Wo die Seele aufblüht

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Meine grüne Seele

Ich habe eine Frau gekannt, die von morgens bis abends nichts anderes tat, als Unkraut auszureißen und dabei vor sich hin zu schimpfen. Es war, als führe sie einen Krieg. Ihr Feind war die Natur. Kaum tauchte ein Stück Moos in ihrem Rasen auf, schon begann sie, dieses auszurupfen, kaum zeigten sich ein paar gezackte Löwenzahnblätter, griff sie zu einer harpunenartigen Grabegabel und stach diese samt Wurzel aus, kaum wuchs eine wilde Kamille auf ihrer Terrasse, holte sie ein schreckliches Gerät hervor, schloss einen Schlauch an eine Gasflasche an und richtete eine Flamme auf sämtliche Terrassenfugen. Selbstverständlich hatte auf ihren Gemüsebeeten kein Klee, kein Vergissmeinnicht, kein Hahnenfuß, Schöllkraut oder wilder Mohn etwas zu suchen. Ihr Garten glich einem geputzten Zimmer, und sie war stolz darauf.

Dieser Garten lag neben dem meiner Mutter. Als Kind machte ich instinktiv einen Bogen um ihn, denn die Frau guckte immer so grimmig. Sie hatte eine steile Falte auf der Stirn, vor der ich mich ebenso fürchtete wie vor ihrem Flammenwerfer.

Wie unterschiedlich Gärtnerinnen und Gärtner als einzelne Menschen auch sein mögen, eines haben sie alle gemeinsam: Sie entscheiden über das Verhältnis von Wildnis und Kultur in ihrem Garten. Und an diesem Punkt gehen die Meinungen sehr auseinander. Der eine meint, die Natur werde es schon besorgen, irgendetwas wächst ja immer, und ein Garten sei dazu da, der verlorengegangenen Wildnis wenigstens auf dreihundert Quadratmetern wieder eine Chance zu geben.

Praktisch an dieser Haltung ist, dass sie keine Mühe macht und keinen Muskelkater auslöst. Höchstens Ärger, mit den Gartennachbarn nämlich, die das anders sehen. Manche haben eben ein Problem damit, wenn die Samen von Brennnessel, Goldregen oder Weidenröschen scharenweise über den Zaun geweht werden oder wenn Giersch und Quecke sich aufmachen, unter dem Zaun hindurchzuwachsen und die Rosen- oder Gemüsebeete flächendeckend zu erobern. Dann beschweren sie sich bei ihren wildnisliebenden Nachbarn. Und hören dann, deren Garten sei ein Ökogarten und Giersch ein sehr gesunder und leckerer Frühjahrssalat. Und schon ist der Ärger da. Man wirft sich auf der einen Seite Faulheit vor, auf der anderen Seite Kleingeist und Rasenmähermanie.

Und dann gibt es noch die, die unbedingt etwas gegen Wildnis haben und trotzdem nicht den ganzen Tag arbeiten wollen. Die betonieren ihren Garten kurzerhand zu und lassen nur ab und an kleine Inseln stehen, in die sie ordentliche Pflanzen aus dem Baumarkt setzen.

Bevor ich einen eigenen Garten hatte, hätte ich mir tatsächlich nicht träumen lassen, mit welcher Geschwindigkeit Wildpflanzen wachsen und vor allem, wie schnell und üppig sie sich vermehren. Einerseits möchte ich ja schon eigene Gestaltungsideen umsetzen, andererseits will ich nicht zum Sklaven des Gartens werden und den ganzen Tag darum kämpfen, dass die Rosen, Stauden und Salatköpfe die Invasion von Quecke und Ahorn überleben. Man kann es nun als brutal ansehen, dass ich daumengroße Ahornbäumchen auszupfe, sobald ich sie entdecke, immerhin könnten das wunderschöne Bäume werden, und haben wir davon nicht immer zu wenig? Bedenkt man aber, dass es pro Saison ungefähr dreitausend solcher Bäumlinge sind, die ich entferne, wird klar, wie der Garten in ein paar Jahren aussähe, wenn ich es nicht täte.

