Mein Leben mit den Eagles

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VIER

Bernie war irgendwie anders. Er stammte von der Westküste – aus San Diego in Kalifornien, um genau zu sein – und hatte diese coole, verschmockte Art an sich. Mit seinem unglaublich lockigen, sandblonden Haar und seinen mit Flicken übersäten Schlaghosen sah er aus, als wäre er eben erst von einem Surfbrett gestiegen. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, war ich gerade mit dem Greyhoundbus aus Palatka zurückgekehrt. Ich trug mein Hemd zuge­knöpft und hatte das Haar sauber gescheitelt, weil ich von einem Auftritt in einem Frauenklub irgendwo in der Sumpfebene Ostfloridas kam. Ich war noch keine sechzehn Jahre alt.

„Bist du Don?“, fragte er und schlenderte auf mich zu. „Don Felder?“

„Ja“, entgegnete ich ein wenig unsicher und hielt meinen Gitarrenkof-fer fest.

„Ich bin Bernie Leadon“, sagte er mit einem Lächeln, das sein ganzes Gesicht erhellte. „Deine Mutter sagte, ich könne dich hier treffen. Soll ich dich ein Stück mitnehmen?“

Er deutete auf einen brandneuen hellblauen Ford Falcon, Baujahr 1963.

Mit offenem Mund nickte ich.

„Ich bin neu in der Stadt“, sagte er, als wir abfuhren. Als ich mich umsah, bemerkte ich eine Akustikgitarre von Martin auf dem Rücksitz. „Ich bin in das Musikgeschäft gegangen und habe nach dem Namen des besten Gitarristen in Gainesville gefragt. Ein Typ namens Buster hat dich genannt. Ich ging zu dir nach Hause, aber deine Mama sagte, du wärst gerade auf dem Rückweg von einem Gig. Und jetzt habe ich dich gefunden.“ Wieder dieses Grinsen.

„Ah, okay“, sagte ich.

„Ich würde gern eine neue Band zusammenstellen und dachte, vielleicht könnten wir beide ein bisschen miteinander jammen“, fuhr er fort, während ich schweigend neben ihm saß. „Was spielst du denn?“

„Fender Stratocaster“, entgegnete ich stolz.

„Sonst noch was?“, fragte er.

Ich war verdutzt. „Nein … eigentlich nicht. Ein bisschen Schlagzeug. Wie steht’s mit dir?“

„Akustische, Banjo, Mandoline, Bluegrass-Gitarre mit flacher Decke, lau­ter solche Sachen eben.“

Als wir im Haus meiner Eltern angekommen waren, vergaß ich alle Gedanken daran, dass mir vielleicht etwas peinlich sein könnte, und führte Bernie hinauf in mein Zimmer. Ich sah ihm zu, wie er seine Gitarre aus dem Koffer nahm. Ich besaß nicht einmal eine akustische Gitarre. Ich dachte, ich wäre über dieses Stadium irgendwie hinausgewachsen. Was man nicht ein­stecken und laut aufdrehen konnte, interessierte mich nicht. Außerdem spielte B. B. King ja bekanntlich auch nicht auf einer Akustischen. An jenem Nachmittag jedoch war ich von Bernies unglaublichem Flat-Picking-Stil schwer beeindruckt. Ich war verblüfft, dass jemand in seinem Alter bereits derart virtuos spielte.

Fast schüchtern zog ich meine Fender hervor und spielte für ihn, so gut ich konnte. Ich glaube, ich kleisterte ein Medley aus Chet Atkins, Elvis und ein paar Ventures-Hits zusammen.

„Wow, Mensch, das ist klasse“, sagte er und grinste bis über beide Ohren, weil es ihm tatsächlich gefallen hatte. „Buster hatte recht. Du bist gut, wirk­lich gut.“

Die Woche darauf gingen wir zusammen zu Lipham Music und bestellten zwei neue Gitarren – eine elektrische Gretsch für ihn und eine akustische für mich. Wir hatten vor, uns gegenseitig alles beizubringen, was wir konnten. In den nächsten Monaten lernte ich durch ihn die feineren Nuancen der Country-und-Western-Musik kennen, ich wiederum brachte ihm den Rock ’n’ Roll bei. Es dauerte nicht lange, da schrieben wir gemeinsam Songs, und ich wusste, dass sich mir nun ganz neue Möglichkeiten eröffnet hatten. Dass ich Bernie begegnete, war einer der großen Glücksfälle in meinem Leben.

