Roter Glamour

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Roter Glamour
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Dominique Manotti

ROTER GLAMOUR

Aus dem Französischen

von Andrea Stephani

Ariadne Krimi 1192

Argument Verlag


»Die Wirklichkeit ist ein Krimi« – wie oft habe ich diesen Satz schon gelesen? Doch niemand schreibt den Krimi der Wirklichkeit so akkurat, so eindringlich sparsam wie Manotti. Ob sie die Tristesse eines Arbeitstages in der Fabrik schildert oder die demütigenden Pflichten einer ranglosen Polizistin im Moloch Paris, den Alltag in der Übernahme-Task-Force eines Konzerns, die selbstreferenzielle Hybris eines Regierungsmitglieds oder die machistische Paranoia eines Mitglieds des organisierten Verbrechens: Ihre kühlen, präzisen Sätze zoomen ganz dicht ran wie eine minimalistische Kamerafahrt, die mit den Augen der handelnden Figur blickt und ihr gleichzeitig ins Hirn guckt. Alles ist echt. Gewaltige Detailkenntnis und brillante Choreographie werden zu einem erzählerischen Mahlstrom reduziert, für den Manotti eine gestochen scharfe, stets elegante und doch erstaunlich schlichte Erzählsprache findet. So macht sie die obskursten Themen aus Politik, Wirtschaft und Hochfinanz greifbar, bildhaft, thrillertauglich. Die Wucht, mit der ihre Romane in mein Bewusstsein einschlagen, ist nur angemessen, geht es doch um jene mythisch zu Halbgöttern stilisierten Macher aus Wirtschaft und Politik, die Manotti als von menschlicher Gier getriebene banale Gelegenheitsdiebe entlarvt, und um die weitgehend ohnmächtigen einfachen Leute, versehrt von den Verhältnissen, die mit ihren mageren Kräften das Blatt zu wenden versuchen. Illusionslose Wahrheiten in funkelnder Prosa mit Herz. Wir sind stolz, diese Könnerin zu verlegen. Dank hierfür gebührt Andrea Stephani, die dieses Projekt zu uns getragen hat.

Else Laudan

Dominique Manotti, 1942 geboren, kam erst mit fünfzig Jahren zum Schreiben und veröffentlichte seither sieben Romane. Ihre Bezugspunkte sind der amerikanische Schriftsteller James Ellroy, die neuzeitliche Wirtschaftsgeschichte und die 68er-Bewegung. Diese ungewöhnliche Kombination begründet Manottis dichten, unpathetischen Stil. Die Historikerin lehrte an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, war als Gewerkschafterin in der CFDT aktiv und leitete als Generalsekretärin deren Pariser Sektion.

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Titel der französischen Originalausgabe:

Nos fantastiques années fric

© 2001, Éditions Payot & Rivages

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2011

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Wild Geese, Fotolia.com

Lektorat: Iris Konopik & Else Laudan

Satz: Iris Konopik

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86754-974-5

Dritte Auflage 2012

Vorbemerkung der Autorin zur deutschen Ausgabe

Kleine Notiz zur Organisation der französischen Polizei in den Jahren 1985 – 86 für akribische Leser. Die Lektüre ist nicht obligatorisch für Leute, die sich einfach nur gern dem Rhythmus eines Romans hingeben.

Mit der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Gesamtheit der Polizeiaufgaben sind 1985 zwei große staatliche Organe betraut, die Polizei und die Gendarmerie.

Die Gendarmerie ist Teil der französischen Streitkräfte und untersteht dem Verteidigungsministerium. Sie übernimmt polizeiliche Aufgaben im ländlichen Raum und in Städten mit unter 10 000 Einwohnern. Allerdings hat sich ihr Zuständigkeitsbereich stetig erweitert. So wurden zum einen Fahndungsabteilungen gegründet, die in Zusammenarbeit mit den zuständigen Richtern Ermittlungen durchführen und dieselben Kompetenzen und Rechte haben wie die Kriminalpolizei; zum anderen die GIGN (Groupe d’Intervention de la Gendarmerie Nationale), ein sagenhaft trainiertes Elitecorps, das im Notstandsfall und bei besonderen Gefährdungslagen eingreift, z. B. Geiselnahme. Die GIGN befindet sich daher häufig in Konkurrenz zur Polizei.

