Das offene Geheimnis

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Das offene Geheimnis
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Doree Valerie

Das offene Geheimnis

Eine halbwegs wahre Geschichte

Romantische Erzählung


Doree Valerie

Das offene Geheimnis

Eine halbwegs wahre Geschichte

Romantische Erzählung

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Der Umschlag wurde nach einem Aquarell der Autorin gestaltet.

Alle Rechte vorbehalten!

© Herbst 2017

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

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Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

eISBN 978-3-96136-018-5


Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt. Die Umstände sind der Fantasie geschuldet.

Sollte sich der Leser dennoch in einer Figur wiederfinden, so hat sich wohl die Fantasie mit dem Leben vereint.

Fantasie ist der Luxus derer,

die arm an käuflichen Gütern sind.

D. V.

Bloßes Sehnen,

Schwärmen,

Hoffen …

bis alles zerbricht

und in schwarzer Traurigkeit endet.

W o l l e nSie, dass es so endet?

Contents

Das offene Geheimnis

Epilog

Erläuterungen

„Und weißt du noch …?“,

begann ihre Erzählung, als wir uns nach Jahren das erste Mal wieder trafen.

In einem Alter, in dem Mädchen sich über die Liebe mokieren, weil sie sie nicht kennen, gestand sie, sie sei verliebt. Doch würden ihre Gefühle niemals erwidert werden, war sie zutiefst überzeugt.

Sie war siebzehn. Er vierunddreißig.

Es geschah in einer Zeit, in der man das Recht, wichtige Entscheidungen zu treffen, erst mit einundzwanzig Jahren erhielt. Mädchen bei Auftritten der ‚Beatles‘ aus hysterischer Begeisterung in Ohnmacht fielen. Und man Unterhaltungsmusik, aus der ‚Pop‘-Musik wurde, nur auf Englisch oder Italienisch ertrug.

In dieser Zeit hatte sie die erste Liebe erfahren.

Er hatte Jura studiert. Alle Examen bestanden. War Assessor geworden.

Das hatte sie beeindruckt. War ihr aber nicht wichtig.

Dass er schön war, hatte sie ins Herz getroffen.

Deshalb huschte, wenn sie an ihn dachte, immer ein Lächeln über ihr Gesicht.

Dass er nicht nur äußerliche Schönheit besaß, war ihr noch unbewusst. Doch ahnte sie, dass seine Züge, sein olivfarbener Teint, seine zartgliedrigen Hände, eine tiefere als nur äußerliche Schönheit bedeuteten.

Seine knabenhafte und dennoch männliche Anmut war es, die ihre Seele berührte. Dieser männliche Knabe – oder noch knabenhafte Mann – hatte sie, ohne dass er dies im Schilde geführt hatte, mit besonderem Charme bestochen. Einem Zauber, einem Reiz, einer Liebenswürdigkeit, denen sie erlegen war.

Niemals war das, was sie bewegte, seine Absicht gewesen. Er bestach ganz einfach. So wie er war:

Sanft und elegant. Schön und gebildet. Leichtfüßig und ernsthaft zugleich.

Der Traum eines empfindsamen Mädchens.

Doch vor allem zogen sie seine dämmergrauen Augen in ihren Bann. Die in ihrem ins Grün spielenden Grau der Tiefe des Meeres glichen. Augen, die von gebogenen Wimpern gesäumt waren. In deren Iris Goldtupfen tanzten. Die melancholischen Ernst ahnen ließen. Verträumte Augen, die Sanftheit versprachen. Wie seine Gesten und auch sein Gang.

Dabei war es nur natürlich, dass dieser männliche Knabe Sanftheit versprach, verinnerlicht wirkte und den geschmeidigen Gang einer hochbeinigen Katze besaß. Denn seine Berufswahl wäre eine andere als die des Advokaten gewesen.

Niemals wollte er aus innerem Antrieb die Rechte studieren. Noch das Recht für Rechtlose oder Rechtsbrecher erstreiten. Die Vernunft des Vaters hatte zu dieser Berufswahl geführt. Entgegen dem Wesen des Knaben.

Denn hätte er sich von seiner Sehnsucht leiten lassen, hätte diese Wahl gegensätzlicher nicht ausfallen können:

Er wäre Tänzer geworden.

Die Mutter, eine Künstlerin, die seinerzeit mit dem Kind im Ausland lebte, hatte dem Neunjährigen ermöglicht – ohne Wissen des nüchtern denkenden Vaters – zuerst in eine Kinderballettschule, später, mit vierzehn, in eine Elevenklasse eintreten zu können.