Bernies Vater war ein Atomphysiker, der aus San Diego nach Florida ver­setzt worden war. Er sollte an der Universität von Florida eines der größten Nuklearforschungszentren aufbauen. Bernie war das älteste von zehn Kin­dern. Einer seiner jüngeren Brüder, Tom, spielte ebenfalls Gitarre und landete schließlich in Tommy Pettys neuer Band Mudcrutch, die bei den Verbindungs­partys fast so beliebt war wie wir. Jedes Mal, wenn ich Bernie besuchte, schien er ein neues Brüderchen bekommen zu haben oder eines unterwegs zu sein. Doch das schien keine Rolle zu spielen, war ihr Haus doch viermal so groß wie unseres, mit Klimaanlage und allen modernen Annehmlichkeiten.

Bernie hatte in San Diego bereits in verschiedenen Bluegrass-Bands gespielt, darunter bei den Scottsville Squirrel Barkers des Sängers, Songwriters und Mandolinenspielers Chris Hillman, der später bei der Gründung der Byrds und der Flying Burrito Brothers mit dabei war. Die Squirrel Barkers hatten sogar ein Album veröffentlicht. Neben den Fähigkeiten, von denen ich bereits wusste, konnte Bernie auch noch ganz hervorragend auf dem fünfsai­tigen Banjo spielen. Sogar Earl Scruggs hätte sich warm anziehen müssen. Er hatte von Kindesbeinen an gespielt und war seit dem Alter von dreizehn Jahren richtig gut. Er kannte alle guten Songs aus den Smoky Mountains, und ehe ich mich’s versah, gründeten wir zusammen eine Bluegrass-Band, in der ich akus­tische Gitarre und er Banjo spielten. Ein Freund, der bei der Fischerei- und Jagdkommission von Florida arbeitete, spielte Mandoline.

Beseelt, wie wir waren, gründeten wir eine zweite Gruppe namens Maundy Quintet, die musikalisch mehr in meine Richtung ging. Wir fanden einen Sän­ger namens Tom Laughon, Sohn eines örtlichen Pastors, und einen Schlagzeu­ger namens Wayne „Boomer“ Hough. Auf den Namen Maundy Quintet kamen wir, weil er so englisch klang. Damals war alles, was irgendwie britisch wirkte, chic – besonders die Beatles. Boomers Mutter kaufte ihm einen alten Liefer­wagen, damit wir zu den Auftritten fahren konnten. Auf der Seitenfläche stand geschrieben: „Wir spielen bei Nähkränzchen, auf Beerdigungen und wilden Partys.“ Es war dasselbe Motto wie auf unseren Visitenkarten. Wir hielten uns für ungeheuer cool.

Als das Maundy Quintet bekannter wurde, wurden wir öfter und regel­mäßiger gebucht. Ich konnte für einen Auftritt freitags oder samstags bei einer Verbindungsparty oder einem Schulball eine Gage von zweihundert Dollar aushandeln, was wahrscheinlich mehr war, als mein Vater in der Woche verdiente. Es hätte ihn sehr verletzt, wenn er es erfahren hätte, oder er hätte das Ganze als Eintagsfliege abgetan. Jedenfalls war ich ganz gut im Geschäft – was sollte ich auch sonst tun? Mir einen Job bei Koppers besorgen? Das kam gar nicht infrage.

Bei den Verbindungspartys ging es wild zu. Es war genauso wie in dem Film Ich glaub, mich tritt ein Pferd: Alle waren betrunken und rasteten völlig aus. In beängstigenden Mengen wurden hochprozentige, beinahe lebensgefährliche Cocktails gekippt und immer gewagtere Mischungen ersonnen. Mein Bruder hatte kurzzeitig einer Verbindung angehört, war aber wieder ausgetreten, weil es ihm einfach zu verrückt war. Diese Jungs wussten, wie man eine Party schmiss, und wir waren mehr als glücklich, die Hintergrundmusik zu ihrem Wahnsinn beizusteuern. Ich persönlich machte mir nie allzu viel aus Alkohol. Wenn ich trank, war Dosenbier das Gift meiner Wahl. Einmal war ich auf einer Party, bei der alle Gin tranken, und ich probierte es, aber es schmeckte wie Aftershave. Ich entschuldigte mich und ging hinaus, wo ich gewaltig kotzte.

