Rechtswissenschaftliches Arbeiten

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Rechtswissenschaftliches Arbeiten
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Tim W. Dornis / Florian Keßenich / Dominik Lemke

Rechtswissenschaftliches Arbeiten

Ein Leitfaden für Form, Methode und Inhalt zivilrechtlicher Studienarbeiten

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

  § 1 Einführung

 § 2 GrundlagenI. Differenzierung: Gutachterliche Falllösung und ThemenarbeitII. Gutachterliche Falllösung1. Ausgangspunkt: Aufgabenstellung2. Grundlage der Falllösung: SachverhaltIII. Themenarbeit1. Themenauswahl2. Themenformulierung und Exposé3. Kategorien4. Vorgehensweise und Fertigstellung

 § 3 RechercheI. Juristische Bibliotheken1. Allgemeines2. QuellenrechercheII. Online-Datenbanken1. Juris2. Beck-online3. Jurion4. Westlaw und LexisNexisIII. Frei zugängliche Internet-Quellen1. Eine Warnung vorweg2. Zuverlässige Online-Informationsquellen3. Problematische Online-InformationsquellenIV. Exkurs: Literaturverwaltungsprogramme

 § 4 Aufbau und GliederungI. DeckblattII. Sachverhalt und AufgabenstellungIII. Gliederung1. Juristische Falllösungen2. Juristische Themenarbeiten3. ÜberschriftennummerierungIV. Literaturverzeichnis1. Allgemeines: Grundsätze2. Aufbau3. Kategorien und Sonderregeln4. Schließlich: Layout und optische GestaltungV. RechtsprechungsverzeichnisVI. AbkürzungsverzeichnisVII. Eidesstattliche Erklärung

 § 5 Zitate und NachweiseI. Rechtlicher Regelungsrahmen1. Überblick: „Verbotstatbestand Plagiat“2. Definitionsversuche3. Zusammenspiel der Regelungsbereiche4. Einzelne RechtsgebieteII. Praktische Konsequenzen für die Zitatgestaltung1. Wörtliche Übernahme2. Umformulierung (Paraphrasierung)III. Weitere Grundsätze1. Allgemeines2. Zitierfähigkeit: Veröffentlichung und Bestandsdauer3. Vorrang der Primärquellen4. Inhaltliche Schranken: nicht zitierfähige Quellen und Internet-QuellenIV. Fußnotenformat, -struktur und -inhalt1. Anbindung der Fußnoten im Text2. Struktur der Fußnoten3. Vollbeleg und Kurzbeleg4. Folgezitate5. Umfang der FußnotenV. Zitierregeln für einzelne Kategorien juristischer Quellen1. Rechtsvorschriften2. Rechtsprechung3. Literaturquellen4. Sonderfall: Ausländische und fremdsprachige Quellen

 § 6 Sprache, Gutachtentechnik und MethodikI. SpracheII. Gutachtentechnik und Methodik1. Ausgangspunkt: Fallfrage und Anspruchsgrundlagen2. Juristischer Syllogismus3. Auslegung von Rechtsnormen4. Umgang mit und Lösung von Meinungsstreiten5. Frage: Originalität und Innovation?III. Ausnahme: Urteilsstil

 § 7 Die RemonstrationI. EinleitungII. Rechtsschutz gegen KorrekturenIII. Das Überdenkungsverfahren – Voraussetzungen und Ablauf1. Voraussetzungen2. Caveat: Bestandskraft der Prüfungsentscheidung3. Risiko: Reformatio in peiusIV. Beispiele: „Fehler“ in der Korrekturpraxis1. Fehler bei der Ermittlung des Sachverhalts und der Fragestellung2. Prinzip der Vertretbarkeit3. Gleiches wird ungleich bewertet4. Sachfremde Erwägungen5. Äußerungen zu Form, Ausdruck und Sprache sowie RechtschreibungV. Abschließende Hinweise zur Abfassung einer Remonstration