Jahre verbargen Mutter und Sohn ihr tänzerisches Geheimnis. Bis die Mutter von der Ernsthaftigkeit der Neigung des Heranwachsenden und dessen Begabung überzeugt war, und sie dem Vater die Wahrheit gestand.

Doch der widersetzte aus vernünftiger Absicht dem Tanz ein entschiedenes ‚Nein‘. Zog die Erziehung der künstlerischen Seele mit nicht widerlegbaren Argumenten an sich. Und erzog so lange an dem fügsamen Knaben herum, bis dieser den Tanz vergessen lernte.

In Wahrheit hatte er den Tanz jedoch niemals vergessen. Und übte und tanzte weiter heimlich bei jeder Gelegenheit. Denn seine Gliedmaßen, sein Gang, doch vor allem seine Seele, trugen den Tänzer in sich.

So wählte er – kaum der väterlichen Erziehung entkommen – zum vernünftigen Berufe des Juristen einen zweiten, ‚unvernünftigen‘ Beruf hinzu.

Da diese zweite Berufswahl, zur Erfüllung eines sehnlichen Wunsches, mit Tanz zu tun haben musste, er aber, um klassischer Tänzer werden zu können, das Alter überschritten hatte, traf er einen Kompromiss:

Er ließ sich zum Tanzlehrer heranwachsender Mädchen und Jungen ausbilden.

Der Ausweg, Tanzlehrer zu werden, der bestenfalls Mittelmaß sein konnte, aber keinesfalls seinem Traum, Tänzer werden zu wollen entsprach, hatte seinen Augen eine leise Trauer verliehen.

Diese Trauer und der ihr innewohnende Ernst waren es, die sie berührten.

Und so verliebte sie sich.

Erst gefiel ihr der Schöne so, wie er auch anderen gefiel. Dann entdeckte sie sein tänzerisches Talent. Die Leichtigkeit, mit der sein Körper über die Tanzfläche flog. Die Sicherheit, mit der er tanzend den Raum ausfüllte. Die Anmut seiner Gesten. Seine Vergessenheit beim Vorführen von Tanzfiguren. Dazu kam, dass er elegant war, aber keineswegs modisch gekleidet.

Die Wahl der Farben, die er trug, wirkte extravagant. Wie nachtdunkles Violett eines Sakkos oder flüchtig schimmerndes Perltaubengrau einer Weste. Schnitt und Stoffe schienen nicht bei noblen Herrenausstattern erstanden zu sein. Erzählten vielmehr von Reisen und erklärten so seine häufige Abwesenheit. Von Reisen in den Vorderen Orient, auf denen er hier eine ausgefallene Krawatte, dort ein Tuch aus schwerer Seide erstand. Kurz, die Kleidung, die er trug, hatte nicht den Anschein, durch bloßen Kauf erworben zu sein.

All dies Ungewisse, Vermutete, Zusammengereimte beflügelte ihre Wissbegier um den, der sie so verliebt gemacht hatte.

Welche Länder er bereist haben mochte, sinnierte sie. Welchen Menschen er dort begegnet sein mag, hätte sie wissen mögen. Von welchen Sitten er erfahren hatte, wollte sie sich von ihm erzählen lassen. Denn alles, was der Schöne erlebt haben mochte, zeugte von fremden Abenteuern. Fremden Genüssen. Seltenen Schönen. Und Düften wie Zimtblüte und gepresstem Jasmin …


Wie sie aussah, die seine Liebe besaß?

Daran wollte sie nicht denken. War aber gewiss, dass es solch eine Liebe gab. Ihre Sinne gaukelten ihr Frauen vor, an deren Schönheit sie niemals heranreichen würde.

Blauschwarz gewelltes Haar besaß eine von ihnen. Bewegte sich sicher auf höchsten Stöckeln. Wusste zu repräsentieren. Besaß Manieren. Konnte auf nichtssagendes Geplauder mit grazilem Geplänkel parieren. Gebildet würde sie sein. Französisch würde sie sprechen.

Eine andere schüttelte herrisch ihre naturrote Mähne. Wusste zu fechten und zu Pferd zu stolzieren. Die Dritte, ach! Es hatte ja keinen Sinn. Diesen Schönen war sie ganz und gar unterlegen. Konkurrenzlos würde sie im Wettstreit um die Zuneigung dieses Mannes versagen. Schlimmer! Nicht einmal zugelassen zum Wettstreit würde sie sein!