Auf der anderen Seite wachsen manche Wildpflanzen, die ich gern hätte, partout nicht in meinem Garten. Zum Beispiel liebe ich Adonisröschen über alles. Ich habe mir Samen besorgt, ich habe Pflanzen in speziellen Wildpflanzenhandlungen gekauft und sie gesetzt, doch sie blieben nicht da. Irgendwann gab ich es auf und sah ein, dass ich ihnen wohl nicht die geeigneten Bedingungen bieten konnte.

Was Natur und was Kultur, was wild und was erwünscht, hängt also vom Betrachter ab. Selbst auf den Begriff Unkraut kann man sich nicht mehr verlassen. Auch unser Getreide wurde einst als Unkraut bezeichnet. Andererseits gibt es Pflanzen wie den Giersch, die so raumeinnehmend sind, dass ich beim ersten Auftreten radikal dagegen vorgehe. Eine Freundin von mir, die einmal einen vergierschten Garten übernahm und vier Jahre lang mit allen erdenklichen Methoden versuchte, den Giersch zu entfernen, weil sie auch mal etwas anderes anbauen wollte, wandte sich schließlich an einen Fachmann und fragte ihn, was sie denn noch tun könne. Ob es überhaupt eine Lösung gäbe. Ja, sagte der, die gäbe es. Sie solle sich einen neuen Garten suchen.

Beim Giersch ist es also eindeutig. Aber wird der Sellerie, den ich gesät habe, von einer Handvoll sich ausbreitender Wild-Akeleien bedroht? Stören sich meine Rosen an den Vergissmeinnichtwolken, die sich im Mai um sie herum erheben? Sind Fingerhut, Waldmeister, Kamille oder Klatschmohn, die bei mir alle von allein wachsen, Unkräuter oder nicht? Ich kann natürlich alle sich selbst aussamenden Wildpflanzen zu Unkräutern erklären, sie ausreißen, ich kann einen endlosen Kampf führen und mir anschließend gratulieren, dass in meinem Garten nur das wächst, was ich will. Doch abgesehen von einer zermürbenden Sisyphusarbeit wird diese Haltung auf Dauer etwas mit mir machen. Je mehr ich kämpfe, umso mehr Hass wird sich in mir ansammeln. Da ich nur noch Unkräuter suche, um sie auszureißen, werde ich irgendwann nur noch Unkräuter erblicken. Ich werde mir das Schönste nehmen, was ein Garten zu bieten hat. Ich werde weder Zeit noch Muße haben, mich in der Freundlichkeit des Vergissmeinnicht, der Schönheit der Akelei, der Anmut der Digitalis oder dem Duft des Waldmeisters zu verlieren.

Es liegt wohl ein großer Reiz darin, die eigene Idee von der Welt wie einen Besitz anzusehen, der verteidigt werden muss. Insofern glaube ich, man ist nie „Sklave des Gartens“. Eher Sklave der eigenen Vorstellungen und Ideale von einem Garten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass man diesen Zustand erreicht hat, ist, den Garten als Belastung zu empfinden und bei seinem Anblick nur noch an Arbeit zu denken.

Natürlich wollen wir gestaltend tätig sein. Und ein Garten ist gestaltete Natur. Aber man sollte sich immer der Verführung bewusst bleiben, die aus dem Zusammenspiel von eigenem Perfektionismus, ordnungsliebenden Nachbarn, deutschen Kleingartengesetzen und Hochglanz-Gärtnerei-Reklame erwachsen kann.

Für meine grüne Seele, die dem Unperfekten huldigt, gibt es in meinem Garten eine Ecke, in der ich nichts tue. Dort kommen kein Spaten, keine Hacke und keine Samentüte hin. Es ist eine Ecke neben der Dusche, ein recht schattiger, unwirtlicher Platz. Dort wuchs nichts, was ich aussäte. Irgendwann entschied ich, der Natur dort ihren Lauf zu lassen, nichts mehr zu tun und nur noch zu beobachten, was passiert.