 § 8 Anhang: MusterhausarbeitSachverhaltHinweise für die Bearbeitung1. Termine2. Umfang und FormatierungGliederungLiteraturverzeichnisA. Ansprüche K gegen VI. Anspruch auf Übereignung des Bienenvolkes aus § 433 Abs. 1 BGBII. Schadensersatz wegen Unmöglichkeit (§§ 280, 283 BGB)III. Anspruch auf Ersatzherausgabe (§§ 285, 963 BGB)B. Ansprüche V gegen KI. Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB)C. Ansprüche D gegen KI. Anspruch auf Übereignung des Miteigentums (§ 433 Abs. 1 BGB)II. Schadensersatz aus §§ 280, 281 Abs. 1, 433 BGBIII. Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 3, 241 Abs. 2 (c.i.c.)IV. Schadensersatz aus § 122 BGB analogD. Anspruch des D gegen T gem. § 179 Abs. 1 BGBE. Anspruch K gegen I gem. § 749 Abs. 1 BGBI. GemeinschaftII. Teilung in Natur, § 752 BGBIII. Teilung durch Verkauf, § 753 BGBIV. ErgebnisEidesstattliche Erklärung

  Literaturverzeichnis

  Weiterführende Literatur

  Stichwortverzeichnis

[Zum Inhalt]

|V|Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand aus der Erfahrung mit den zivilrechtlichen Übungen und Methodenkursen im Studiengang Rechtswissenschaft an der Leuphana Law School. Wie an jeder juristischen Fakultät und in allen juristischen Studiengängen stellen Prüfungsleistungen in Form von Haus- und Studienarbeiten die Studierenden immer vor besondere Herausforderungen. Eines der Ziele jeder Lehrveranstaltung, in der eine Haus- oder Studienarbeit zu erstellen ist, muss darum auch in der Vermittlung von Fähigkeiten bei der Anwendung juristischer Methoden liegen. Die Beherrschung der Systematik und der Methodik der Falllösung sind nicht nur für das grundständige Studium, sondern auch und gerade für die Fortsetzung nach dem ersten Abschluss, für eine sich anschließende weitere akademische Qualifikation, vor allem aber für die spätere Tätigkeit in der Praxis von essentieller Bedeutung. Ein weiterer unverzichtbarer, wenngleich häufig vernachlässigter Bestandteil des juristischen „Handwerkszeugs“ neben den genannten Aspekten der Systematik und Methodik ist der souveräne Umgang mit juristischen Quellen. Dies gilt mit Blick auf die Recherche, die Auswertung und Analyse sowie die Verarbeitung, vor allem bei der Erstellung von Gutachten und Themenarbeiten. Die Qualität der juristischen Arbeit bestimmt sich letztlich aus der Gesamtheit dieser Kenntnisse und Fähigkeiten.

Das Buch wurde im Juni 2018 fertiggestellt. Wir danken den bei der Recherche und Erstellung mitwirkenden studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls, Lydia Dammann-Tamke, Juliane Dietrich, Charlotte Düring, Lina Gelvez, Manuel Heigl, Theresa Henne, Tobias Kircher, Julia Lehmann, Birte Soetbeer, Mareike Rutz, Vera Nordbeck, Bettina Schmiedler, Theresa Fischer, Julian Wernicke und Nele Marie Herbold sowie Christian Strunk ganz herzlich.

Lüneburg, im August 2018 Tim W. Dornis,

Florian Keßenich

und Dominik Lemke

[Zum Inhalt]

|1|§ 1 Einführung

Ziel dieses Lehrbuches ist es, Studierenden[1] die Grundregeln juristisch-wissenschaftlicher Arbeit, insbesondere das richtige Recherchieren, den richtigen Aufbau einer Haus- oder Seminararbeit sowie das korrekte Zitieren zu vermitteln.

Immer wieder zeigt es sich bei der Korrektur von Haus-, Seminar- sowie Bachelor- oder Masterarbeiten, dass die Grundzüge juristisch-wissenschaftlichen Schreibens nicht beherrscht werden. Das ist wenig überraschend. Schließlich sehen juristische Studiengänge traditionell nur selten eine gesonderte Lehrveranstaltung zum wissenschaftlichen Arbeiten vor. Insoweit sind die Studierenden meist auf eine weitestgehend autodidaktische, zum Teil aus der Not heraus rein eklektische Herangehensweise im Sinne eines Learning by doing verwiesen.