Diese Vorstellung machte sie mutlos. Vergraute ihr schönste Sonnentage. Verdarb ihre arglose Heiterkeit. Ließ ihr Lachen in Tränen enden. Bis dieses Lachen seltener wurde. Ihre Kehle verschnürte. Und bald völlig zerbrach.

Sie war jung. Ein Gänseblümchen im Vergleich zu diesen mondänen Geschöpfen. Unbedeutend, verglichen mit diesen Schönen. Niemals würde sie auch nur einen Hauch von Anerkennung von diesem Manne erringen. Dazu kam seine Bildung, die unüberwindliche Gräben zwischen dem geliebten Wesen und der Verliebten auftun würde.

Seine fremdsprachigen Töne sog die Verliebte in ihr gefühlvolles Herz, wenn er spanische oder französische Worte anklingen ließ. Wenn er von andalusischem Flamenco sprach. Oder die vage Tristesse von französischen Chansons anklingen ließ.

All das war ihr fremd. Berührte aber umso tiefer ihre durstigen Sinne.

Mehr wollte sie wissen, von dem, was ihn begeisterte. Wollte begreifen, was seine Seele im Innersten mit dem Tanz verband.

 

All das steigerte noch ihre romantische Verliebtheit. Rührte eine Saite ihres Wesens. Von der sie nicht wusste, dass sie sie besaß.

Ihre Herkunft war eine andere als die seine gewesen. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden war sie erzogen. Hatte den Sinn für alles Natürliche und Unantastbare der zu schützenden Natur erlernt.

Der Vater war Forstmann gewesen. Und hatte darum seinen Kindern Namen gegeben, die der Natur entlehnt waren:

Flora wurde das Mädchen getauft. Horst und Sylvester die Söhne.

Indes hatte sich Flora immer noch sehnsüchtiger in Leander Wolffeck – so hieß der Schöne – verliebt, ohne dass der Geliebte darum eine Ahnung besaß. Rätselte darüber, wie sie ihm auffallen könnte, ohne auffällig zu werden. Was sie tun müsse, um anziehend zu scheinen. Um unter denen, die ihm gefallen mochten, die Besondere zu sein. Wie ihre Schwärmerei endlich Erfüllung fände.

Sann darüber, was sie ihm vorgaukeln müsse, um schöner zu wirken als sie in Wahrheit war. Wollte ihn andererseits nicht mit falschem Schein betrügen.

Hatte doch aber gelesen, dass Männer verführt – gewissermaßen dennoch betrogen sein wollten – und wusste nicht weiter. Verfiel deshalb auf die Idee, sie brauche ja nur, um den Künstler in ihm zu begeistern, zu behaupten, dass aller Regen, statt von oben herab, von der Erde in den Himmel hinauftröpfeln würde! Ihn glauben machen, dass jeder einzelne Tropfen aus geweintem Gold der Sonne bestand!

Doch Leander Wolffeck ahnte nichts von Floras Gedanken. Und behandelte die eine wie die andere Tanzschülerin mit gleicher Zuvorkommenheit.

Erklärte geduldig die Schrittfolge, die manch einer schwer erklärlich erschien. Ließ niemals Vorlieben erkennen. Nur der Tanz war es, dem er erlag. In dem er versank. Dem seine Liebe galt.

Wenn er die Stimmung beschwor, die ein Tanz ausdrücken sollte, er sie mit Gesten und Schritten vollführte und sich dabei leidenschaftlich verlor, weckte dies bei Flora immer von Neuem die Hoffnung, er möge diese Leidenschaft auch der schenken, die doch so verliebt in ihn war.

Aber vergebens.

Nach Monaten hoffnungsloser Qual fasste die Verliebte einen Entschluss:

Sie wollte dem Wesen nahe sein, für das sie so tief empfand. Mit ihm etwas gemeinsam haben. Ein Geheimnis mit ihm teilen. Ein Geheimnis, von dem selbst der Geliebte nicht wissen durfte, mit wem er es teilte. So geheim sollte es sein. Ein Geheimnis, das rätselhaft bleiben sollte:

Sie würde ihm namenlos schreiben.

Ihr unruhiges Herz würde dann ruhiger. Die Trostlosigkeit, die auf ihr lastete, würde verfliegen, hoffte sie. Heiter würde sie wieder. Lachen wie früher könnte sie bald. Ihre trüben Tränen würden zu hellen Tränen des Glücks.

Und wenn er erst erfuhr, dass eine verliebt in ihn war, würde ihn das vielleicht sogar glücklich machen! Die verhaltene Trauer, die seinem Blick den Ernst verlieh, von ihm nehmen!

