungen. Das ‚moralische Übel‘ hat direkt mit dem Menschen zu tun. Es umfasst alles Schädliche, Zerstörung und Verletzung, die von Menschen absichtlich zugefügt werden. Für moralische Übel sind die Menschen verantwortlich, da nur sie Willensfreiheit besitzen. Der Begriff des moralischen Übels ist mit dem Begriff des Bösen identisch (vgl. Häring, 1999).

 

Leibniz kommt durch einen logischen Schluss auf die dritte Form, das metaphysische Übel. Wenn Gott der ‚Erste Beweger‘ ist, der die Welt erschaffen hat, und er gleichzeitig das höchste Gute, die Wahrheit und die Barmherzigkeit in Vollendung ist, dann hat er mit dieser Welt auch die beste aller möglichen Welten geschaffen. Trotzdem ist die Welt endlich; die Menschen müssen Tod und Leiden in Kauf nehmen als selbstverständliches Ende alles Lebendigen. Übel waren offensichtlich göttlicherseits bei der Erschaffung der Welt nicht zu vermeiden. Somit ist für Leibniz das metaphysische Übel letztlich ein Geheimnis für den Menschen, der das Handeln Gottes (noch) nicht richtig verstanden hat.

Oft wird das Böse nicht ganz korrekt mit dem Leiden gleichgesetzt. Das Leiden oder Leid (‚in die Fremde müssen, Not erfahren‘) meint das Erleben des Negativen; der Mensch erfährt, wie er den Zufällen seiner Umgebung hilflos ausgesetzt ist (z. B. durch Naturkatastrophen, Gewalt). Das Leiden wird deshalb nicht mit dem Bösen gleichgesetzt, weil es in diesem strengen Sinn nicht von Menschenhand gemacht ist. Die Begriffe des Übels, des Bösen und des Leidens werden in der Alltagssprache meist nicht voneinander getrennt, sondern gleichwertig benutzt. Ihre Unterscheidung wird aber vor allem deshalb vollzogen, um das menschliche Böse vom Leiden zu unterscheiden. Beide Begriffe stellen die Grundlage der Frage nach der Rolle Gottes in der Welt dar.

Entscheidend für den Begriff des Bösen ist der freie Wille des Handelnden. Böse sind Handlungen nur dann, wenn sie frei und ohne Zwänge erfolgen, man also die Wahl hat, sich auch gegen das Böse zu entscheiden. Wer dagegen z. B. psychisch beeinträchtigt ist und Stimmen hört, die ihn zu schlimmen Taten drängen, ist erkrankt, nicht böse. Den betroffenen Menschen fehlt es nämlich an der Möglichkeit, unabhängige Entscheidungen zu fällen.

Das Böse zeigt sich nur in menschlichen Ereignissen, Handlungen und Wirkungen. Tiere können nicht ‚böse‘ sein, denn sie haben als instinktgesteuerte Wesen keine Handlungsalternative: Der Wolf muss das Lamm fressen. Er kann nicht ersatzweise auf Heu oder Soja ausweichen. Das Böse lebt deshalb nur in der (un-) menschlichen Tat und ist abhängig von dem Vorsatz, Handlungen mit böser Absicht ausüben zu wollen.

Im letzten Jahrhundert ist darüber hinaus der Begriff des ‚strukturellen Bösen‘ entwickelt worden. Hierbei wird das Böse nicht im Handeln Einzelner, sondern in den Strukturen und Regeln ganzer Gruppen und Gesellschaften gesehen. Nicht der individuelle Mensch gilt hier als böse, sondern ein System gesellschaftlicher Mechanismen, denen der Einzelne sich nicht entziehen kann.

Vom Bösen sind Fahrlässigkeit sowie Irrtümer und Fehler zu unterscheiden. Der juristische Begriff der Fahrlässigkeit meint das ‚Außer-Acht-Lassen von erforderlicher Sorgfalt‘ (z. B. bei der Einhaltung von Verkehrsregeln). Dies beruht nicht auf Vorsatz (vgl. Evens, 2009). Damit gehört Fahrlässigkeit strenggenommen nicht zum Bösen, es sei denn, es besteht ein Vorsatz, sich nicht an Regeln zu halten. Irrtümer und Fehler sind ebenfalls nicht als böse zu bewerten, weil sie nicht auf freier Entscheidung beruhen. Ein Irrtum ist eine Überzeugung, die auf falschen Annahmen beruht. Ein Fehler meint den Wert eines Merkmals, welches vorgegebene Forderungen nicht erfüllt (vgl. Hochreither, 2005). Nicht beabsichtigte negative Nebenfolgen von Handlungen oder Verhaltensweisen gelten ebenfalls nicht als böse, sofern sie nicht willentlich angestrebt werden. Sie ‚passieren‘ dann vielmehr trotz bester Absicht.