 

Dieser Zustand ist zu bedauern. Die Fähigkeit zur effizienten Quellenrecherche, zur konkreten Falllösung oder zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Thema sowie letztlich auch und gerade zum Verfassen strukturierter und verständlicher Texte ist ein wesentliches Qualifikationsmerkmal der Juristen. Neben der Kenntnis des Rechts ist es gerade die Fähigkeit zu seiner Anwendung, die den Juristen auszeichnet. Das Anfertigen von Hausarbeiten vermittelt die hierzu erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zwangsläufig. Man kann insoweit geradezu von einer unverzichtbaren persönlichkeitsbildenden „Erfahrung“ sprechen. Nicht nur ist der Studierende bei der Bearbeitung gefordert, eigenständig und unabhängig an der Fallfrage zu arbeiten. Die Falllösung stellt mit Blick auf den Umgang mit den stets knappen „Ressourcen“ erhebliche Anforderungen. Dies betrifft vor allem die zur Bearbeitung zur Verfügung stehende Zeit, die Verfügbarkeit der Quellen und den Umgang mit eigenem Fach(nicht)wissen. Die Lerneffekte sind vielfältig. Zu nennen sind allerdings vor allem die systematische Herangehensweise an die Falllösung oder Forschungsfrage, die Auseinandersetzung mit der juristischen Denkweise, aber auch Fragen des Zeitmanagements.

Wenngleich der Schwerpunkt auf dem richtigen Umgang mit der Rechtsprechung und Literatur, dabei insbesondere dem korrekten Zitieren liegt, erschöpft sich dieses Lehrbuch nicht in diesen Grundfragen. Es soll den Studierenden vielmehr als Anleitung bei allen Arbeitsschritten einer juristischen Studienarbeit dienen. Es beginnt daher allgemein mit Fragen der Herangehensweise an juristisch-wissenschaftliche Arbeiten (§ 2). Dies wird ergänzt durch Leitlinien zur Recherche (§ 3). Erläuterungen zu Aufbau und Bestandteilen einer juristisch-wissenschaftlichen Arbeit folgen, mit |2|besonderem Fokus auf Fragen der richtigen Erstellung eines Literaturverzeichnisses (§ 4). Ein weiterer Schwerpunkt ist der korrekte Umgang mit Quellen im Rahmen von Nachweisen und Zitaten, vor allem der Fußnotengestaltung (§ 5). Nach einem Kapitel zu Stil und Sprache bei juristisch-wissenschaftlichen Texten (§ 6) widmet sich die Arbeit schließlich dem immer noch vernachlässigten Thema der Remonstration (§ 7). Der Anhang enthält eine Musterhausarbeit im Zivilrecht, wie sie in juristischen Studiengängen etwa als Gegenstand einer „kleinen Übung“ angefertigt wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches wird immer wieder exemplarisch auf Teile der Hausarbeit verwiesen.

[Zum Inhalt]

|3|§ 2 Grundlagen

Vorab soll ein Überblick zur grundsätzlichen Herangehensweise an eine juristisch-wissenschaftliche Arbeit gegeben werden. Wenngleich es hierzu keinen „Königsweg“ und kein klares und umfassend gültiges Regelwerk im Sinne eines one-size-fits-all geben mag, ist doch klar, dass sich Fehler und Unsicherheiten bei der Herangehensweise an juristisch-wissenschaftliche Arbeiten immer in der Qualität des Inhalts einer Arbeit niederschlagen. Selbst hervorragende Rechtskenntnisse und methodische Fähigkeiten kommen nicht hinreichend zur Geltung, wenn die Grundregeln der Erstellung juristisch-wissenschaftlicher Arbeiten nicht beherrscht werden.

I. Differenzierung: Gutachterliche Falllösung und Themenarbeit

Es gibt zwei Kategorien juristisch-wissenschaftlicher Arbeiten im Studium. Ein Großteil dieser schriftlichen Arbeiten verlangt von den Studierenden eine sogenannte gutachterliche Falllösung. Dies sind die Hausarbeiten der kleinen und großen Übung, die vor allem in Staatsexamensstudiengängen als Leistungsnachweis erwartet werden. Daneben erfordert das Studium gerade in späteren Semestern regelmäßig sogenannte Themenarbeiten, so insbesondere in Form von Seminar-, Bachelor- oder Masterarbeiten sowie von schriftlichen Hausarbeiten im Rahmen des Schwerpunktbereiches.[2]

II. Gutachterliche Falllösung

Literatur: Bydlinski, Franz/Bydlinski, Peter, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Auflage, Wien 2012, S. 17ff.; Hildebrand, Tina, Juristischer Gutachtenstil, 2. Auflage, Tübingen 2011, S. 95ff.; Klaner, Andreas, Wie schreibe ich juristische Hausarbeiten, 3. Auflage, Berlin 2003, S. 78ff.; Körber, Torsten, Zivilrechtliche Fallbearbeitung in Klausur und Praxis, JuS 2008, 289, 290ff.; Mann, Thomas, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Auflage, München 2015, § 5; Putzke, Holm, Juristische Arbeiten erfolgreich schreiben, 5. Auflage, München 2014, |4|S. 6ff., 27ff.; Reimer, Franz, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016, S. 52ff.; Rollmann, Christian, Die juristische Hausarbeit, JuS 1988, 42, 43f.