Doch vor allem: Wenn er ihr Antwort schrieb! Dann wäre sie genesen!

Dann hätte sie etwas Greifbares von ihm. Etwas, das sie berühren könnte. Küssen könnte. An ihr Herz drücken würde. Dann wäre sie mit ihm eins und zufrieden.

Aber zuvor sollte Dorothee Leander Wolffeck beim Tanz kennenlernen. Sollte mitfühlen. Begreifen. Überzeugt werden, weshalb Flora verliebt sein musste! Weshalb es keinen Ausweg aus ihren Gefühlen geben konnte!

Dorothee lehnte ab.

Das sei zu durchsichtig! Zu leicht zu entlarven! Wenn sie mitten in einen Tanzkursus eine Freundin mitbringen würde! Möglicherweise hatte sich Flora bereits auffällig benommen. Er würde Fragen stellen. Und sie hätten keine Antwort parat. Am Ende würde eine von beiden verlegen oder – noch schlimmer – erröten. Dann könnte sie niemals mehr in geheimen Briefwechsel mit ihm treten.

Flora ließ sich überzeugen. Gab aber nicht nach.

Dorothee musste diesen Mann kennenlernen.

Noch bevor Flora ihm schrieb. So trafen sie die Entscheidung:

Dorothee solle die Tanzschule, in der der Umschwärmte an Sonnabenden agierte, besuchen.

Allein.

Das sei unverfänglich. Da an Sonnabenden Tanztees arrangiert würden, die, wenn man einen Gutschein besaß, für jedermann zugänglich waren.

Flora besaß diese Gutscheine zu Hauf, da sie in der Tanzschule, in der der Geliebte unterrichtete, mehrere Grundkurse und nun auch – weil die Anziehungskraft dieses Mannes sie nicht loslassen wollte – mehrere fortgeschrittene Kurse besucht hatte. Dorothee brauche nur zu sagen, man habe ihr einen Gutschein geschenkt. Das genüge.

Damit Flora und Dorothee nicht über ihn tuscheln konnten und am Ende ertappt würden. Damit sie keine bedeutsamen Blicke tauschen konnten, die er entlarven würde. Damit sie sich nichts verräterisch zuraunen konnten, kamen sie endgültig überein: Dorothee solle ohne Floras Begleitung zu einem dieser Tanztees gehen.

Dann wäre sie frei. Könnte unbeschwert etwas, das mit Tanz zu tun hatte, erfragen. Den Tanzlehrer in der Pause in ein Gespräch verwickeln.

„Das wird dir doch gelingen! Denn du bist ja nicht in ihn verliebt!“

„Du bist aber ganz schön mutig für mich! Na ja, das werde ich schon irgendwie hinkriegen! Aber du weißt doch, dass ich nicht tanzen kann! Dass ich Schrittfolgen nicht umsetzen kann! Dass ich kein räumliches Gedächtnis besitze! Wie einer, der Buchstaben nicht eindeutig zu deuten weiß, kann ich Tanzschritte in meinem Kopf einfach nicht behalten!“

„Dann lässt du dich eben führen! Stell dich doch nicht so an!“

„Aber das ist ja noch schlimmer! Das kann ich erst recht nicht! Und außerdem kann ich nicht ausstehen, wenn mich ein Mann führt! Dann habe ich immer das Gefühl, dass ich mich ihm unterwerfe! Muss ausgerechnet ich diesen Mann kennenlernen?“, diskutierten endlos die beiden.

Über Wochen bat Flora Dorothee, ihrem Drängen nachzugeben.

Dorothee sollte es sein. Keiner anderen wollte sie ihr Geheimnis anvertrauen. Unter Seufzen gab Dorothee endlich nach.

Schweren Herzens wollte sie nun das Versprechen halten, Leander Wolffeck gewissermaßen unter die Lupe zu nehmen. Prüfen, ob er für Floras Gefühle taugte. Was nicht eigentlich Floras Absicht gewesen war. Die nur auf die Bestätigung hoffte, dass sie gar nicht anders könne als verliebt in Leander Wolffeck zu sein. Da er doch so hinreißend schön und betörend sei.

Sie würde also hingehen, versicherte Dorothee. Allein. Zum Tanztee in die Tanzschule. Die höheren Töchtern vorbehalten war.