Mein erster Versuch, Gras zu rauchen, verlief ähnlich. Ich wusste gar nichts über Marihuana, aber jemand nahm mich mit zu einem Typen, der sein eigenes Gras anbaute. Damals konnte man für fünf Dollar eine Viertelunze (etwa sie­ben Gramm) kaufen – daher der Ausdruck „Nickel Bag“ (Fünfertüte).

„Was ist denn das?“, fragte ich, als ich den Haufen Grünzeug auf seinem Küchentisch erblickte.

„Versuch was davon“, sagte mein Freund grinsend und reichte mir meinen ersten Joint. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so lange und so laut gelacht. Als das Lachen endlich verebbte und mir die Rippen wehtaten, bekam ich plötzlich schrecklichen Hunger. Der Dealer holte ein Glas Erdnussbutter, und wir nahmen jeder einen Löffel davon, aber als es uns am Gaumen kleben blieb, mussten wir nur noch lauter lachen und spuckten Teile der Erdnussbut­ter durch die ganze Küche. Danach hörten wir Musik, und alles klang fantas­tisch. „Mein Gott, diese Typen sind ja Genies, absolut brillant“, dachte ich, obwohl es etwas völlig Gängiges wie das Kingston Trio war.

Als der Spaß jedoch vorbei war und ich wieder zu mir kam, wurde ich paranoid. Damals gab es eine ganze Menge Propaganda gegen Drogenmiss­brauch, insbesondere in einer Universitätsstadt voller Jugendlicher. Die Anzei­gen besagten, dass Marihuana automatisch zum Heroin führte und dass einem Haare auf den Handflächen wuchsen, man erblindete und starb. Hätte mein Vater gewusst, was ich da trieb, hätte er mich totgeschlagen. Wenn nicht, hätte mich mein Bruder, der Jurastudent, mit Freuden angezeigt. Also übertrieb ich es nicht mit den Drogen, weil ich nicht wollte, dass sie mein Gehirn in Brei verwandelten, und weil ich den Zorn meiner Familie fürchtete.

In jenem Sommer gelang es uns, ein paar Auftritte in Daytona Beach und Fort Lauderdale an Land zu ziehen, was uns sehr erwachsen erschien. Wäh­rend der Hochsaison gab es in Daytona Dutzende von Auftrittsmöglichkeiten für Musiker. Für Bargeld waren wir bereit, alles zu tun, ob nun mit dem Maudy Quintet oder in anderen Besetzungen. Ich spielte Sologitarre in Hausbands wie Tommy Roe And The Romans sowie in einer Gruppe auf dem Pier, die einen Gastsänger namens Rufus Thomas begleitete, der sich selbst „ältester Teenager der Welt“ nannte und damals gerade einen großen Hit mit „Walking The Dog“ hatte.

1964 waren die Beatles auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. „I Want To Hold Your Hand“ führte die Hitparaden an. In New York wurde den Fab Four ein hysterischer Empfang bereitet, und nachdem sie in der Ed Sullivan Show auf­getreten waren, eroberten sie Amerika im Sturm. Aussehen und Sound des Maundy Quintet blieben weiterhin sehr englisch. Hauptsächlich gaben wir Coverversionen von Popsongs wie „Louie Louie“ von den Kingsmen, alte Soul-Instrumentals wie „Green Onions“ oder die neuesten Hits von John, Paul, George und Ringo zum Besten. In jedem Set spielten wir immer mindestens eine unserer eigenen Nummern, die das Publikum dann erdulden musste.

 

Wir knüpften viele neue Freundschaften, hauptsächlich mit anderen Musikern, die in Bands wie The Nightcrawlers oder The Houserockers eben­falls auf dem Boulevard spielten. Unter unseren neuen Kumpels befanden sich zwei Brüder namens Duane und Gregg Allman, die ungefähr gleich alt waren wie wir und mit ihrer Mutter von Nashville nach Daytona gezogen waren. Duane war ein unglaublich begabter Leadgitarrist, Gregg hatte eine großartige, gefühlvolle Stimme und spielte Keyboards. Sie hatten eine Superband, zu der auch ein Bassist und ein Schlagzeuger namens Maynard gehörten, dem zwei Vorderzähne fehlten. Ihr langes Haar reichte fast bis zum Gürtel, und Duane hatte große Koteletten, was damals gerade sehr in Mode war. Sie waren echte Hippies und rauchten eine Menge Gras, ebenso wie Bernie. Ich selbst machte mir immer noch nicht besonders viel daraus. Ihre Band hieß anfangs The Spot­lights und später dann, in Anlehnung an eine Süßigkeit, Allman Joys.