Die Polizei, die aus zivilen Ordnungskräften besteht, ist dem Innenministerium unterstellt. Der Direction Générale de la Police Nationale unterstehen einzelne Direktionen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten:

Die Direction de la Sûreté Publique (Direktion für öffentliche Sicherheit) befehligt die uniformierte Polizei, die im ganzen Staatsgebiet in Kommissariaten auf Stadt- und Stadtteilebene organisiert ist. Ihr obliegen alle allgemeinen Polizeiaufgaben. Noria Ghozali ist eine Berufsanfängerin, die einem solchen Kommissariat zugeteilt ist. Diese Polizisten führen bei Mordfällen den ›Ersten Angriff‹ durch, werden dann aber schnell von der Kriminalpolizei abgelöst.

Die Kriminalpolizei (DPJ, Direction de la Police Judiciaire) arbeitet bei allen Ermittlungen und Nachforschungen mit den zuständigen Richtern zusammen. Im gesamten Staatsgebiet ist sie in Regions- und Départements-Dienststellen unterteilt. Aber in Paris, und ausschließlich in Paris, gibt es innerhalb der Kriminalpolizei die sogenannten »grandes brigades«. (≈ große Dezernate), die am Quai des Orfèvres Nr. 36 beheimatet sind, dort, wo Maigret sein Büro hatte: die Brigade Criminelle (abgekürzt als Crim oder BC; Morddezernat), das Rauschgiftdezernat (les Stupéfiants), das Sittendezernat (les Mœurs), das Dezernat Finanzermittlungen (la Brigade Financière), das Dezernat für Fahndung und Intervention (la BRI, Recherches et Interventions, auch Brigade antigang) etc. Diese Dezernate bestehen aus hochqualifizierten und hochspezialisierten Mitarbeitern. Die Mitglieder der Crim gelten als die Intellektuellen der Polizei.

Im Roman tauchen zwei weitere Direktionen auf: die Direction des Renseignements Généraux (RG; immer Plural) (Zentraler Nachrichtendienst) und die Direction de la Surveillance du Territoire (DST) (Inlandsnachrichtendienst).

Die RG sind eine französische Besonderheit, eine Polizei ohne Vollstreckungsgewalt. Ihre Aufgabe ist die Recherche und Auswertung von Informationen mit dem Ziel, die Regierung über die großen Tendenzen der öffentlichen Meinung, über unlautere Machenschaften und kleine Fehltritte gewisser Persönlichkeiten und Gruppen zu unterrichten; eine besonders undurchsichtige und durchtriebene Organisation. Um das Chaos komplett zu machen, genießt die Pariser Abteilung der RG, die RGPP (Renseignements Généraux de la Préfecture de Police de Paris) weitgehende Autonomie. Es ist diese Abteilung, die Macquart leitet. Die RG haben außerdem eine Sektion »Rennen und Glücksspiele«. (Courses et Jeux), die die Rennbahnen, Kasinos und Spielhallen kontrolliert. Eine unerschöpfliche Quelle an Informationen und Mauscheleien.

Der Inlandsnachrichtendienst DST (Direction de la Surveillance du Territoire) ist zuständig für Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung innerhalb des Staatsgebiets, während die DGSE (Direction Générale de la Sécurité Extérieure), die für dieselben Aufgaben zuständig ist, jedoch außerhalb des Staatsgebiets, aus Militärs besteht und dem Verteidigungsministerium unterstellt ist.

Während der Präsidentschaft von François Mitterrand haben sich die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Polizeiapparaten noch verschärft, denn der Präsident hegte – zu Recht oder zu Unrecht – großes Misstrauen gegen die Staatspolizei. Deshalb gründete er direkt im Élysée-Palast einen speziellen Sicherheitsstab, der im Prinzip für den persönlichen Schutz des Präsidenten verantwortlich war, und besetzte ihn mit Gendarmen des GIGN (siehe vorn), die ihm vertrauenswürdiger erschienen. Diese »cellule de l’Élysée« [im Roman: Antiterrorstab oder kurz Stab] agierte außerhalb jeglichen Rahmens und jeglicher Kontrolle, es sei denn durch den Präsidenten und bestimmte seiner Berater, und war binnen kurzem in alle möglichen Skandale verwickelt, angefangen mit der Fälschung von Beweismitteln in Terrorismusangelegenheiten bis hin zur Einrichtung eines großen geheimen Abhördienstes*.