Der christliche Begriff des Bösen

Das Christentum verstand im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Konzepte zuerst sowohl das von Menschen verursachte Übel wie natürliche Katastrophen als ‚böse‘. Seit dem 18. Jhdt. bezeichnet die Kirche mit dem Begriff des Bösen nur das Übel, das vom Mensch aufgrund seiner Willensfreiheit ausgeht. Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche etc. sind – trotz aller negativen Wirkungen – nicht als böse zu bewerten, da der Mensch hierüber keine Macht hat.

Das personale Böse im Menschen beruht nach christlicher Überzeugung auf einer schlechten Gesinnung, aus der Taten und Handlungen folgen, die anderen Menschen oder deren Umwelt schaden. Durch das Gewissen kann der Mensch das Grundgesetz der Sittlichkeit entdecken: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dieses, meide jenes.“ (GS 16)

Die Freiheit und Kompetenz des Menschen ermöglicht die autonome Wahl zwischen bösen und guten Gedanken, Worten und Taten. Das Böse entstammt demnach der freien Entscheidung des Menschen und entsteht nicht durch von außen oder innen auferlegte Zwänge. Nur wer sich bewusst und frei gegen das Tun des Guten und für das Umsetzen des Bösen entscheidet, handelt tatsächlich böse. Bei aller Fähigkeit zur Selbstbestimmung darf nach kirchlicher Lehre der Mensch nicht versuchen, sich etwa selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Gut und Böse sind dem Menschen durch Gott vorgegeben und können nicht autonom festgelegt werden (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, 2006b).

Zum Bösen gesellt sich auch der Begriff der Sünde. Dieser ist ursprünglich ein eindeutig religiöser Ausdruck. Sein Vorteil liegt in seiner genauen Begrenzung des Bösen auf die freie und bewusste, „also voll verantwortliche und existentiell radikale Entscheidung gegen den eindeutig erkannten Willen Gottes“ (Vorgrimler, 2000), d. h. die absolute Abkehr und Entfremdung von Gott. Dies meint die Kirche mit ‚schwerer Sünde‘ bzw. ‚Todsünde‘. Es geht demnach bei Sünden nicht um Bagatellen, wie z. B. das unerlaubte Essen einer Frucht (vgl. Gen / 1 Mose 3,6). Auch sexuelle Verfehlungen sind keine Todsünde, sofern damit nicht die radikale Abwendung von Gott verbunden wird.

Die katholische Kirche unterscheidet zwischen ‚schwerer Sünde‘ bzw. ‚Todsünde‘ und ‚leichter‘ bzw. ‚lässlicher Sünde‘. Ob jede Sünde auf einer autonomen Willensentscheidung beruht, zeigt die nachträgliche persönliche Identifikation des Menschen mit ihr. Distanzierung und Reue offenbaren dementsprechend, dass es hier evtl. Ambivalenzen gibt oder die böse Tat nicht auf Willensfreiheit beruht. Bei einer lässlichen oder leichten Sünde ist im Gegensatz zur Todsünde Willensfreiheit oder klare Erkenntnis eingeschränkt oder der Sachverhalt ist weniger von Bedeutung. Der Gebrauch falscher Mittel für ein gutes Ziel oder eine defizitäre menschliche Handlung, die eigentlich auf das Gute ausgerichtet ist, kann u. a. als lässliche Sünde beurteilt werden.