Einstiegsfall (verkürzter Abschnitt aus der Musterhausarbeit im Anhang):

Hobbyimker V einigt sich im Oktober 2014 mit K über den Verkauf eines Bienenvolkes für € 150. Eines seiner Bienenvölker wird mit Sicherheit – voraussichtlich Ende Juni 2015 – eine neue Bienenkönigin hervorbringen. Die alte Bienenkönigin wird dann zusammen mit einem Großteil des alten Volkes aus einem der Bienenkörbe ausziehen. Sobald dies geschieht, soll der Schwarm gefangen und dem K übereignet werden.

Ende Mai 2015 kommt es zum verfrühten Ausbrechen des neuen Schwarms. Vom Nachbarn N informiert, eilt der V gerade noch rechtzeitig hinzu, um den Schwarm zu verfolgen. Auf einer Eiche wenige Kilometer weiter lässt sich die Königin mit dem Schwarm nieder. Für V vollkommen unerwartet kommt es dort zur Vereinigung mit einem weiteren, am selben Tag in der Nähe ausgezogenen Schwarm des Imkers (I), der diesen ebenfalls verfolgt hat. V und I gelingt es, das nun vereinigte große Volk in einen von V mitgebrachten Bienenkorb zu überführen.

K ist über die Vereinigung sehr verärgert. Er habe schließlich sein „eigenes“ Volk erwerben wollen. Da sich das neue Bienenvolk nicht mehr aufteilen lasse, müsse er sich die ganze Angelegenheit nochmals überlegen.

Wie ist die Rechtslage?

Ist die Arbeit als Falllösung konzipiert, so sind zunächst der Sachverhalt und die Fragestellung zu erfassen. Dies ist selbstverständlich. Dennoch ist die Ursache einer überwiegenden Anzahl von Fehlern bei der Bearbeitung das Fehl- oder Nichtverständnis des Sachverhalts oder der Aufgabenstellung. Zum Teil werden Fallfragen falsch verstanden oder sogar ganz oder teilweise übersehen.

1. Ausgangspunkt: Aufgabenstellung

Für die Erstellung einer gutachterlichen Falllösung kommt es zunächst auf die Aufgabenstellung – d.h. die konkrete Fallfrage – an. Die Fallfrage steht am Anfang und im Zentrum der Bearbeitung. Nur bei genauer Kenntnis und Beachtung der Fallfrage kann der Sachverhalt mit der richtigen Konzentration und Gewichtung verstanden und beurteilt werden.[3]

Eine zivilrechtliche Aufgabenstellung ist in der überwiegenden Zahl aller Fälle daran ausgerichtet, Ansprüche der Beteiligten zu prüfen. Dies kann bereits konkret für ein bestimmtes Verhältnis und einen bestimmten Anspruch formuliert sein:

 Kann V von K den Kaufpreis in Höhe von € 3.000 verlangen?

 Hat B gegen U einen Anspruch auf Nacherfüllung?

|5|In diesen Fällen ist nur das konkrete Verhältnis (hier: V – K, B – U) und der bestimmte Anspruch (hier: Kaufpreis, Nacherfüllung) zu prüfen. Ausführungen zu Beziehungen zu oder zwischen anderen im Sachverhalt auftauchenden Personen wären nicht nur verfehlt und führten zu Punktabzügen. Sie raubten auch wertvollen Platz für die relevanten Ausführungen.

Die Fragestellung kann aber auch weiter gefasst sein:

 Kann A von B die Zahlung von 5.000 € verlangen?

 Hat C gegen D einen Anspruch auf Schadensersatz?

 Wer ist Eigentümer des PKW?