Aber es würde ihr unbehaglich zu Mute sein. Unaufrichtig würde sie sich vorkommen, als sei sie eine Spionin. Nicht der Wunsch Floras, etwas über das ‚Objekt‘ ihrer Liebe zu erfahren, mehr über den Schönen zu erkunden, war es, der Dorothee Unbehagen verursachte. Die Unaufrichtigkeit, die vorgetäuschten Umstände, unter denen sie dem Schönen begegnen würde, belasteten sie.

Diesen Mann einzuschätzen, das würde sie sich zutrauen. Schließlich lernte sie in ‚Besinnungsaufsätzen‘ ein Thema erschöpfend zu behandeln. Von allen Seiten zu betrachten, mit Argumenten und Gegenargumenten zu agieren. So würde sie auch bei diesem Mann vorgehen.

Sie würde vorgehen, als lautete ein Schulaufsatz: ‚Beurteilen Sie einen Fremden! Sie hatten zuvor die Möglichkeit, sich mit ihm eine Viertelstunde zu unterhalten! Nennen Sie die Beweggründe, die Sie zu Ihrer Beurteilung brachten!‘

Doch gleichzeitig sollte sie mit ihm tanzen und vorgeben, dass ihr dies ein Vergnügen sei. Auch das war Lügerei und obendrein leicht zu entlarven. Dorothee hatte dennoch verstanden. Sie musste sich für die Freundin überwinden. Musste ihr Versprechen einlösen. War es doch für Flora eine Herzensangelegenheit.

Endlich fand Dorothee die Lösung:

Sie würde diesen Gang als eine unangenehme Arbeit auffassen, die es zu erledigen galt. Der man sich nicht entziehen konnte. Wie eine Klassenarbeit in Mathematik. Und bei aller Minderbegabung für den Tanz wollte sie ihre Arbeit zumindest leidlich verrichten: Schlechtestens mit Note Vier.

So bat sie Flora, die eine gute Tänzerin war, ihr grundlegende Tanzschritte beizubringen wie die des langsamen Walzers, des herrischen Tangos oder des flippigen Charlestons. Schritte, die Dorothee vergebens geübt, aber niemals erfasst hatte.

„So geht das doch nicht! Du tanzt ja wie ein bockiges Kind! Hat das etwa psychische Gründe?“, lästerte Flora. „Natürlich musst du nach oben sehen! Aber doch nicht gleich bis in den Himmel! Bleibe vor allem entspannt! Schließlich ist Tanzen doch ein Vergnügen!“

„Aber für mich ist es jetzt Pflicht! Und ich habe dir ja hundert Mal gesagt! Ich begreife die Schrittfolgen nicht! Ich bin eben irgendwie unbegabt!“

Dorothee wollte dennoch nicht auf sich sitzen lassen, was ihr selbst unbegreiflich war. Dass sie nicht einmal verstand, was jedes andere Mädchen sofort verstand: Sich beim Tanz unterzuordnen. Sich führen zu lassen.

„Stell dir vor, was er von dir denkt, wenn er feststellt, dass du eine dumme Gans zur Freundin hast! Dabei irrt er sich! In Wahrheit bin ich zu intelligent! Ob er das mitkriegt? Aber deswegen gehe ich ja hin! Um ihn zu testen!

Du weißt doch, dass die Narren früher bei Hofe nur verrückt oder gar dumm schienen, es aber nicht waren. Ähnlich ist es auch bei mir!“, rechtfertigte sich Dorothee.

Flora, die fraglos die Vernünftigere war, hatte nun ganz gegen ihre Gewohnheit – ihrer heillosen Liebe wegen – eine verrückte, wie die Bayern sagen würden, ‚schbinnade‘ Idee:

„Du musst dich, wenn wir üben, kleiden, als gingest du zu einem Ball! Und dann probieren wir weiter!“ Dorothee zog hochhackige Schuhe an. Tat Schritte, die sie nie tun durfte:

Zu enge. Zu weite. Vergaß zu drehen. Verlor den Rhythmus. Zählte die Takte. Sah zu Boden. Verhedderte sich.

„Das gibt es einfach nicht! Du stellst dich wirklich unbegreiflich an! Oder tust du nur so? Weil du nicht hingehen willst?“

„Nein, ich schwöre, ich bin wirklich minderbegabt! Aber es ist nur eine Art Mangel, an dem ich leide! Ich spiele keine Komödie! Das musst du mir glauben!“

Flora gab nicht nach.

„Du musst ein langes Kleid zu den hohen Stöckeln tragen! Sonst wirkt das nicht! Und du kommst nicht in Stimmung!“

Und sie tanzten. Und tanzten … Und immer noch tanzte Dorothee falsch.