In diesem morastigen Gelände ist Roter Glamour angesiedelt.

Dominique Manotti im Februar 2011

*

Wer mehr über diesen Hintergrund erfahren möchte, dem seien folgende Links empfohlen: www.spiegel.de/​spiegel/​print/​d-8924011.html und www.spiegel.de/​spiegel/​print/​d-8700841.html

Geld korrumpiert, Geld kauft,

Geld vernichtet, Geld tötet, Geld zerstört,

Geld verdirbt, sogar das Gewissen der Menschen.

François Mitterrand

Inhalt

Cover

Titel

 

Über die Autorin

Impressum

Vorbemerkung der Autorin zur deutschen Ausgabe

Zitat

Vorwort

Juli 1985

Donnerstag, 28. November

Freitag, 29. November

Samstag, 30. November

Sonntag, 1. Dezember

Montag, 2. Dezember

Dienstag, 3. Dezember

Mittwoch, 4. Dezember

Donnerstag, 5. Dezember

Freitag, 6. Dezember

Samstag, 7. Dezember

Montag, 9. Dezember

Dienstag, 10. Dezember

Mittwoch, 11. Dezember

Donnerstag, 12. Dezember

Freitag, 13. Dezember

Das Hammelragout köchelt in einem gusseisernen Schmortopf leise vor sich hin und verströmt einen Duft nach Tomate und Gewürzen. Die Küche ist sauber, eine Hängelampe verbreitet ein schönes gelbes Licht, Spüle, weiße Möbel und ein großer weißer Kühlschrank, in der Mitte des Raums ein Holztisch. Das Fenster sperrt die Dunkelheit aus, es ist zum Ersticken.

Der Vater, untersetzt, eingefallenes Gesicht, graues Haar, schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Nicht Theater. Nicht meine Tochter.«

»Ich mache, was ich will!«

Er versetzt ihr einen Fausthieb gegen die Schläfe und brüllt: »Ich verbiete dir …«

Ihr Kopf fliegt zurück, ein Knacken, roter Schleier vor den Augen, das Mädchen strauchelt, sucht Halt am Tisch. Ihre Mutter weint, wimmert, fleht, will dazwischengehen. Die beiden Brüder schieben sie in eine Ecke. Die Kleinen haben sich in ein anderes Zimmer geflüchtet, den Fernseher voll aufgedreht, damit die Nachbarn nichts hören.

Das Mädchen stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch, reckt den Oberkörper nach vorn. »Mir verbietet keiner mehr was, nie mehr! In zwei Monaten bin ich volljährig«, aufrecht, es fehlt nicht viel, dass sie spuckt, »volljährig, hörst du.«

»Volljährig …«

Er bekommt vor Wut keinen Ton heraus, greift sich einen Stuhl, schwingt ihn drohend, umrundet den Tisch, geht auf sie zu. Sie spürt das Herdfeuer im Rücken, dreht sich um, packt den Topf mit beiden Händen und schleudert ihn ihrem Vater an den Kopf. Die Sauce spritzt nach allen Seiten, orangerote Fettschlieren auf Wänden, Fußboden, Möbeln, die Brandwunden an ihren Händen, Armen und Beinen nimmt sie gar nicht wahr, hört nicht die Schreie ihrer Mutter. Der Vater bringt die Hände zum Kopf, wankt, rutscht aus, stürzt zwischen die Hammelstückchen am Boden.

Der große Bruder geht auf sie los, ohrfeigt sie, dreht ihr die Arme auf den Rücken, hebt sie hoch, befördert sie in eines der Zimmer, schließt sie ein. In der Küche lautstarker Wortwechsel der Männer. Der Vater will nicht, dass ein Arzt gerufen wird. Wasser fließt. Die Mutter weint laut.

Die sperren mich ein. Die bringen mich um. Das Blut pocht in ihren Schläfen. Sie geht zum Fenster, öffnet es. Die Luft ist kalt, die Hochhaussiedlung schwach erleuchtet, drei Etagen unter ihr alles still. Denk nicht nach. Hau ab. Schnell, bevor sie wiederkommen. Im Zimmer stehen zwei Betten. Sie zerrt eine Matratze zum Fenster, beugt sich über den Sims, müht sich, zielt, lässt los. Schnell, die zweite, exakt dieselben Handgriffe noch einmal, sie landet auf der ersten. In der Küche kreischt eine Frau auf. Schnell. Denk nicht nach, bitte!, denk nicht nach. Spring.