Bernie und ich traten häufig in einer Teenagerbar namens The Wedge auf, wo keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Wenn wir fertig waren, gingen wir auf ein paar Bier rüber in die Bar auf dem Pier oder ins Martinique auf der Main Street, wo die Gebrüder Allman bis zwei Uhr in der Früh spielten. An freien Nachmittagen hingen wir im Haus ihrer Mutter herum und rauchten Gras, da unsere einzige Alternative darin bestand, ganz allein in unserem abgewirtschafteten Hotel zu bleiben. Es schien ihr niemals etwas auszumachen, dass das Haus von den Freunden ihrer Söhne bevölkert war. Oft machte sie uns allen sogar Frühstück.

Duane war der erste Typ, den ich je Slidegitarre spielen sah. Ich erinnere mich noch gut, wie er im Wohnzimmer seiner Mutter einen an der Bruchstelle rund geschliffenen Hals einer Budweiser-Flasche an seinen Finger steckte und damit das Griffbrett rauf und runter fuhr. Ich war von seiner Technik ebenso begeistert wie zuvor von Bernies Gitarren- und Banjospiel. Wieder tat sich eine neue Tür für mich auf. Bis zu diesem Zeitpunkt war Bernie der talentierteste Musiker gewesen, den ich kannte. Nun übertraf Duane selbst diesen hohen Maßstab. Er inspirierte mich dazu, selbst Slidegitarre zu spielen, und zeigte mir noch in jenem Sommer die ersten paar Stimmungen. „Schließ deine Augen, und hör nur auf die Musik, Mann“, erklärte mir Duane, als ich meinen eigenen Budweiser-Flaschenhals über die Saiten gleiten ließ. „Du musst sie in deinem Herzen fühlen, und wenn es dir kalt den Rücken runterläuft, dann weißt du, dass alles stimmt.“ Ich wusste, dass man einen besseren Unterricht nicht bekommen konnte, da Duane schlicht und einfach phänomenal war.

Mit meiner musikalischen Reife wuchs auch mein Wunsch nach immer besseren Instrumenten. Ich wusste, dass ich die Möglichkeiten meiner Fender ausgeschöpft hatte, und wollte nun unbedingt eine Gibson. Als bei Lipham’s eine gebrauchte Les Paul eintraf, wusste ich, dass ich sie haben musste. Der Lack hatte Risse, und das Gold war verblasst, aber es war eine wunderschöne Gitarre. Das konnte sogar Mister Lipham sehen.

„Ich werde sie an Gibson zurückschicken und neu lackieren lassen“, sagte er zu mir. „Wenn sie wiederkommt, verkaufe ich sie dir zu einem guten Preis.“

„Gut, wenn diese Gitarre wieder da ist, werde ich sie kaufen“, sagte ich zu ihm. „Ich gebe meine Stratocaster in Zahlung, also stellen Sie sie mir ein­fach in Rechnung, und ich zahle sie dann ab.“ Sie sollte ungefähr zweihun­dertfünfzig Dollar kosten, war also wesentlich teurer als meine bisherigen Instrumente.

In jenem Sommer arbeitete ich in Daytona Beach ziemlich hart, um das Geld zusammenzubringen, und als ich zurückkehrte, fragte ich Mister Lipham, ob die Les Paul bereits wieder eingetroffen sei.

„Jawohl, mein Sohn, sie ist wieder zurückgekommen und sah verdammt gut aus“, sagte er traurig. „Ich nahm sie aus dem Koffer heraus und hängte sie an die Wand. Ein Typ aus New York kam herein und bot mir an Ort und Stelle ein Bündel Scheine dafür. Tut mir leid, Don.“

Ich war ziemlich verärgert, zumal ich so lange gewartet hatte. Mister Lipham strich den Betrag von meinem Konto, doch dann bestellte ich eine neue, rote Gibson 335, die genauso aussah wie die Gitarre, die Chuck Berry spielte.

Chuck war total cool. 1964 hatte er eine Serie von Hits mit Songs wie „Nadine“, „You Never Can Tell“ und „No Particular Place To Go“. Er hatte bereits Musikgeschichte geschrieben, weil er der erste schwarze Musiker war, der für ein weißes Publikum spielte und mit Songs wie „Maybelline“ oder „Johnny B. Goode“ Riesenerfolge feierte. Jeder Gitarrist im Land, der nicht völlig blutleer war, wollte wie Chuck sein.