„Du musst dir die Haare hochstecken!“, riet Flora verzweifelt. „Du bist immer noch nicht richtig in Laune! Du musst dich schminken, um dir das Gefühl zu vermitteln, du seist auf einem Ball!“, drang sie auf Dorothee ein.

Dorothee blieb hölzern trotz der schönen Frisur. Ihre Beine störrisch. Sie passten nicht zueinander. Stolperten über Dinge, die es nicht gab.

Flora gab dennoch nicht auf.

„Aber kennenlernen musst du ihn! Egal wie schlecht du tanzt!“

Nun hatte Dorothee eine Idee:

„Es funktioniert nicht. Weil du kein Mann bist!“

„Das ist doch Unsinn!“

„Egal! Probieren wir es!“

„Was gibt es denn da zu probieren? Sollen wir etwa einen Mann einladen, der dann alles herumerzählt?“

„Nein! Du kleidest dich einfach wie ein Mann!“

„Du spinnst!“

„Nein! Tu‘ ich nicht! Aber erst trinken wir ein Glas Sekt! Deine Eltern sind ja nicht da! Dann können wir allen Unsinn der Welt veranstalten! Du willst doch, dass ich deinen Leander kennenlerne! Also, stell du dich jetzt nicht so an! Zieh Männerhosen an!“, befahl Dorothee.

Trotz allem sollte Flora hochhackige Schuhe tragen, damit sie als Mann nicht zu klein erschien.

„Wenn du kleiner bist als ich, kann ich dich nicht ernst nehmen! Wie soll ich jemand ernst nehmen, über den ich hinwegsehen kann! Und fang bloß nicht an, mich zu führen! Sonst muss ich immer an – na du weißt schon an wen – denken!“

„Du bist aber ganz schön schräg drauf!“, begehrte Flora auf.

„Na, du bist doch die Komplizierte! Bist verliebt und wagst es nicht zu zeigen! Außerdem siehst du ja immer noch wie Flora aus! Ich will, dass du dir einen Lippenbart anklebst!“

Beide kreischten.

Nach dem zweiten Glas Sekt dachten sie nicht mehr an den Schönen, der doch niemals Interesse an der unglücklich Verliebten fände.

Mit dem Tanz zu zweien hatte es nicht geklappt.

Doch sie gaben noch immer nicht auf.

Diesmal kam Flora verändert aus dem Bad. Sie glich einem ungünstig aussehenden Mann, der einem gutaussehenden gleichen wollte. Was ihr auch gelang.

 

Hatte die Haare mit glitschigem Gel aus der Stirn geklebt. Trug Hose und Hemd ihres Vaters. Hosenträger aus Gummizügen hielten den Bund lasch im Zaum. Der schüttere Bart eines gewesenen Faschings saß dünnlich über ihrer oberen Lippe. Dazu trug sie eine männliche Brille. Aus tierischem Horn.

„Brav!“, bemerkte Dorothee, die im Tanz unbegabt war und ihre Schwäche wieder wettmachen wollte. „Wie kannst du dich bloß in so einen schmalzigen Typen verlieben!“

„Aber so sieht er doch nicht aus!“

„Wer weiß? ‚Ach, Mäusezahn!‘“, neckte Dorothee sie. Oder ihn? Und sie tanzten etwas, was es nicht gab.

Flora als Primoballerino. Dorothee als Tanzgespielin.

So flogen sie einzeln in Pirouetten, weil es gemeinsam nicht klappte. Tanzte eine jede mit launigen Schritten. Tanzten sie ausgelassene Heiterkeit. Begegneten sie sich lose in offenen Kreisen. Und imitierten bald in getrenntem ‚Pas de deux‘ Einfühlsamkeit.

Der Tanz wurde langsam, dann innig. Zeigte wehmütige Verliebtheit in graziösen Schritten. Den Blick an den fernen Geliebten gerichtet, schwangen vier Arme wie Hälse von Schwänen. Mädchenbeine ertanzten das Sehnen und Schwärmen um vergebliche Liebe. Und bargen in ihrem Tanz doch die Hoffnung, dass sie erfüllt werden möge. Und nicht in Vergeblichkeit ende …

So vergaßen die Tänzerinnen alles tänzerische Geplänkel. Aus dem getanzten Geplänkel war Ernst geworden. Schwermut, die in schleppenden Schritten ausgedrückt war. Bis der Durst mit einem weiteren Glas Sekt die Stimmung wieder aufhellen sollte.