In diesen Fällen ist die Bandbreite der zu prüfenden Ansprüche und Anspruchsgrundlagen weiter. Es muss dann dem Sachverhalt entnommen werden, woraus sich etwa der Zahlungsanspruch ergeben kann. Dies könnte ein vertraglicher Anspruch, etwa auf Kaufpreiszahlung, ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung oder ein Schadensersatzanspruch, sei es aus Vertrag (§§ 280ff. BGB) oder aus Delikt (§§ 823ff. BGB), sein, wobei mehrere dieser Grundlagen zu prüfen sein können.

Schließlich kann die Aufgabenstellung auch ganz allgemein – wie in der anhängenden Musterhausarbeit – gehalten sein:

 Wie ist die Rechtslage?

In diesem Fall sind sämtliche vernünftigerweise in Frage kommenden Ansprüche zwischen den beteiligten Personen zu prüfen.[4]

2. Grundlage der Falllösung: Sachverhalt

Vor dem Hintergrund der konkreten Aufgaben- oder Fragestellung ist der Sachverhalt zu erfassen. Die Feststellung des Sachverhalts ist, wie es Franz Bydlinski treffend erklärt hat, der erste Schritt zu einer rationalen Rechtsgewinnung.[5] Entscheidend ist das genaue Verständnis aller Tatsachen. Es gilt der Grundsatz, dass jeder Satz des Sachverhalts eine Bedeutung für die Falllösung haben kann – und in der Regel auch hat. Oftmals verbergen sich Hinweise z.B. in wörtlichen Äußerungen der Beteiligten. Aber auch Zeit- oder Ortsangaben können von Bedeutung sein. Die Bedeutung derartiger Hinweise erschließt sich zuweilen erst nach einer gründlichen und zeitlich ausgedehnten Befassung mit dem Sachverhalt. Es ist daher sinnvoll und ratsam, den Sachverhalt auch während der Bearbeitungszeit immer wieder zu lesen.[6] Ob es erforderlich ist – wie es vereinzelt empfohlen wird – den Sachverhalt abzutippen, mag dahinstehen.[7] Entscheidend ist allerdings, dass der Sachverhalt gründlich und vollständig gelesen und verstanden wird. Dabei darf der Sachverhalt nicht „überinterpretiert“ werden, d.h. die geschilderten Tatsachen sind so hinzunehmen, wie sie |6|vom Aufgabensteller formuliert wurden.[8] Keineswegs dürfen Probleme ergänzt oder Fragen beantwortet werden, die der Sachverhalt überhaupt nicht aufwirft.

Nur auf der Grundlage einer gründlichen Sachverhaltserfassung kann Wichtiges von Unwichtigem unterschieden und können die einzelnen Bestandteile des relevanten Sachverhalts in ihrer Bedeutung für die rechtliche Lösung eingeordnet werden. Aus diesem Grund ist es, insbesondere bei komplexen Sachverhalten, auch ratsam, eine Skizze anzufertigen, gegebenenfalls kombiniert mit einer sogenannten Zeitleiste für einen Überblick über den chronologischen Ablauf der Ereignisse im Sachverhalt. Die Reihenfolge der Handlungen und Ereignisse kann von entscheidender Bedeutung sein. Es handelt sich dabei auch keinesfalls um eine Fleißarbeit oder Geduldsübung. Die Umsetzung der Sachverhaltsinformationen in eine logisch-grafische Struktur zwingt den Bearbeiter der Falllösung zum einen dazu, den Sachverhalt tatsächlich umfänglich zu erfassen. Zum anderen ermöglicht die notwendige und meist unvermeidliche Reduktion der Informationen eine Konzentration auf das Wesentliche.

Die nachfolgenden Beispiele einer Beziehungsskizze und Zeitleiste beziehen sich auf den Sachverhalt der Musterhausarbeit am Ende des Lehrbuches.