Die katholische Lehre von der Erbsünde meint im Kern die ‚Ursünde‘ Adams und Evas aus dem Alten Testament, d. h. die Bereitschaft der biblischen Stammeltern der Menschheit, sich von der Gemeinschaft mit Gott zu trennen (vgl. Gen / 1 Mose 3,1–24). Durch Abstammung tragen alle Menschen diese Hinwendung zum Schlechten mit sich. Durch die Taufe wird diese ‚Erbsünde‘ getilgt (vgl. Eph 4,22; Kol 3,9–10). Trotzdem bleibt auch nach der Taufe die menschliche Begierde zurück, wobei die Kirche diese nicht nur in ihren sexuellen, sondern auch in ihren geistigen Formen kennt (Hochmut, Erkenntnisgewinn um jeden Preis). Das Christentum macht den Begriff des Bösen sowohl am individuellen Menschen wie an Gruppen und Gemeinschaften fest, die dann als ‚böse‘ beurteilt werden (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, 2006a).

Seit den 1960er Jahren existiert der Begriff der ‚strukturellen Sünde‘ entsprechend dem des ‚strukturellen Bösen‘. Der Begriff der strukturellen Sünde wurde in der sogenannten Befreiungstheologie entwickelt, die sich auf die Seite der Benachteiligten und Armen stellt und deren Befreiung aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung sie theologisch reflektiert und vorantreiben will. Diese Sündenkategorie ist durch die Amtskirche stark kritisiert worden. Sie bezeichnet aber das zweifellos vorhandene gesellschaftliche Unrecht bzw. eine allgemeine Verfallenheit der Welt an Angst und Verzweiflung, „die an Gott irre werden läßt“ (Vorgrimler, 2000).

Das Böse im christlichen Glauben
Das Böse im Alten Testament

Zum Stichwort des Bösen fällt wahrscheinlich zuerst spontan das bekannte Bild von Adam und Eva unter dem Baum der Erkenntnis aus dem Alten Testament bzw. der hebräischen Bibel ein. Eine sich geheimnisvoll um diesen Baum windende Schlange flüstert verschwörerisch den beiden ersten Menschen ins Ohr, dass sie sich durchaus eine Frucht von diesem Baum nehmen dürfen, obwohl Gott dies strengstens verboten hat!

In dieser Erzählung aus dem Alten Testament scheint ein bekanntes Bild des Bösen auf: Der Mensch zwischen Gebot Gottes und eigener Lust auf einen leckeren Apfel hin- und hergerissen, greift von der Schlange verführt selbstverständlich zum Apfel. Abgesehen davon, dass in der Bibel an dieser Stelle nie von einem Apfelbaum die Rede ist, sind seine leckeren Früchte zum Sinnbild der menschlichen Verführbarkeit zum Bösen avanciert. Denn der Mensch, lüstern, wie er ist, hält sich nicht an Regeln und Verbote, selbst wenn sie von Gott kommen. So erklärt die Frau der Schlange:

„Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.“ (Gen / 1 Mose 3,2b-3)

Was hier locker nacherzählt wird, ist im Kern eine verhältnismäßig systematische Antwort auf die Frage nach der Herkunft und den Folgen des Bösen aus dem Blickwinkel des israelitischen Glaubens, den Christen im Alten Testament zum ersten Teil ihrer Heiligen Schrift zählen. In der Zeit, in der dieser Text abgefasst wurde, waren seine Autoren darum bemüht zu erklären, woher das Böse kommt und was seine zerstörerischen Folgen sind. Ihnen war klar: Von Gott kommt es nicht. Allein der Mensch mit seiner Bereitschaft zur Regelübertretung ist der Ursprung des Bösen. Er will unbedingt den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen und isst von der verbotenen Frucht. Wenn Gott aber den verführbaren Menschen und die listige Schlange ins Leben rief, hat er dann die Welt wirklich von Anfang an vollständig gut erschaffen? Diese tiefgründige Frage scheint ebenfalls in dieser bekannten Erzählung auf und hat bereits das Judentum vor der Zeitenwende beschäftigt (vgl. Krochmalnik, in: Laube, 2003).