Sie schwingt ein Bein über die Brüstung. Halte das Gleichgewicht, wie beim Turnen. Schau nur auf die Matratze und auf sonst nichts. Atme tief durch – und spring.

Harte Landung, ein Knacken im rechten Knöchel. Sie stellt sich auf die Füße. Der Knöchel hält. Langsam und humpelnd läuft sie durch die Nacht. Zickzack zwischen Hochhausblocks, beleuchtete Plätze meidend, Ohren gespitzt. Wie lange? Sie bleibt stehen, ihr ist schlecht. Sie weiß nicht, wo sie ist. Setzt sich auf die Stufen einer Treppe, hinter einer Mülltonne versteckt. Kommt langsam wieder zu Atem. Das Herz hämmert noch ein wenig. Ihr ist kalt, sehr kalt. Das linke Auge geht nicht auf, gewaltiger Schmerz im rechten Knöchel, die Verbrennungen an Armen und Beinen eine Qual. Keine Papiere, keine Kleidung, kein Geld. Sicher ist: Ich kehre nie mehr zurück. Sicher ist: Sie werden nicht nach mir suchen. Für sie bin ich gestorben. Tot.

Juli 1985

Draußen sonniges Wetter, es ist Sommer, aber die Büros der Renseignements Généraux der Polizeipräfektur von Paris sind wie immer düster und trist, hellbraun gestrichene Wände, Linoleumboden, Metallmöbel und kleine Fenster, die genau nach Norden auf einen Innenhof gehen. In Macquarts Büro drei bequeme Velourssessel, Halogenlampen, die immer an sind, auf dem Tisch eine Zeitung, aufgeschlagen auf Seite zwei, Rubrik »Freie Meinung«. Darüber gebeugt drei Männer um die fünfzig in dunklen Anzügen, die Chefs der RGPP, wie der Zentrale Nachrichtendienst kurz genannt wird.

»Unterzeichnet Guillaume Labbé. Wer ist dieser Guillaume Labbé?«

Macquart richtet sich auf. »Meiner Meinung nach das Pseudonym von Bornand.«

»Dem persönlichen Berater des Präsidenten?«

»Aus welcher Quelle hast du das?«

»Simple Schlussfolgerung. Guillaume ist der Vorname des Abbé Dubois.« Für einen Moment herrscht Schweigen. »Der Berater des Regenten …« Schweigen. »Also jedenfalls, Bornand hat sich dem Porträt, das die Memoirenschreiber des 18. Jahrhunderts vom Abbé zeichnen, immer verwandt gefühlt: intelligent, dem Laster nicht abgeneigt, ein Mann mit Einfluss und Verbindungen … So gesehen scheint mir das Pseudonym Guillaume Labbé leicht durchschaubar. Ich meine mich sogar zu erinnern, dass er es schon einmal benutzt hat. Das muss in meinen Akten stehen.«

»Wenn du es sagst.«

Sie beginnen zu lesen, Schulter an Schulter.

In gewissen Pariser Zeitungen jagt ein Regierungsskandal den nächsten: der Laden muss schließlich laufen.

»Wenn wirklich er dahintersteckt, ist das eine ganz schöne Dreistigkeit. Er selbst diktiert doch dem Bavard Impénitent, der auf so was spezialisiert ist, die Hälfte seiner Leitartikel …«

Erst haben sie sich in aller Ausführlichkeit darüber verbreitet, wie die französischen Geheimdienste auf Anordnung des Verteidigungsministers in einem neuseeländischen Hafen das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior versenkt haben, das in der Kampagne gegen die französischen Atomtests im Pazifik im Einsatz war, und dass ganz nebenbei auch ein portugiesischer Journalist dran glauben musste. Jetzt machen gewisse Vertreter des »investigativen« Journalismus großes Getöse um den Fall der sogenannten »Iren von Vincennes« und bezichtigen die Männer vom Antiterrorstab des Élysée …

»Das ist Bornand, mit Sicherheit. Er selbst hat diesen Stab doch ins Leben gerufen, er hat seine Mitglieder ausgesucht, er hat ihn direkt dem Präsidenten unterstellt und dafür gesorgt, dass er niemandem Rechenschaft schuldig ist. Also hat er natürlich ein Interesse daran, dass er Erfolge vorweisen kann. Denn sonst geht er mit hoch.«

»Es ist Bornand. Er hat ein Faible für diese gutaussehenden Soldaten, die Mauern erklimmen und schneller schießen als ihr Schatten.«

»Die sind attraktiver als wir, das muss man zugeben.«

»Ich darf doch um etwas mehr Ernsthaftigkeit bitten, meine Herren.«

… sie hätten den irischen Terroristen, die sie im August 1982 kurz nach dem tödlichen Attentat in der Rue des Rosiers festgenommen haben, die Waffen selbst untergeschoben.