Sie tranken hastig. Doch die Stimmung blieb ernst. Dorothee fand als Erste aus der Ernsthaftigkeit heraus:

„Sie gefallen meiner Freundin Flora wirklich ganz außerordentlich! Wissen Sie das nicht, Sie süßer Knabe?“, und zupfte sein schräges Bärtchen zurecht. „Aber eigentlich, wenn ich es recht bedenke, finde ich Sie auch richtig niedlich! Darf ich Sie wirklich ‚Mäusezahn‘ nennen? Und wenn Sie, ‚Mäusezahn‘, uns beide lieb hätten, dann hätten wir Sie auch beide lieb!“, flötete Dorothee in Floras rechtes rosiges Ohr. „Denn, das werden Sie zugeben müssen, in Wahrheit sind Sie zu schade nur für eine allein …!“

„Oh, das wird aber heikel! Dazu brauche ich Bedenkzeit! Sie verwirren mein schlichtes Gemüt! Denn als Jurist muss ich mir die Sache erst vom ‚Bürgerlichen Gesetzbuch‘ her überlegen! Vielleicht brauche ich dazu auch noch den ‚Code Napoléon‘! L’amour! L’amour! Wer weiß, was da alles verboten ist!“, hüstelte Dorothee geziert, jetzt selbst den Tanzlehrer gebend. Und hielt ungewollt, nach weiterem Zupfen, dessen schütteren Bart in der Hand.

„Dann wird es ja wohl nichts mit uns Dreien! Denn wir suchen einen Mann mit klaren Entscheidungen! Verstehen Sie? Einen Mann! Einen richtigen Mann! So einen, den schon Marlene Dietrich beschwor: ‚Kinder, die Jungs häng‘n mir schon zum Halse raus! Einen Mann! Einen richtigen Mann!‘“

„Ach, wissen Sie, mein Fräulein! Wenn ich mir ‘s so recht überlege! Für Ihr Ansinnen bin ich denn doch zu unschuldig!“, gab Dorothee gestelzt den Tanzlehrer weiter.

„Sie und unschuldig! Nicht mal Ihr Bart ist ja echt! So wird es natürlich nichts mit uns Dreien! Wir sind nämlich echt verdorben! Wenn Sie verstehen, was wir meinen! Wir haben da gewisse Erwartungen …“, verschleierte Dorothee ihr Ansinnen mit verruchtem Blick. Und bis der Sekt in ihren Köpfen verflogen war, tanzten sie weiter nach erfundener Choreografie …

Flora hatte eingesehen, dass es hoffnungslos war, Dorothee zum Tanzabend schicken zu wollen. Entband sie aber dennoch nicht von ihrem Wunsch: „Ich will unbedingt, dass du diesen Mann kennenlernst! Ich muss wissen, wie du ihn findest! Ob ich mich in ein Trugbild verrannt habe, oder du nachfühlen kannst, wieso er mich so verliebt machen konnte! Meine Gedanken ständig um ihn kreisen! Ich immerzu an alles denke, was ich von ihm weiß. Ich mich in Gedanken mit ihm unterhalte! Obwohl, muss ich zugeben, ohne dass er sich je ein einziges Mal um mich bemüht hätte! Ohne dass ich ihm auch nur ein einziges Mal aufgefallen wäre! Ich glaube sogar, er weiß gar nicht, dass es mich gibt.“

„Wir werden uns eben irgendetwas anderes einfallen lassen müssen!“, tröstete Dorothee die hoffnungslose Verliebte.


Es war Sonnabend, später Nachmittag. Dorothee ging allein zur Tanzschule.

Klangvoll trug sie den Namen ihres Besitzers.

Möglicherweise schmeichelte der italienische Name aber nur der Eitelkeit dieses Besitzers, der in Wahrheit, vermutete man, ein echter Deutscher sein sollte. Aber gern nach dem Süden hin schielte. Hinterrücks mochte er Adalbert Stumpf oder auch Degenhart Jagdbein geheißen haben, was sich schlecht mit dem Tanz verband. Was ihn begreiflicherweise eine andere Wahl hatte treffen lassen.

Und obwohl er in seinem Innersten dem leichtfüßigen Italiener – ‚grazie, mille grazie‘ – misstraute, hatte er für seine Tanzschule einen italienischen Namen gewählt.

Die Tanzschule war in den Räumen eines einstöckigen Gebäudes untergebracht und lag in einer unauffälligen Gasse. Unmerklich zweigte sie von der Maximilianstraße ab, einer der eindrucksvollsten Straßen der Stadt. Eine Schrittlänge vom renommiertesten Hotel entfernt, dem ‚Vier Jahreszeiten‘.