Der Ursprung des Bösen ist für das Alte Testament bzw. die hebräische Bibel trotz dieser Spannungen letztlich nur im Menschen zu suchen. Denn der Mensch übertritt wissentlich das Gebot Gottes, verlässt somit seinen Gott und gibt die enge Bindung an ihn auf. Inmitten seiner paradiesischen Möglichkeiten wendet er sich von Gott ab, ignoriert ihn und seine allumfassende Zuwendung. Das ist das Böse in dieser Erzählung: Sie wird zum Sinnbild der immer wiederkehrenden menschlichen Fehltritte, der ständigen Bereitschaft zur Sünde. Zwar weiß der Mensch nach seiner Tat jetzt zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, hat an Erkenntnissen merklich dazugewonnen und teilt mit Gott dieses Wissen. Die Folge ist aber ein Leben fern des herrlichen Garten Eden, mit Arbeit, Leiden, Krankheit, Schmerzen und Tod, die fortan den Menschen begleiten werden (vgl. Gen / 1 Mose 3,14 ff.). Seitdem ist das Böse von Beginn an Teil menschlicher Existenz; deshalb haben bereits die Redakteure der hebräischen Bibel die ‚Sündenfallerzählung‘ an ihren Anfang gestellt.

Die Begierde nach der so harmlosen Frucht als Sinnbild von Erkenntniswillen und danach, Gott gleich zu sein, zerstört die lebenswichtige Beziehung zu Gott und zum Volk Israel. Der Mensch verlässt nach dieser klassischen Erzählung Gott selbst. Er wendet sich ab. Und Gott wendet sich nun auch ab. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist am Ende. Soll es nun auf immer so bleiben? Das Alte Testament ist voller Konflikte zwischen Israel und seinem Gott, das sich immer wieder von ihm autonomisieren will. Manche alttestamentlichen Zeilen schreien den Zorn des Allmächtigen über den ständigen Beziehungsabbruch der Menschen buchstäblich heraus:

Verfluchtsein, Verwirrtsein, Verwünschtsein lässt der Herr auf dich los, auf alles, was deine Hände schaffen und was du tust, bis du bald vernichtet und bis du ausgetilgt bist wegen deines Tuns, durch das du mich böswillig verlassen hast“ (Dtn / 5 Mose 28,20).

 

Das Alte Testament beschreibt (aus dem Blickwinkel von unterschiedlichen Autoren) in vielen Ereignissen das Kernproblem des Volkes Israel, das mit seinem einzigen Gott eine ausschließliche Bindung eingeht und gleichzeitig immer wieder diese einzigartige Beziehung zerstört. Verfehlungen im religiösen Bereich und in der zwischenmenschlichen Sphäre sind eins. Das Böse ist die Sünde und die Sünde ist jede Form des Beziehungsabbruchs mit Gott. Wer zum einzigen Gott Israels gehören will, muss in erster Linie den Glauben an Gott bewahren. Und dieser drückt sich in der umfassenden und genauen Einhaltung seiner Gesetze aus. Und alle Taten, die nicht in Übereinstimmung mit diesen Regeln stehen, gelten als sündig bzw. böse. Wer sich nicht daran hält, wird von Gott bzw. der Glaubensgemeinschaft massiv bestraft, z. B. durch Krankheit, Züchtigung, Armut, Kinderlosigkeit, Verbannung, Tod. Hier ein Beispiel zum Vergehen der Sklaverei:

Wenn ein Mann dabei ertappt wird, wie er einen seiner Brüder, einen Israeliten, entführt, ihn als Sklaven kennzeichnet und verkauft, dann soll dieser Entführer sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“ (Dtn / 5 Mose 24,7).

Die umfassenden Gebote und Gesetze des israelitischen Glaubens sind ein Indiz dafür, dass die Bindung an den einzigen Gott allein jedenfalls nicht immer ausreicht, um ein zufriedenstellendes gottgefälliges Leben zu führen. Offensichtlich werden sie immer wieder übertreten. So lassen sich sowohl die oben erwähnte Stelle zur Sklaverei wie die bekannten Zehn Gebote (Dekalog) rückblickend auch als eine religiössoziale Eindämmung von schädlichen Einstellungen und Handlungsweisen verstehen, die in Israel vorhanden waren und die das Gefüge dieser kleinen Glaubensgemeinschaft zutiefst zerstören konnten (vgl. Ex / 2 Mose 21,1–23,33 bzw. Dtn / 5 Mose 12,1–26,15): Wer neben Jahwe, dem einzigen Gott, andere Götter verehrt, sich am Vieh des Nachbarn bedient, lügt und mit der Frau des Nachbarn eine Beziehung eingeht, löst die engen Verbindlichkeiten zwischen Gott und Israel auf, unterläuft den Glauben an ihn, zerstört Vertrauen, schürt Hass und Aggression in Israel. Je kleiner eine religiöse Gruppe, umso wichtiger die unbedingte Einhaltung aller Gebote. Das Böse muss dabei nicht eigens thematisiert werden, es ergibt sich aus jeder gesetzeswidrigen Tat. So entwickelt das Alte Testament keine eigene Theologie des Bösen, sondern begreift das Böse sehr deutlich als sozialen wie religiösen Sprengstoff, der in Israel rigoros bestraft und am besten ausgelöscht werden soll.