Es dauerte etwa ein Jahr, bis Gibson diese flache Vollresonanzgitarre gebaut hatte. Ich mochte sie von dem Moment an, in dem sie eintraf. Es waren die am besten investierten dreihundert Dollar, die ich je ausgegeben hatte. Man nimmt eine Gitarre in die Hand, stimmt sie, spielt eine Weile darauf. Wenn sie danach immer noch richtig gestimmt ist, weiß man, dass man eine gute Gitarre erwischt hat. Ganz egal, wie gut der Klang und die Saitenlage sind – wenn es an der Stimmstabilität hapert, taugt die ganze Gitarre nichts. Ich hatte sie gerade erst ein paar Monate, als das Maundy Quintet nach Miami zu einem Vorspielen für einen riesigen neuen Club mit zwei Bühnen namens The World eingeladen wurde. Mit unseren passenden roten Gitarren fuhren wir den gan­zen Weg von Gainesville nach Miami in unserem Lieferwagen. Der Auftritt klappte ziemlich gut, und wir dachten, The World wäre der beste Club, in dem wir jemals gespielt hatten. Als wir jedoch wieder zu Hause waren und unser Equipment ausluden, fehlte meine Gitarre. Jemand musste sie hinten aus dem Lieferwagen gestohlen haben, während wir einluden. Sie war noch nicht ein­mal bezahlt, und ich hatte keine Instrumentenversicherung. Es brach mir das Herz. Schlimmer noch war aber, dass ich nun gar keine Gitarre mehr besaß. Unnötig zu sagen, dass ich wieder zu Lipham’s gehen musste und eine neue Gitarre kaufte, eine Les Paul, die dort an der Wand hing. Nun hatte ich also nicht nur für die gestohlene Gitarre, sondern auch für die neue zu bezahlen.

Mit meinem Leben ging es bergauf, als mir meine Eltern endlich ein Auto kauften. Bis dahin fuhren alle meine Freunde in aufgemotzten Kisten umher, während ich noch auf mein Fahrrad angewiesen war. Papa schenkte mir einen babyblauen Simca Aronde P60, den er offenbar für den perfekten fahrbaren Untersatz für mich hielt. Es war ein altes französisches Auto, und von der Marke hatte ich noch nicht einmal gehört. Er musste mit jemandem in der Arbeit ein Geschäft gemacht und es billig bekommen haben. Es war unge­heuer hässlich und im negativen Sinn ein Blickfang, doch es hatte vier Räder und einen funktionierenden Motor, und schließlich hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen.

Besser noch als das Auto war die Tatsache, dass ich eine neue Freundin hatte, Sue McVeigh, meine erste große Liebe. Sie war sechzehn und im ersten Highschooljahr, und ich war ihr erster richtiger Freund. Meine Beziehung mit Sue fand nach einem Autounfall ein jähes Ende. Wir waren unterwegs nach Georgia, um dort zu heiraten. Ihre Eltern fanden heraus, dass wir vor­hatten durchzubrennen, und verboten ihr den weiteren Umgang mit mir. Trotzdem denke ich, es muss wohl eine göttliche Fügung gewesen sein, denn mit siebzehn war ich noch nicht reif für die Ehe. Irgendjemand wollte mir mitteilen, dass man andere Pläne für mich hatte. Rückblickend muss ich sagen, dass das richtig war.

Für einen Teenager in Florida drehte sich in der Freizeit alles um Musik, Mädchen und die spektakuläre Landschaft, die wir in unserer jugendlichen Borniertheit mehr oder weniger als Selbstverständlichkeit betrachteten. In den Sommern Mitte der Sechziger jedoch hatten wir mehr Spaß als je zuvor, weil wir alle drei Faktoren gleichermaßen auskosteten.

Bernie und ich verdienten mit unseren Bands einigermaßen gut Geld, beinahe genug, dass ich den Simca durch einen Volkswagen Käfer Baujahr 1962 ersetzen konnte. Papa griff mir beim Kauf finanziell etwas unter die Arme, was er für seine Pflicht hielt. Er war immer noch darauf aus, dass ich mich auf die Schule konzentrierte und mir einen richtigen Job suchte, ich hingegen war ganz zufrieden mit mir selbst. Ich arbeitete, hatte ein Auto und ein paar Freun­dinnen. Das Leben war süß.