Die Werbung auf dem Türschild ließ keinen Zweifel: Hier verkehrten Menschen einer höheren Bürgerschicht. Was ganz natürlich anmutete. Da doch eines der kostspieligsten Hotels nur einen Katzensprung um die Ecke lag. Auch zur Staatsoper waren es kaum fünf Minuten zu gehen. Und wenn der Wind günstig, das heißt, um die Ecke blies, kamen Gesangfetzen der probierenden Tenöre bis in die Tanzschule geflogen.

Die Wortwahl auf seinem Türschilde hatte der namentlich zum Italiener gewandelte Besitzer selbst kreiert. Damit Sippe und Anhang oberschichtiger Töchter einordnen konnten, um welch Etablissement es sich handelte.

‚Etablissement‘, bedeutete der Besitzer, sei hier französisch zu verstehen! Also mit ‚Institut‘ zu übersetzen! Und habe nichts, aber auch gar nichts, mit dem vulgär anmutenden ‚Etablissement, wie man es im Deutschen verstehe, gemein! Deshalb schreibe er dieses in Gedanken mit ‚Accent aigu‘!

„Universitäts-Tanzschule Dr. h. c. Giorgio Biasari da Venezia“ stand in goldenen Lettern geschrieben. Und war die einzige Tanzschule der Stadt, die solch verwegenen Titel führte.

So mussten Töchter, die auf Gesellschaftliches hielten, in diesem Etablissement das Tanzen erlernen. Kein anderes konnte gleichwertig sein. Adalbert Stumpf oder auch Degenhart Jagdbein, von Natur mit kleinwüchsiger – eher süditalienischer – Statur versehen, war redegewandt. Charmant und galant, wenn er mit Damen parlierte. Er war es, der die ‚Münchner Française‘ populär machte, den Tanz, der aus den französischen Kontratänzen des 18. Jahrhunderts entstanden war.

Seiner ergrauten Locken wegen schien er der geborene Künstler zu sein. Überzeugend gab er auch den italienischen ‚Conte. Besonders da er nicht auf den Fehler verfiel – obwohl in die besten Jahre gekommen – diese Locken von einem ‚Figaro hier, Figaro da‘ nachschwärzen zu lassen.

Zu seinem künstlerischen Anschein gesellte sich daher Distinguiertheit hinzu. Mit einer ‚Contessa‘ schmückte sich Giorgio Biasari da Venezia nie.

Nicht nur, da er keine besaß. Denn diese hätte womöglich – zwar wusste man es nicht wirklich zu sagen – aus dem eleganten Pfauen einen einfachen Häher gemacht.

Da der scheinbare ‚Conte‘ bei der Anrede einer Gattin – der höheren Mutter einer höheren Tochter – den Titel ihres Gatten einfließen ließ, ja sie sogar mit dessen Titel benannte, war er bei diesen Damen beliebt.

Nur beschlich Giorgio Biasari da Venezia, somit Adalbert Stumpf alias Degenhart Jagdbein, bisweilen das ungute Gefühl, ob er seinen Namen richtig gewählt haben mochte. Genauer gesagt, ob das Adelsprädikat korrekt gewählt worden war.

Denn unsicher machte es ihn, ob ‚da‘ Venezia möglicherweise nur ‚aus‘ Venedig besagte, etwa wie bei Leonardo ‚da‘ Vinci. Was lediglich die Herkunft aus einem Orte beschrieb. Oder aber, ob es dem deutschen ‚von‘ gleichkäme. Der Zugehörigkeit zu einer gehobenen Schicht. Ob er sich schließlich geadelt hatte oder fälschlicherweise doch eben nicht. Zu seinem Leidwesen sprach da Venezia kein Italienisch. Was er damit erklärte, dass seine Eltern bereits vor seiner Geburt emigriert seien. Doch seine Statur, sein immerwährendes ‚Parlando‘ – wie er seine Spracheigentümlichkeit nannte und die Gabe, um Nichts gewählte Worte zu machen – machten glaubhaft, dass italienisches Blut es sein musste, das durch seine deutschen Adern jagte.

Zu seinem weiteren Leidwesen konnte da Venezia, was den fraglichen Adelsstand seines Namens anging, keinen echten Italiener befragen. Denn dieser hätte zu recht zurückfragen können, dass da Venezia doch schließlich wissen müsse, ob er von Adel sei oder nicht. Ob er von Erbadel, Landadel oder gar Hofadel sei. Oder lediglich dem niederen Adel oder dem noch niederen Beamtenadel entstamme.