Ein plastisches Beispiel des zwischenmenschlichen Bösen zeigt die Erzählung von Kain und Abel, den Söhnen von Adam und Eva (siehe Umschlagbild dieses Buches). Abel ist Schafhirt und Kain Ackerbauer. Beide bringen Gott jeweils ein Opfer ihrer Arbeit dar, Erstlinge ihrer Herde oder Feldfrüchte. Gott aber nimmt (vielleicht aus Sicht Kains) nur Abels Opfer wohlgefällig an:

„Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.

Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen. Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden“ (Gen / 1 Mose 4,3–16).

Der Neid Kains ist unübersehbar. Die Sünde wird hier als Dämon verstanden, der Kain schließlich so besetzt, dass er seinen Bruder einfach erschlägt, um seinen Nebenbuhler um Gottes Gunst aus dem Weg zu räumen. Missgunst und Konkurrenz um die Zuwendung Gottes sind die Triebfedern, die zur schrecklichen Tat des Brudermords führen. Gott schreitet selbst drastisch ein, um das Böse wegzuschaffen, und bestraft Kain (zuerst) vehement durch Todesandrohung. Allerdings, und das ist erstaunlich, wird die vorgesehene potenzierte Strafe, den Täter siebenfach für seine schreckliche Tat zu erschlagen, von Gott zuletzt in einen Schutzritus umgewandelt. Denn Kain gesteht seine Schuld ein und bestätigt seine Strafwürdigkeit. Er geht freiwillig in die Verbannung und kann nun nicht mehr erschlagen werden. Hier zeigt sich somit die weitestgehend entschärfte Form der Blutrache, die auch unter der Formel ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ bekannt ist (vgl. Ex / 2 Mose 21,23 ff.). Dieses ‚Talionsprinzip‘ sollte ausufernde Blutfehden zwischen den Nomaden der Frühzeit Israels eindämmen. Das Negative in sozialen Beziehungen lässt sich – so zeigen die Verfasser unserer Stelle – nicht durch gleichartige oder noch schlimmere Gewalt ausrotten. Entscheidend ist das Eingeständnis des eigenen Bösen und seiner Schuld durch den eifersüchtigen Kain selbst. Dies führt zur Wende. Gott selbst nimmt sein Geständnis an und das Todesurteil zurück.

An diesen ausgewählten Beispielen kann man den spezifisch israelitischen Umgang mit dem Bösen erkennen: Israel vertritt eine Vorstellung vom Bösen, die stark an die Überzeugung, mit Gott in enger Beziehung zu stehen, geknüpft ist. Allgemein ist das Alltagsverständnis vom Bösen als Schlechtem und Schädlichem, das allein vom Menschen ausgeht und Gottes- und Menschenbeziehungen zerstören kann. Insofern ist die konkrete Gesetzesübertretung das Sinnbild des Bösen, bei dem sich der gläubige Israelit von Gott abkehrt und die Verbindung zu ihm abbricht. Die verwerfliche Tat hat die direkte Schädigung der Glaubensgemeinschaft zur Folge. ‚Sünde‘ meint hier kein imaginäres Schuldgefühl, sondern das Faktum, Gottes Gebot definitiv übertreten zu haben. Jeder Israelit kennt die Gebote; in jedem Gottesdienst, bei jedem Gebet werden sie erinnert. Wer aber Kenntnis von den Weisungen Gottes hat und diese vorsätzlich übertritt, hat also Verantwortung für seine zerstörerische Tat und weiß, was er tut. Wer die Liebe zu Gott und den Nächsten verweigert oder in bestimmten Handlungen verletzt, macht sich Gott und Israel gegenüber schuldig. Das Böse ist somit eine Folge der menschlichen Erkenntnis und seiner Freiheit.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?