Ich verbrachte den Großteil meiner Freizeit mit Bernie, Barry Scurran, Tom Laughon oder den Brüdern Rucker. Oft übernachtete ich auch bei ihnen, wenn Papa und ich wieder einmal heftig miteinander stritten. In Gainesville war jedoch nicht allzu viel los, also fuhren wir, wann immer es unsere Zeit erlaubte, für einen Tapetenwechsel raus zum See. Dort besaßen einige der wohlhabenderen Familien in unserem Freundeskreis einen Zweitwohnsitz. Toms Vater hatte ein Boot und ein Haus, und der Vater eines Jungen in meiner Klasse war der Besitzer der örtlichen Mercury-Niederlassung. Ihr Familiensitz lag direkt neben Blue Run, einer der unterirdischen Quellen, die in diesem Teil des Staats die Flussläufe speisen. Wunderschönes frisches Wasser blubbert nach oben und fließt in kristallklaren, zehn Meter tiefen Flüssen davon. Die Verlockung war einfach zu groß für einen Teenager.

Wir verbrachten ganze Tage mit Baden oder lagen einfach nur an der Anlegestelle in der Sonne. Tom brachte mir das Wasserskifahren bei. Ein zusätzlicher Kitzel dabei war, dass der See mit Schlangen, Alligatoren und Schnappschildkröten verseucht war. Sollte ich den Halt verlieren, müsste ich mich mit möglichst geringen Schwimmbewegungen über Wasser halten und hoffen, dass das Boot bald umkehrte, um mich aufzufischen. Am meisten Spaß machte jedoch das Unterwasserfliegen: Wir zwängten uns in ein tief liegendes kleines Boot mit einem siebeneinhalb PS starken Motor, an dessen Heck eine Wasserskileine befestigt war. An diese hängten wir ein kleines Holzbrett, das ungefähr fünfundsiebzig Zentimeter lang und dreißig Zentimeter breit war. Einer von uns stieg ins Wasser und ließ sich hinter dem Boot herziehen. Dabei trug man eine Gesichtsmaske und hielt sich an dem Brett fest.

Wenn das Boot Fahrt bekam und man auf dem Brett liegend hinterher­glitt, konnte man ein wenig Druck darauf ausüben und wurde so unter die Wasseroberfläche gezogen. Wenn man es zur Seite kippte, segelte man buch­stäblich wie ein Vogel durchs Wasser. Konnte man den Atem nicht länger anhalten, musste man nur das Brett nach oben neigen, und schon schoss man spritzend und nach Luft schnappend empor, bevor man abermals eintauchte. Das Wasser war voll von Tieren, und man konnte glasklar sehen. Es gab in diesem Teil von Blue Run sogar Seekühe, sanfte seehundähnliche Wesen, die von Seeleuten einst für Meerjungfrauen gehalten wurden. Die Gefahr beim Unterwasserfliegen bestand darin, dass man unter Wasser jederzeit gegen eine verborgene Baumwurzel oder irgendein anderes Hindernis geschleudert wer­den konnte, aber wir waren jung und dumm und scherten uns nicht darum.

Nachts gingen wir in den Sümpfen Frösche aufspießen. Auf einem Ruder­boot fuhren wir zu der Stelle, wo sich die Frösche an der Wasseroberfläche treiben ließen und sich aus vollem Hals gegenseitig Liebesschwüre zuquakten. Einer von uns trug eine Taschenlampe bei sich. Wenn wir den Lichtkegel der leistungsstarken Lampe über die Oberfläche des Sumpfs wandern ließen, sahen wir nur gelbe und rote Augen – die gelben gehörten den Fröschen, die roten den Alligatoren. Wir pirschten uns an die treibenden, halb geblendeten Frösche heran, bis einer von uns „Spießen!“ schrie. Dann spießten wir die Kreatur auf. Dazu verwendeten wir einen langen Stab, an dessen Ende ein Dreizack mit Widerhaken befestigt war, und warfen die noch zappelnden Frösche damit in einen Korb. Wenn der Korb voll war, kehrten wir ans Ufer zurück, trennten die Beine ab und tauchten sie in flüssigen Teig, bevor wir sie über dem Lagerfeuer brieten. Sie schmeckten so ähnlich wie gebratenes Hühnchen und waren beson­ders gut, wenn man sie mit ein paar kalten Bieren hinunterspülte.

Bernie ging mit einem Mädchen namens Judy Lee, deren Familie ein Haus draußen in Micanopy besaß, wo einer unserer Lieblingsseen lag. Bernie und Judy meinten es ziemlich ernst miteinander, und das zu einer Zeit, als ich gerade keine Freundin hatte. Ich war also mehr als nur ein bisschen eifersüchtig. Eines Abends, nach einem Auftritt bei einer Tanzveranstaltung für Jugendliche in einem örtlichen Holiday Inn, hatte sich Bernie mit Judy vor dem Howard John­son Motel in Gainesville verabredet. Sie brachte ihre beste Freundin mit.