Abb. 1: Einfache Beziehungsskizze zur Musterhausarbeit


|7|Abb. 2: Detaillierte Beziehungsskizze zur Musterhausarbeit


Oktober 2014: Kaufvertrag zwischen V und K über neues, voraussichtlich Ende Juni 2015 ausziehendes Bienenvolk zum Preis von € 150 (tatsächlicher Wert € 180).
Ende Mai 2015: Verfrühtes Ausbrechen des neuen Volkes und Vereinigung mit einem Schwarm des I.
Kurz darauf: V berichtet K über die Vereinigung; T bietet das Teilvolk auf „The Digital Beemaster“ über den Account des K zur Versteigerung an, Anfangspreis € 60.
Darauffolgender Abend: Anderes Mitglied bietet dem K für das Teilvolk € 210, K nimmt sofort an und fordert noch in derselben Nacht per E-Mail von V die Übereignung des Teilvolkes
Nächster Morgen: K erfährt von T über Angebot des D über € 96 für Teilvolk und „zieht das Angebot zurück“
Einige Tage später: D verlangt von K Übereignung des Volkes, anderenfalls Schadensersatz i.H.v. € 108 (entgangener Gewinn)

Abb. 3: Zeittafel zur Musterhausarbeit

 

|8|Hat man die Aufgabenstellung und den Sachverhalt in dieser Form erfasst und strukturiert, kommt es im Anschluss darauf an, die relevanten Rechtsprobleme zu erkennen und zu formulieren.[9]

III. Themenarbeit

Literatur: Beyerbach, Hannes, Die juristische Doktorarbeit: Ein Ratgeber für das gesamte Promotionsverfahren, 2. Auflage, München 2017; Büdenbender, Ulrich/Bachert, Patric/Humbert, Doreen, Hinweise für das Verfassen von Seminararbeiten, JuS 2002, 24, 24ff.; Brandt, Edmund, Rationeller schreiben lernen, 5. Auflage, Baden-Baden 2016, S. 40ff.; Bull, Hans-Peter, Wie „riskant“ sind Themenarbeiten? – Hilfestellungen und Tipps für Studierende, JuS 2000, 47, 47ff.; Franck, Norbert/Stary, Joachim (Hrsg.), Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens, 17. Auflage, Paderborn 2013, S. 151ff.; Konrath, Christoph (Hrsg.), SchreibGuide JuS, 3. Auflage, Wien 2013, S. 33ff., 99ff.; Mann, Thomas, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Auflage, München 2015, S. 191ff.; Möllers, Thomas M.J., Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 8. Auflage, München 2016, S. 159ff.; Noltensmeier, Silke/Schuhr, Jan C., Hinweise zum Abfassen von (Pro)Seminararbeiten, JA 2008, 576, 577ff.; Schimmel, Roland/Weinert, Mirko/Basak, Denis, Juristische Themenarbeiten, 2. Auflage, Heidelberg 2011, S. 173ff.; Thieme, Werner, Die Anfertigung von rechtswissenschaftlichen Doktorarbeiten, 2. Auflage, Göttingen 1963, S. 7ff.

Bei einer juristischen Themenarbeit sind weniger strenge Regeln der Herangehensweise zu beachten als bei einer Falllösung. Allerdings erfordert auch die Vorbereitung einer Themenarbeit eine systematische Herangehensweise. Streng genommen lassen sich auch für Themenarbeiten zwingende Regeln für die Tatsachen- und Themenerfassung sowie die Abstraktion der Fragestellung formulieren. Insoweit bestehen zahlreiche Parallelen zur Bearbeitung einer juristischen Falllösung.

Zwar sieht sich der Studierende bei einer Themenarbeit keinem vorgegebenen „zu lösenden“ Sachverhalt mit Aufgabenstellung gegenüber. Am Anfang der Bearbeitung steht vielmehr eine Forschungsfrage. Diese gleicht der Aufgabenstellung allerdings zumindest insoweit, als es auch bei wissenschaftlichen Forschungsfragen (z.B. „Was sind die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem britischen Recht der Anfechtung und Unwirksamkeit von Willenserklärungen?“) in erster Linie darum geht, die für die Beantwortung relevanten Rechtsprobleme herauszuarbeiten und im Sinne einer juristischen Fallbearbeitung zu „lösen“.

Zudem fehlt es bei Themenarbeiten in der Regel nicht an einem „Sachverhalt“. Auch Themenarbeiten befassen sich – wenngleich die Forschungsfrage abstrakt formuliert sein mag – mit der Lösung von Fällen. Dies erfolgt weitaus abstrakter und weniger detailbezogen als bei der Falllösung. Nur die wenigsten Themenarbeiten werden aber ohne Bezugnahme auf konkrete Fallbeispiele (aus der Rechtsprechung oder hypothetischer Natur) auskommen. Dennoch kommt einer „Sachverhaltserfassung“ bei Themenarbeiten in der Regel deutlich weniger Bedeutung zu als bei der juristischen Falllösung.