In diesem Frühjahr schoben sich dort plötzlich ein paar kleine Spitzen aus der Erde. Zuerst dachte ich, es werden die üblichen Ahornbäume. Doch dann fiederten sich die Blätter immer mehr auf und kleine gelbe Blüten erschienen. Es waren Adonisröschen.

Müde Knochen

Abends um acht kippe ich um. Liege auf der Couch. Arme und Beine hängen bleischwer an mir herunter. Nichts geht mehr. Eine Tasse Tee wäre gut. Aber allein die Vorstellung aufzustehen, in die Küche zu gehen, Tee zu kochen und ihn zur Couch zu tragen, reicht aus, mich noch tiefer in die Kissen zu drücken.

Ich schließe die Augen. Mein Gesicht brennt. Kann man denn im März schon Sonnenbrand bekommen? Ich spüre jeden Knochen. Der Rücken zwickt, in meinen Adern pulsiert das Blut. Muskeln tun mir weh an Stellen, wo ich gar keine Muskeln vermutet hatte.

Den ganzen Tag habe ich mich von hinten bis vorn und wieder zurück durch den Garten gewühlt. Ihn mir wieder zu eigen gemacht. Ihn genossen. Mich in ihn eingegraben! Habe vertrocknete Stauden heruntergeschnitten, den vorderen Weg ausgebessert, zwei rechtwinklige Betonecken in runde aus Feldsteinen verwandelt. Den linken Kompost umgesetzt.

Meine Fingernägel sind schwarz. Meine Hände fühlen sich trocken und rau an. Die Unterarme sind zerkratzt wie nach einem Katzenkampf. Das waren die Kletterrosen. Ich habe sie angebunden. Danach alles einmal gegossen. Vom Gießkannenschleppen scheinen meine Arme länger geworden zu sein. Und tatsächlich! Kann das wahr sein? Acht Mückenstiche. Um diese Jahreszeit!

Nachmittags, als ich die Kohlen umpackte, kam meine Nachbarin Erika und lud mich zu Kaffee, Kuchen und Klönen ein. Gut, dass sie kam, vermutlich hätte ich sonst gar keine Pause gemacht. Und die Pausen mit Erika sind immer so unterhaltsam, sie kann so wunderbar erzählen.

Danach habe ich noch Farn ausgegraben. Die Stachelbeeren brauchten dringend mehr Licht. Nun ist es luftiger geworden hinter der Weinlaube.

Wie dreckig ich bin! Das geht nun wirklich nicht, so kann man doch nicht ins Bett. Aber zum Waschen bin ich einfach zu erledigt. Das mache ich morgen früh.

Ach – gärtnern! Endlich! Wie hatte mir das gefehlt! Meine Lebensgeister sind erwacht. Aber mein Körper – oje. Ich muss wohl auch in diesem Jahr wieder lernen, dass ich keine Zwanzig mehr bin. Nicht alles auf einmal wollen. Immer schön geduldig, nach und nach … Der Sinn des Gartens ist bestimmt nicht, dass ich abends nicht mehr kriechen kann.

Angesichts der Erschöpfung fällt mein Geist allmählich in Trance. Bilder des Tages ziehen vorbei. Dieses Tier im Holzstapel, das wie verrückt nagte und mich ganz nervös machte. Eine Maus? Entdecken konnte ich sie nicht. Nur hören. Wer frisst denn Holz? Holzwürmer sind doch nicht zu hören? Oder? Man weiß gar nichts. Der Garten – ein fremder Planet … Den ganzen Tag nur geackert. Warum wundert mich, dass ich müde bin? Über die beiden runden Steinecken freue ich mich. Heißen sie eigentlich noch Ecken, wenn sie rund sind? Egal. Sie gefallen mir. … Wer sagt, dass ich ins Bett muss? Ich bleibe einfach auf der Couch liegen. Bin alt genug, das selbst zu entscheiden … Mein Gesicht glüht. Eindeutig Sonnenbrand … Irgendjemand meinte, da hilft Kefir. Wer war das nur? Und wo nehme ich jetzt Kefir her? … Oh, mein Rücken … Ja, es war zu viel für den Anfang. Das steht fest. Gut, dass ich jetzt schlafen kann. Schlaf ist etwas Wunderbares. Vielleicht bin ich auch nur von der vielen frischen Luft so kaputt. Oder vom Glück. Ich bin so selig, es würde mich nicht wundern, wenn sich das Dach auftun, der Himmel runterfallen und sich als leuchtend dunkelblauer Mantel um mich legen würde … Und während ich immer schwerer und schwerer werde und völlig mühelos in den Schlaf hinübergleite, taucht für einen Moment eine gleißende Klarheit in mir auf. Ganz deutlich. Fast eine Erleuchtung. Eigentlich sogar zwei Erleuchtungen. Ich bin nur zu müde, sie in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Sie lauten: Morgen habe ich höllischen Muskelkater. Und: Zufriedenheit ist ein anderes Wort für Garten.