 

„Hallo“, sagte sie und winkte mir schüchtern zu. „Ich bin Susan Pickers­gill. Ich habe schon viel über dich gehört.“ Sie roch nach Mandeln.

„Hallo“ war alles, was ich als Antwort hervorbrachte. Ich brauchte nur einen einzigen Blick auf diesen süßen, milchgesichtigen Engel mit seinem glatten blon­den Haar zu werfen, da war es um mich geschehen. Sie sah mich ebenfalls an. Ich hatte mein Haar mit Pomade zurückgekämmt und meine Zigaretten unter den Ärmel meines T-Shirts gesteckt. Glücklicherweise empfand sie dasselbe.

Susan stammte aus besseren Verhältnissen. Sie war der Abkömmling einer langen Linie von Pickersgills, einer Familie, die den teutonischen Felders weit überlegen war, die noch auf Maultieren hierhergeritten waren. Sie war eine direkte Nachfahrin jener Mary Pickersgill, die 1813 für Fort McHenry das erste Sternenbanner nähte, das heute im Smithsonian-Institut in Washington, D. C., hängt. Das Beste aber war, dass mich ihre Mutter mochte. Ich war adrett, und meine Eltern hatten mir gute Umgangsformen beigebracht. Ich war höflich und bewies großen Respekt, indem ich immer artig „Ja bitte“ und „Vielen Dank“ sagte. Sie freuten sich, dass Susan jemanden wie mich gefunden hatte. Wenn sie nur gewusst hätten, wie wenig förmlich mein Umgang mit ihrer Tochter war, wenn sie gerade nicht zugegen waren …

Mister Pickersgill war ein angesehener Hochbauingenieur aus dem Nordosten mit einem Kurzzeitvertrag für den Bau eines Krankenhauses für Veteranen in Gainesville. Das Projekt sollte in sechs Monaten abgeschlossen sein. Danach würde Susan mit ihm und dem Rest der Familie nach Boston zurückkehren. Die Zeit arbeitete gegen uns, aber wir verliebten uns unsterb­lich inein­ander.

Susan war Schülerin an der P. K. Young, einer privaten Highschool für die Kinder von Professoren und anderen höheren Berufsgruppen im Umfeld der Universität. Sie ging mit Judy in eine Klasse. Es dauerte nicht lange, da wurden wir ein festes Vierergespann, zwei Paare, die gemeinsam Konzerte besuchten und ihre Freizeit verbrachten. Bernie und ich setzten oft die Mäd­chen ab und rauchten dann auf der Rückbank seines Wagens auf dem Park­platz der Highschool noch ein wenig Gras. Ich hatte immer schreckliche Angst, einer meiner Lehrer würde herauskommen und uns in Bernies ver­rauchtem Ford Falcon erwischen. Noch mehr fürchtete ich, mein Vater könnte vielleicht vorbeifahren.

Papa und ich kamen überhaupt nicht miteinander aus. Wir stritten uns beinahe jedes Mal, wenn wir uns sahen – meistens darüber, wie ich mein Leben gestaltete.

„Wie lange willst du noch herumgammeln, Gitarre spielen und dich mit deinen Freunden zudröhnen?“, fragte er immer.

„Solange es mir passt“, entgegnete ich dann und warf die Fliegengittertür wütend hinter mir zu. Musik war einst der Klebstoff gewesen, der uns beide zusammengehalten hatte, doch nun trieb sie uns auseinander.

Immer wenn die Atmosphäre allzu spannungsgeladen wurde, stahl ich mich für ein paar Tage davon und kam bei Freunden unter – besonders bei Jim, dem DJ beim örtlichen Radiosender, der immer noch über dem Bestat­tungsinstitut wohnte.

Wenn ich nach ein paar Tagen wieder nach Hause kam, versuchte ich, Papa aus dem Weg zu gehen. Als Jerry das Haus verlassen hatte, wurde es keinesfalls besser. Er und Marnie heirateten, als er einundzwanzig war und seinen Abschluss in Jura machte. In dem Zimmer, das wir so viele Jahre lang geteilt hatten, half ich ihm dabei, seine paar Sachen zu packen, und fuhr ihn rüber zu dem Apartment, das sie im ersten Stock eines alten Hauses im nächs­ten Viertel gemietet hatten.