Der erste Fall hat bei unparteiischen Beobachtern einige Fragen zur Arbeitsweise der französischen Geheimdienste aufkommen lassen: verblüffendes Unvermögen oder komplizierte Machenschaften, die sich gegen Regierung wie Sozialisten richten? Und wo ist die undichte Stelle, dank der ein paar französische Journalisten besser und schneller informiert waren als die neuseeländischen Ermittler?

»Feuer frei auf den Auslandsnachrichtendienst.«

Der zweite Fall ist noch zwielichtiger. Die »investigativen« Journalisten, die dieses Mal am Werk sind, beziehen ihre Informationen allesamt aus ein und derselben Quelle: von einem psychisch labilen Individuum mit fragwürdigem Charakter, dessen Zeugenaussage seit mehr als einem Jahr in den Pariser Redaktionsbüros die Runde macht, ohne dass man ihr bislang irgendwelchen Glauben geschenkt hätte. Zudem steht diese Person, wie allgemein bekannt ist und wie sie auch selbst zugibt, auf der Gehaltsliste einer unserer großen Polizeidienste, und dies just in dem Bereich, der auch die Geheimdienste interessiert.

»Sieh mal einer an …«

»Der Inlandsnachrichtendienst gerät unter Beschuss. Die RG scheinen vorerst auf wunderbare Weise verschont zu bleiben.«

»Er ist heute nicht richtig in Form.«

Haben diese »investigativen« Journalisten sich eigentlich einmal gefragt, wie vertrauenswürdig diese Person ist? Haben sie den Versuch unternommen, die Informationen, die sie ihnen geliefert hat, mit anderen Quellen abzugleichen? Mitnichten.

Das Ziel ist klar: Die Diskreditierung des Antiterrorstabs des Präsidenten, jenes aus Gendarmen und Polizisten bestehende Team um den Präsidenten der Republik, dessen Aufgabe es ist, seine Sicherheit zu gewährleisten und den Kampf gegen den Terrorismus zu organisieren. Ein erstaunlich effizientes Team, das alle Angelegenheiten, mit denen es befasst war, vorangebracht hat und das, auch das darf gesagt werden, mit der Verhaftung der Iren im August 1982 der Ausbreitung des Terrorismus in Frankreich einen entscheidenden Schlag versetzt hat.

Einmütig richten sich die drei Männer auf.

»Ich wette, er glaubt das wirklich.«

»Große Literatur.«

Der Antiterrorstab des Präsidenten arbeitet auch weiterhin daran, sämtliche Informationen über den Terrorismus zentral zu erfassen und zu speichern, und ist bestrebt, auf diesem Gebiet die verschiedenen involvierten Polizei- und Gendarmerieorgane – und das sind viele – zu koordinieren, weshalb ihm im internationalen Räderwerk gegen den Terrorismus entscheidende Bedeutung zukommt. Kurz, seine Rolle ist überaus positiv und macht den Weg frei für die Schaffung eines dem Präsidenten zur Seite gestellten Sicherheitsrats nach Vorbild des amerikanischen NSC, der ihm Analysen und Zusammenfassungen bezüglich der nationalen Sicherheit liefern kann.

»Kein Zweifel, das ist Bornand. Der hat sich schon an die Amerikaner gehalten, als er noch in der Pubertät war.«

»Wir haben ihn unterschätzt. Der Mann ist ein Poet.«

Wer hat also ein Interesse daran, dieses im Aufbau begriffene, äußerst wichtige Räderwerk zu diskreditieren? Nun, eben jene traditionellen Organe der französischen Polizei, die sich bedroht fühlen, jene, deren Inkompetenz, Ineffizienz, interne Querelen und mörderisches Konkurrenzdenken jeden Tag aufs Neue sichtbar werden, jene, deren Führungskräfte Angst haben, ihre Macht und ihre Privilegien zu verlieren. Und die, daran muss wohl kaum erinnert werden, Präsident Mitterrand nie ins Herz geschlossen haben.