 
Der Garten im

Kirschbaumgezeiten

Die beiden Kirschbäume wachsen auf der Wiese neben dem Pfirsich. Ihre mächtigen breiten Stämme, deren Rinde teils glänzt wie frisch poliert, stellenweise aber auch schon eingerissen ist und sich abschält, und ihre breiten Kronen, die vom Gartenhausdach bis zur Pforte reichen und sich in der Mitte berühren, dominieren das Bild der vorderen Gartenhälfte. Dass sie alt sind, sieht man sofort. Besonders der hintere Baum ist mit Pilzen und Flechten bewachsen, an manchen Stellen des Stammes ist Harz ausgetreten, hart geworden und leuchtet nun bernsteinfarben in der Sonne. Wahre Riesen sind sie, nicht solche Halb- oder Viertelstämme, wie man sie heute gern als Obstbäume setzt. Als man sie pflanzte, wollte man noch zu Bäumen aufsehen und ausreichend von ihnen ernten.

Ein Mann aus der Gegend, nach dem Alter dieser beiden Bäume befragt, erzählt: Er hätte Anfang der Fünfzigerjahre, wenn er die Schule schwänzte, natürlich nicht nach Hause gehen können. Das hätte mächtigen Ärger gegeben. Also wäre er den ganzen Vormittag S-Bahn gefahren. Besonders geeignet sei dazu die Ringbahn gewesen, in ihr konnte er einfach bis zum Schulschluss sitzen bleiben, sei immer schön im Kreis gefahren und habe sich die Stadt angeguckt. Und bei dieser Gelegenheit hätte er von der S-Bahn aus immer diese beiden Kirschbäume gesehen, deren Kronen schon damals die Höhe des Bahnsteigs überstiegen und voller glänzender roter Früchte hingen. Und immer wäre ihm dann das Wasser im Mund zusammengelaufen und er hätte sich in diesen Garten geträumt und sich danach gesehnt, einmal in diese Bäume zu klettern und sich den Bauch voller Kirschen schlagen zu dürfen …

Ich bin froh, diese Geschichte zu hören. Nun weiß ich, dass meine Kirschbäume in den Fünfzigerjahren schon wenigstens zwanzig Jahre alt gewesen sein müssen, was bedeuten würde, dass sie wahrscheinlich 1930 bei Anlage des Gartens gepflanzt wurden. Somit sind sie heute über achtzig Jahre alt. Und trotzdem noch so kraftvoll und blühfreudig!

Im April ziehen die Kirschveteranen ihre Hochzeitsgewänder an. An jedem noch so kleinen Zweig sitzen die schneeweißen Blütenbüschel, dicht an dicht, leuchten in der Sonne und duften vor sich hin. Alle Menschen, die in den Garten kommen, stellen sich auf die Kirschwiese, legen den Kopf in den Nacken, gucken ganz selig und bestaunen die tausenden kleinen Blumensträuße vor dem blauem Frühlingshimmel. Genüsslich ziehen sie den Duft durch die Nasenlöcher, rufen Ah! und Oh!, und hören erst damit erst auf, wenn sie Genickschmerzen bekommen.