„Danke, Don“, sagte Jerry und klopfte mir auf die Schulter, als ich seine letzten Sachen ausgeladen hatte. „Vielleicht könntest du jetzt, wo ich weg bin, versuchen, ein bisschen besser mit Papa auszukommen, okay?“

Ich schüttelte ihm die Hand und nickte stumm, immer noch ganz der kleine Bruder, besonders jetzt, da er geheiratet und das Haus verlassen hatte. Ich fuhr direkt zurück nach Hause, ordnete das Zimmer nach meinem Geschmack um und stellte Papas Voice-of-Music-Gerät hinein. Auf einem Stuhl stehend entfernte ich die Einhundert-Watt-Birne aus der Deckenlampe. Ich langte in die Tasche und ersetzte sie durch eine rote mit geringer Leistung, die ich extra gekauft hatte. Das war jetzt mein Zimmer, wo ich wann ich wollte und so laut ich wollte Gitarre spielen konnte, in einem roten Scheinwerferkegel wie Jimi Hendrix.

Zu Hause wurde mein Bruder schmerzlich vermisst – sowohl als ausglei­chender Faktor als auch als Kamerad, sodass mein Vater immer unzufriedener mit mir wurde. Jerry war der Mustersohn gewesen, und seine Sittlichkeit und sein Lebensstil ließen meine Unzulänglichkeiten nur noch deutlicher zutage treten. Ich war das krasse Gegenstück, hatte an mehreren Demonstrationen gegen Vietnam und an anderen politischen Aktionen teilgenommen; mein Haar hatte ich noch länger wachsen lassen, um besser zu den anderen Jungs zu passen. Darüber hinaus hegte mein Vater den begründeten Verdacht, ich könnte mit Drogen zu tun haben.

Mein endgültiges Zerwürfnis mit Papa zeichnete sich lange vorher ab. Unser Verhältnis war derart feindselig geworden, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis etwas passierte. Eines Tages sollte ich nach Hause kommen und irgendeine banale Tätigkeit verrichten, Geschirr spülen oder Rasen mähen oder die Wäsche rausbringen und aufhängen. Aus irgendeinem dummen Grund – vermutlich, weil ich viel zu sehr mit Gitarrespielen beschäftigt war oder gerade Gras rauchte – tat ich es aber nicht. Als ich schließlich doch heim­kam, begann meine Mutter sofort, mich deshalb zu schelten. In meiner Ehre gekitzelt, schoss ich sofort zurück.

„Ich muss euren verdammten Abwasch nicht machen“, erklärte ich. „Ich bin nicht euer Sklave.“

Sie hielt einen Moment lang inne und sah mich mit zusammengekniffe­nen Augen an.

„Warte, bis dein Vater nach Hause kommt“, sagte sie spitz.

Ich ging hinauf in mein Zimmer und schmollte. Ein paar Stunden später hörte ich, wie Papa nach Hause kam. Innerhalb von Minuten stand er in der Tür meines Zimmers.

„So redest du nie wieder mit deiner Mutter, du fauler, nichtsnutziger, lang­haariger Hippie“, schrie er, als er seinen Gürtel löste. „Warum bist du nicht so wie dein Bruder?“

Ich erinnere mich noch, wie ich auf dem Bett saß und versuchte, mich mit den Händen zu schützen, während er begann, mich mit dem Riemen seines Gürtels auf den Rücken zu schlagen. Mein ganzes Leben lang hatte ich diesen Gürtel ertragen müssen, aber aus irgendeinem Grund beschloss ich, diese Prü­gel nicht länger hinzunehmen.

Ich sprang auf, ballte die Faust und schlug Papa so hart, wie ich konnte, aufs Kinn. Durch die Wucht des Schlags stolperte er rückwärts, ruderte mit den Händen und dem Gürtel in der Luft herum und stürzte zu Boden. Er krachte gegen ein Bücherregal und landete in einem Stapel Langspielplatten. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Ich glaube, er war in erster Linie überrascht. Ich rannte buchstäblich aus dem Zimmer, sprang in mein Auto und machte mich davon, bevor er mich erwischen konnte. Während ich aus dem Haus floh, konnte ich ihn die ganze Zeit hinter mir hören, aber ich weiß nicht, ob er mir hinterherschrie oder nach Mama rief, damit sie ihm wieder auf die Beine half. Ich ging fort von zu Hause und schwor mir, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Mein Schweigen sollte immerhin sechs Jahre anhalten.