Guillaume Labbé

»Was halten Sie davon?«, fragt Macquart.

»Was hat den bloß geritten? Wenn er es ist. Kein Jahr mehr bis zu den Wahlen, und in allen Umfragen, unsere eigenen inbegriffen, stehen die Sozialisten als Verlierer da. Vielleicht nicht gerade der richtige Zeitpunkt für einen Krieg zwischen der Privatpolizei des Präsidenten und den regulären Polizeiapparaten.«

 

»De facto gibt es diesen Krieg bereits. Gegen den Antiterrorstab des Präsidenten. Die Pressekampagne über die Iren von Vincennes kommt nicht von ungefähr. Ich glaube, Bornand hat sich einfach aufs falsche Ziel eingeschossen, es ist sein alter Hass gegen die regulären Polizeiapparate, der da wieder hochkommt.«

»Sturm im Wasserglas oder echte Gefahr?«

»Bornand – wenn er es denn ist – ist ein persönlicher Freund des Präsidenten, natürlich einflussreich, aber auch ein Querschädel, der zunehmend isoliert dasteht.«

»Das heißt, viel Lärm um nichts …«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich werde mir seine Akte noch einmal vornehmen.«

***

Seit dem frühen Morgen ist Noria damit beschäftigt, Verlust- und Diebstahlsanzeigen entgegenzunehmen: Autos, Fahrräder, Handtaschen, Hunde, Baumaterialien, liebevoll eingekellerte Weine (inklusive Auflistung der einzelnen Châteaus, achte bloß auf die Rechtschreibung, der

Anzeigeerstatter ist ein Kenner). Nach über einem Jahr im Elend, mit Notunterkünften und Schwarzarbeitsjobs, eine ätzende Zeit, ist sie nun seit zwei Monaten Polizeiermittlerin im Kommissariat des 19. Pariser Arrondissements. Weit weg von dem dichten Geflecht familiärer Hassausbrüche und Gewalt. Aber auch weit weg von den Schulfreundinnen, den Lehrern, die manchmal ein offenes Ohr hatten, den heimlich verschlungenen Büchern und dem Theaterspiel im Foyer des Gymnasiums. Auf die Bühne steigen, aus sich selbst heraus existieren und jemand anders sein, der dich beschützt, eine wunderbare Entdeckung. All das ist mit einem Schlag in weiter Ferne, eine unerreichbare Welt … Worauf sie brennt: der Wunsch, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und zwar schnell.

Als sie endlich achtzehn ist, unternimmt sie mit Hilfe von Frauenorganisationen die nötigen Schritte, um wieder Papiere zu bekommen, endloses Warten in verschiedenen Rathäusern, wo sie eines Tages zufällig diese Anzeige liest: »Aufnahmeprüfung. Polizeiermittler. Voraussetzung: Mittlere Reife.

Mittlere Reife. Mit sechzehn musste sie runter vom Gymnasium, um der Mutter zu helfen, und Studieren ist sowieso nichts für Mädchen. Für Jungs übrigens auch nicht. Ihre beiden großen Brüder haben in der Hochhaussiedlung Besseres zu tun. Voraussetzung: Mittlere Reife. Ich hab zwar nicht mehr, aber das habe ich. Polizeiermittlerin … Eine Arbeit, was Sicheres. Mehr noch, ein Ausweis, ein Platz im Leben, eine Rolle, die ich spielen kann, auf der Seite des Gesetzes, auf der Seite der Macht.

Und heute wie an jedem Tag Formulare in dreifacher Ausfertigung, davon eins für die Versicherungen, Routine. Routine ist an diesem Morgen auch das Verschwinden von 174 Pekingenten, die in Privatküchen im Viertel Bas-Belleville in Schwarzarbeit zubereitet wurden und für die dort florierenden Chinarestaurants bestimmt waren. Vergeltungsmaßnahme, Erpressung, Eintreiben von Schutzgeldern, Beutezug von Hungernden? Im hiesigen Chinatown fühlt sich keiner aus dem Kommissariat so richtig wohl. Eine Ablenkung: Der Kommissar ruft Noria in sein Büro.