Dann summt und brummt es dort oben, die Nektarsucher wissen gar nicht, wo sie in diesem Überangebot zuerst naschen sollen, umschwirren die Kronen, aus deren Inneren eine berauschende Süße hervorbricht, taumeln von Kelch zu Kelch und genießen. Von unten nach oben pulsiert der Saft in den Bäumen, von den kleinsten Wurzelfasern bis in die höchsten Zweige. Ein Überfluss ist das, ein Reichtum, eine Üppigkeit, dass einem ganz schwindlig werden kann. Und als wüssten sie, dass diese Pracht nur von kurzer Dauer ist, fliegen Bienen und Hummeln von morgens bis abends, pausenlos, um so viel Köstlichkeit wie möglich einzusammeln und auch ja viele Blüten zu bestäuben.

Ein paar Tage später gibt es ein neues Schauspiel. Es schneit. Die Wiese sieht von fern bereift aus. Kleine, lichtweiße Kelchblätter lösen sich, segeln lautlos herab, alle Gartenpflanzen sind weiß gefleckt, Gänseblümchen, Tulpen und Osterglocken spielen Karneval, frischgestutzte Rosenstöcke sehen aus wie Harlekine, der Buddelkasten hat eine Spitzendecke aus Blüten bekommen. Tagelang gleiten die Kirschblüten friedlich auf Grashalme, Beete, Wege, Buddelsand und Menschenköpfe.

Im Mai kann, wer gute Augen hat, schon spärliche, länglich geformte grüne Knubbel an den Stielbüscheln entdecken. Und im Juni sind diese unscheinbaren Verdickungen zu kugelrunden Früchten herangewachsen. Nun erst zeigt sich, dass man hier zwei ganz verschiedene Kirschbäume vor sich hat. Der vordere bringt glänzend dunkelrote, fast schwarze Knupperkirschen hervor, der hintere hellrote. Die Kirschen werden dicker und dicker, leuchten in der Sonne, die Zweige beginnen sich nach unten zu biegen. Und nun, als hätte jemand ein weithin hörbares Signal gegeben, stürzt sich alles, was Flügel, Schnabel und Krallen hat, in die Kronen. Stare, Meisen, Spatzen, Eichelhäher, Krähen, Amseln, Elstern und natürlich auch das Eichhörnchen. Alle wollen sie mal kurz nachschauen, ob es schon so weit ist. Ob die Kirschen schon süß genug, knackig genug, saftig genug sind. Zu diesem Zweck müssen sie natürlich die eine oder andere anpicken. Oder sie herunterschmeißen. Oder von ihr abbeißen.

Ich rufe Freunde an, vermelde, dass die Kirschen reif sind. Sie kommen, mit Eimern, Spankörben und Schüsseln, stellen Leitern an den Stamm, steigen hinauf, klettern in die Äste, mit nackten Füßen. Die Sonne scheint, die Menschen schwitzen, mit einem Arm umklammern sie einen dicken Ast, halten sich in schwindelerregenden Höhen, die andere Hand greift nach einem Kirschbündel. Sie werden zu Zirkuskünstlern, balancieren, lachen und pflücken, Schweiß tropft von Stirnen, Eimer und Körbe füllen sich rot.

Die Bäume werden leichter und leerer. Können ihre Arme endlich wieder aufrichten und in den Himmel recken. Es ist, als würden sie seufzen vor Erleichterung.

Abends, wenn es still geworden ist im Garten, gehe ich noch einmal zu meinen Kirschbäumen.

Wie ein altes Ehepaar kommen sie mir vor, als hielten sie sich an den Händen mit ihren Zweigen, die sich nun wieder berühren. Sie stehen so friedlich nebeneinander. Einer von ihnen, denke ich, wird vor dem anderen sterben. Sicher der hintere, dessen Stamm schon von Pilzen übersät ist. Wie es dann wohl dem anderen geht? Ob sein Partner ihm fehlen wird?

Aber das kann noch lange dauern. Eine Weile bleiben sie sicher noch.

Voller Dankbarkeit lege ich meine Hand auf den Stamm. Ich stelle mir vor, wie jemand in schlimmen Zeiten froh war, dass es diese Bäume gab. Im zweiten Weltkrieg standen sie schon hier. Welch ein Symbol der Hoffnung und des Lebens müssen sie gewesen sein in ihrer blühenden Pracht im April ‘45, kurz vor Kriegsende. Welch ein Trost einige Monate später ihre Speise. Und erst im Hungerjahr 1946. Manch einer wird geweint haben vor Glück, als er sie entdeckte. Einmal satt essen. Vielleicht hat einer von diesen Menschen damals auch seine Hand an den Stamm gelegt, so wie ich jetzt, als wolle er sich bedanken.

Wenn die Vögel begriffen haben, dass die Äste für dieses Jahr leer sind, fliegen sie zu anderen Bäumen. Dann kehrt Ruhe ein in den Kronen. Dann können meine Kirschbäume die Augen schließen und Kraft sammeln für die kalte Zeit.

Meisenpost

Natürlich bekomme ich im Garten keine Post. Dass ein Briefkasten mit meinem Namen am Zaun hängt, hat rein romantische Gründe. Briefkästen in der heutigen Zeit haben etwas zutiefst Romantisches.

Bei der Sanierung unseres Mietshauses wurden unter anderem alle alten Briefkästen entfernt, die sich im Laufe der Jahre zu echten Individuen entwickelt hatten. Selbstgeschriebene Namensschilder, diverse Aufkleber (von „Atomkraft – Nein danke!“ über „Hier nur Liebesbriefe!“ bis „Keine Werbung – Lasst die Bäume leben!“), persönliche Nachrichten an den Postboten, verrostete oder verbogene Türen und mehrere neue Farbanstriche hatten ihnen ein unverwechselbares Flair verliehen. Es kam mich das kalte Grausen an, als ich fortan im Hausflur von den neuen, seelenlosen und einheitsbeschrifteten Edelstahlkästen empfangen wurde.

Die alten waren lieblos auf einen Schuttberg geworfen worden. Ich brachte es nicht übers Herz, meinen dort liegen zu lassen. Ihn, der über so viele Jahre Erwartung, Hoffnung, Sehnsucht, Freude und Trauer zu mir getragen und mir so viel liebe Post beschert hatte. Als ich ihn zwischen Putzbrocken und Ziegelschutt liegen sah, musste ich ihn einfach mitnehmen. Ich trug ihn in den Garten und hängte ihn an den Zaun.

Das war Anfang März.

Zum Ende des Monats begann mein Hund, sein Winterfell abzuwerfen. Diese Prozedur dauert in der Regel drei Wochen, in denen der Wind dicke weiße Hundefellflocken über Grashalme und Gänseblümchen treibt.

Eines Morgens, als ich gerade beim Kaffee saß, erblickte ich einen merkwürdigen Vogel. Er hüpfte über die Wiese, pickte etwas auf, hatte einen unförmigen weißen Kopf und im Vergleich dazu einen schmächtigen kleinen Körper mit auffallend gelbem Bauch, der an eine Kohlmeise erinnerte. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie stopfte sich Hundehaarbüschel um Hundehaarbüschel in den Schnabel, bis sie aussah, als wüchsen ihr rechts und links riesige Bärte aus dem Kopf. Als ich befürchtete, sie würde jeden Moment an dem Haargewirr ersticken, setzte sie zum Flug an. Neugierig verfolgte ich sie mit den Augen und staunte nicht schlecht, als sie im Schlitz meines alten Briefkastens verschwand.

Gleich setzte ich mich so, dass ich Wiese und Briefkasten bequem im Auge hatte. Und wirklich: binnen Kurzem kam sie – jetzt eindeutig eine Kohlmeise – ohne Haare wieder aus dem Schlitz heraus, flog erneut zur Wiese, legte sich zwei neue Bärte zu und verschwand wieder im Briefkasten.

Dieses Treiben dauerte drei Wochen lang, genau so lange, wie mein Hund sein reichlich fallendes Winterfell im Garten verteilte. In dieser Zeit bastelte ich ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Post einwerfen! Brütende Meise!“ und klebte es an den Kasten, als die Meise gerade auf der Wiese zu tun hatte.