»Nehmen Sie sich diese Akte vor, Kindchen«, hellbrauner Pappeinband, darin Fotokopien. »Rund fünfzehn Anzeigen in nicht mal einem Monat, alle zum selben Thema und am selben Ort. Keine große Sache, macht aber einigen Ärger. Ich hatte einen Anruf vom stellvertretenden Bürgermeister, die Wahlen rücken näher. Befragen Sie die Anzeigeerstatterinnen. Beruhigen Sie die guten Frauen, zeigen Sie ihnen, dass die Polizei etwas tut und bürgernah ist. Ich verlasse mich auf Sie, erstatten Sie mir heute Abend Bericht.«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Kindchen. Meinen Namen, Noria Ghozali, kriegt er wohl nicht über die Lippen. Das Atmen fällt ihr schwer. Aufs Schlimmste gefasst nimmt sie die Akte und setzt sich zum Lesen an einen freien Schreibtisch.

Vier Frauen zwischen 67 und 85 Jahren, alle wohnhaft in einem der als ruhig geltenden, auf einem Hügel gelegenen »Dörfer« des 19. Arrondissements. Die Omas geben an, dass sie vor lauter Angst das Haus nicht mehr verlassen, da seit ungefähr einem Monat in Hundekot versteckte Knallfrösche explodieren und sie mit Hundescheiße bespritzen, wenn sie vorbeigehen.

Noria atmet tief durch. Ich bin die Jüngste hier, die einzige Frau, die einzige Polizistin maghrebinischer Herkunft, einfache Ermittlerin mit Untergebenenstatus und noch ohne Festanstellung: Ist doch klar, dass ich die Hundescheiße kriege. Wer weiß, vielleicht stehen mir, wenn ich groß bin, überfahrene Hunde zu, wär ja ’n echter Aufstieg.

Liste mit den vier »Opfern« und ihren Adressen, alle auf dem Hügel. Sie macht sich auf den Weg. Ruhige Sträßchen, wenige Autos, ein paar Fußgänger, die es nicht eilig haben, einander grüßen, ein Schwätzchen halten, dicht an dicht stehende Backsteinhäuschen mit Panoramablick auf die Basilika von Montmartre, die bei dem schönen Wetter mit ihrem minarettartigen Glockenturm und ihrem mediterranen Weiß wie eine Moschee anmutet.

Die Erste auf der Liste ist Madame Aurillac, 67, die seit mehr als vierzig Jahren ein kleines Restaurant mit Tagesgericht führt, fünf Anzeigen allein von ihr. Ein niedriges Haus, Speiseraum ebenerdig, im Stock darüber zwei große Fenster mit bestickten weißen Gardinen. Noria öffnet die Tür und tritt ein. An einem Tisch sitzen vier betagte Frauen lachend bei einem Schwätzchen und einer Flasche Suze, in der nicht mehr viel drin ist, elf Uhr vormittags und schon beschwipst.

»Madame Aurillac?«, fragt Noria.

Die vier Frauen richten ihre Blicke auf sie, taxieren sie. Mittelgroß, die Figur in Hose und Jacke aus braunem Segeltuch nicht erkennbar, leicht mondgesichtig, glanzloser Teint, undurchdringliche schwarze Augen unter markanten Brauen, das schwarze Haar zu einem straffen Knoten gebunden.

»Zu streng und schlecht frisiert«, sagt die erste.

Eine stark geschminkte aufgetakelte Blonde setzt nach: »Bist du Anfängerin?«

»Man könnte vielleicht den exotischen Aspekt stärker hervorheben«, sagt die dritte.

Noria zückt ihre Karte. »Polizei.«

Die Alten sind konsterniert. Eine der Frauen erhebt sich, schwarze Schürze um die Taille, gefärbte Kräuseldauerwelle, Pantoffeln. »Ich bin Madame Aurillac. Hier liegt eine Verwechslung vor. Wir haben einen Termin mit einer Bewerberin …«

»Wegen einer Anstellung als Putzfrau«, ergänzt die Blonde.

Just in diesem Moment erscheint die Bewerberin, frisiert, geschminkt, Pfennigabsätze, schwarzer Minirock und hautenges rosa Baumwolloberteil, bauchfrei und mit überbordendem Busen, alles wie aus dem Bilderbuch. Madame Aurillac eilt zu ihr, zieht sie hinter sich her auf die Straße, spricht ein paar Worte zu ihr und kehrt allein ins Restaurant zurück.

»Dies ist ein seriöses Haus, müssen Sie wissen. Fragen Sie Inspektor Santoni, er isst oft hier zu Abend.«

Santoni, Macho, Wampe und offenbar gut im Viertel eingeführt, der fehlte gerade noch.

»Möchten Sie etwas trinken, einen kleinen Suze vielleicht?«

»Danke nein, Madame. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihre Anzeigen wegen der Knallfrösche zu reden.«

»Wir haben auch Anzeige erstattet«, rufen die anderen im Chor.

»Es ist nicht nur wegen der Knallfrösche. Das sind ungezogene kleine Rowdys. Sie kommen aus den Sozialwohnungsblocks weiter unten und machen hier auf dem Hügel nichts als Ärger.«

»Sie spielen spät abends auf der Straße Fußball und drehen dabei ihre Radios auf volle Lautstärke, diese Hottentottenmusik.«

»Würden Sie sie wiedererkennen?«

»Die sehen doch alle gleich aus, sind alles Araber …« Madame Aurillac verstummt und sieht Noria verlegen an. »Das wollte ich so nicht sagen.«

»Was wollten Sie denn sagen?«

»Glauben Sie, Sie können diesem Treiben ein Ende machen?«

»Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Sie steht auf.

»Nicht doch ein kleines Tröpfchen?«

Draußen atmet sie tief durch. Das entspannt. Heute Abend einen Bericht … Worüber? Die Puff-Oma-Gang? Santonis Freizeitgestaltung? Da wären mir die Pekingenten doch lieber gewesen.

Mal unten bei den Sozialbauten vorbeischauen. Direkt gegenüber ein Geschäft mit Spielwaren, Bürobedarf, Büchern, geführt von einem alten Ehepaar in weißen Kitteln, klein, krumm, freundlich.

»Polizei«, sagt Noria.

Die beiden sehen sich an, sie schiebt sich hinter ihn.

»Routinebefragung. Verkaufen Sie Knallfrösche?«

»Sicher. Vor allem jetzt, vor dem 14. Juli. Wie alle Spielwarenläden. Nicht wahr, Mutti?«, sagt er und dreht sich zu seiner Frau um.

Sie nickt.

»Knallfrösche mit langer Lunte?«

»Ja, auch.« Er zögert. Natürlich weiß er von der Sache mit der Hundekacke. Aber deswegen gleich die Polizei rufen …

»Und Ihre Kunden sind …«

»Da sind sie ja«, sagt die kleine Alte, »wie immer um die Mittagszeit, wenn’s draußen schön ist.«

Zwei Jungs, zehn, zwölf Jahre alt, im Trainingsanzug, arrogante kleine Machos. Noria nimmt sie an der Hand und lässt sie auf einer Bank gegenüber dem Geschäft Platz nehmen.

»Noria Ghozali, Polizeiermittlerin.«

»Nasser«, sagt der größere der beiden.

Ende der Vertraulichkeiten.

»Die Knallfrösche in den Hundehaufen hier auf dem Hügel sind von euch.«

»Wen stört das? Wir sind nicht die Ersten und nicht die Einzigen.«

»Aber ihr seid die Letzten. Ihr hört auf, ihr sagt das euren Kumpels, und wir reden nicht mehr darüber. Ihr findet schon was anderes, da habe ich volles Vertrauen in euch. Man muss flexibel sein.«

Zurück im Kommissariat. Noria durchquert den Bereitschaftsraum, grüßt die uniformierten Polizisten, steigt die Treppe zu den Büros im ersten Stock hoch – und bleibt stehen. An die Wand geheftet drei kleine fotokopierte Plakate: »Keine Kanaken bei der französischen Polizei«, dazu eine Zielscheibe auf einer Silhouette, die der ihren gleicht. Sie steht wie gelähmt auf der Treppenstufe. Allein. Lass dich nicht fertigmachen. Das bist nicht du. Steuert langsam auf die Toiletten zu, stocksteif. Schließt sich ein. Wäscht sich gründlich die Hände, dann das Gesicht, betrachtet sich dabei prüfend im Spiegel, bringt den Haarknoten in Ordnung. Dann geht sie in ihr Büro und schreibt den Bericht. Urheber der Anschläge identifiziert. Problem erledigt.