Warten, Hoffen und Wünschen, diese schwierigen Geduldsübungen, die einem Briefkasten gut anstehen, lohnten sich auch diesmal. Schon Mitte April begann die Meise zu brüten, ich konnte deutlich beobachten, wie sie fleißig von ihrem Männchen gefüttert wurde. Anfang Mai flogen dann plötzlich zwei erwachsene Meisen unermüdlich hin und her, Mutter und Vater, und stopften Samen, Insekten, Larven, Spinnen und kleine Schnecken durch den Briefschlitz. (Kluge Menschen haben ausgerechnet, dass ein Meisenpaar und seine Nachkommen in einem einzigen Sommer über fünfundzwanzig Kilogramm Insekten und Kleintiere vertilgen! Falls sie nur einmal brüten. Oft brüten sie aber im Juni ein zweites Mal.)

Drei Wochen später, an einem schönen Mai-Vormittag, war es dann soweit: Die Kinder sollten fliegen lernen. Ich wurde Zeuge, wie Mutter Meise versuchte, sie aus dem Briefkasten herauszulocken. Offenbar machte es den jungen Meisen ziemliche Mühe, von innen durch den schmalen Schlitz zu rutschen und dabei gleichzeitig die Flügelchen zum Flug auszubreiten. Die Mutter hüpfte und lockte, flog immer wieder zwischen dem Briefkasten und einem nahen Pfirsichast hin und her, und schließlich gelang es dem ersten Jungvogel, ihr zu folgen. Nach einem heroischen Schlenker landete er auf der Wiese. Nun trauten sich auch die anderen. Es waren sechs.

In den nächsten Wochen staunte ich über die unendliche Geduld der Eltern, die, obwohl nach der Anstrengung des Brütens und Fütterns sicher arg erschöpft, in einem fort Nahrung in aufgerissene Schnäbel stopften. Und das, obwohl – wie ich genau sehen konnte! – die Kleinen, die bald ebenso groß waren wie ihre Eltern, durchaus schon selbst fressen konnten! Dies taten sie allerdings nur, solange Mutter und Vater unterwegs waren, um Futter heranzuschaffen. Dann pickten sie fröhlich herum, fanden auch schon dies und das, kaum aber kamen die Eltern in Sichtweite, begannen sie herzzerreißend zu betteln, rissen die Schnäbel auf, schrien erbärmlich, zitterten mit den gespreizten Flügeln und verfolgen ihre Eltern in diesem jämmerlichen Zustand penetrant. Es wirkte. Die Altvögel waren den ganzen Tag mit Füttern beschäftigt.

 

Nach zwei Wochen konnte ich Eltern und Kinder nicht mehr unterscheiden und auch das Bettelgeschrei verstummte. Dafür habe ich seitdem immer freundliche kleine Gäste. Gleich morgens, wenn ich aus dem Haus trete, sind sie da. Kohlmeisen sitzen auf meinem Frühstückstisch, auf dem hochgeklappten Bildschirm meines Laptops, auf meiner Schuhspitze, wenn ich die Füße hochlege, auf der Wäscheleine in der Weinlaube oder auf dem Rand der Kaffeetasse. Sie fliegen mir um den Kopf, wenn ich eine Pause mache, ja, eine ist gar so dreist, sich während des Schreibens auf meinen Kugelschreiber zu setzen und daran herumzupicken. Auch erinnern sie mich sofort lautstark an ihr Gewohnheitsrecht, falls ich einmal vergesse, die Frühstücksbrotkrümel ins Futterhaus zu werfen. Oder schimpfen mit mir, wenn ich mich erdreiste, Erdnüsse oder Kuchen zu essen, ohne ihnen etwas davon abzugeben.

So nah kommen sie aber nur heran, wenn ich allein bin. Habe ich Besuch, beobachten sie mich und die fremden Menschen misstrauisch aus sicherer Entfernung.

Ich mag sie sehr, diese schönen Tiere. Obwohl ich für sie vermutlich lediglich zum nützlichen Inventar ihres Reviers gehöre. Genau wie der Hund. Und der Briefkasten. In dem sie hoffentlich im nächsten Jahr wieder brüten.

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