Der letzte Admiral 3: Dreigestirn

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Aus der Reihe: Der letzte Admiral #3
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Sie vertrauten sich Dalia an und fuhren damit ganz gut.

Sie hätten nun, da es richtig dunkel war und mancher Hive den Sternenhimmel verdeckte, den Weg niemals gefunden und wären möglicherweise am Dorf vorbeigelaufen, ohne es zu merken. Es flackerten einige Nachtlichter, die man leicht hätte übersehen können. Dalia aber kannte sich aus und als sie die Siedlung erreicht hatten, waren sie alle sehr müde, sehr durstig und sehr überwältigt.

Egal wie schlecht es ihnen ging, der Anblick von hier unten, aus direkter Nähe, war noch einmal etwas ganz anderes.

Die Menschen hier lebten nämlich in einem ausgehöhlten Hive. Es gab Gebäude links und rechts, an das Monstrum geschmiegt, aber es wurde rasch deutlich, dass sich das meiste Leben tatsächlich in seinem Inneren abspielte.

Das war beeindruckend.

Eine Galerie aus Holz führte außen spiralförmig am dunklen Stumpf empor. Der Hive war keiner der ganz großen, vielleicht dreiviertel von dem, der neben Metropole 7 stand, und er roch auch nicht so streng. Hier gab es keine Jauchegrube. Und die benachbarten Stöcke waren jeder fast einen Kilometer entfernt, hatte ihnen Dalia erklärt. Ihr Staunen hatte sie entweder erfreut oder amüsiert, so genau war das in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

Sie führte sie die Treppe hinauf, einmal halb um den mächtigen, toten Hive herum, bis sie an einen Eingang kamen, vor dem eine Nachtwache stand und Dalia herzlich begrüßte. Es folgte eine schnelle Abfolge von Worten, die aus einer Sprache stammten, die offenbar nicht »alt« war und damit für Ryk und die Seinen völlig unverständlich. Als sich die Tür öffnete, fiel Licht ins Freie. Zivilisation. Obdach. Sicherheit. Wasser. Vor allem Wasser.

Ein großer Raum offenbarte sich ihnen, einem Schankraum nicht unähnlich. Zwei Männer, zwei Frauen, alle mit Messern bewaffnet und plötzlich sehr aufmerksam und angespannt. Wieder sagte Dalia einige Worte und es kehrte ein wenig Ruhe ein, aber die Aufmerksamkeit blieb.

»Die Nachtwache«, stellte Dalia die Gruppe vor. »Skell, bring unseren Gästen Wasser.«

Skell, dem Aussehen nach der Jüngste in der Gruppe, erhob sich klaglos, während die Neuankömmlinge sich hinsetzten. Nur Momo traute den Holzstühlen nicht und blieb stehen. Er zog furchtsame Blicke auf sich, ein Gefühl, das er gewiss gut kannte. Das Wasser, fast einen Eimer voll, nahm er dennoch mit Dankbarkeit und der ihm eigenen Demut entgegen.

»Besucher aus Kryv?«, fragte einer der anderen. Er verwendete höflicherweise die alte Sprache, was Ryk anerkennend zur Kenntnis nahm. Dalia hatte ihn gewiss darauf hingewiesen.

»Nein, Xander. Sie sagen, sie kämen von den Sternen.«

»Ah.« Wieder diese eher indifferente Reaktion. Es schien sich nicht um eine völlig absurde Vorstellung zu handeln, oder man hielt sie schlicht für etwas verrückt. Ryk setzte sich, streckte die schmerzenden Beine aus, trank Wasser, bis er genug hatte, und fühlte sich mit einem Schlag sehr müde. Ob die Gastfreundschaft über die Versorgung mit Flüssigkeit hinausreichte? Es war so viel spaßiger, auf die bereits bestehenden Missverständnisse weitere aufzuhäufen, wenn man ausgeschlafen war.

In der Tat ließ die Gastlichkeit ihrer Gönner nichts zu wünschen übrig. Als der Nachtwache klar wurde, dass die erschöpften Besucher nicht viel zu einem Gespräch beizutragen hatten, wurden ihnen in einem Schlafsaal Betten zugewiesen, die in die dicke Borke des Hives gemeißelt worden waren. Sogar Momo fand darin mit angezogenen Beinen Platz. Sie wuschen sich behelfsmäßig mit Schüsseln voller warmem Wasser und legten sich hin. Ryk benötigte keine Minute, um in einen tiefen und erleichterten Schlaf zu fallen.

Als er wieder erwachte, merkte er erst richtig, dass die Luft im Inneren des toten Hives alles andere als schwül und stickig war. Tatsächlich war sie angenehm kühl und Ryk genoss dieses Gefühl. Er hatte damit gerechnet, schweißgebadet zu erwachen, malträtiert durch einen unruhigen Schlaf, aber das Gegenteil war der Fall. Er richtete sich auf, sah sich um und bemerkte, dass die anderen schon auf waren und ihn hatten ruhen lassen. Das war auf der einen Seite sehr nett, auf der anderen aber auch etwas traurig, zeigte es doch, dass seine Anwesenheit nicht wirklich erforderlich war. Getrieben von dem Bedürfnis, nichts zu verpassen, schwang er seine Beine aus dem Bett, unterzog sich einer vielleicht etwas zu oberflächlichen Morgentoilette und betrat dann den Wachraum der Nachtwache, von der nur noch Dalia anwesend war. Stattdessen war eine Gruppe von anderen Wachleuten eingetroffen, zweifelsohne die Tagesschicht, sowie drei weitere, ältere Personen, die Ryk alle auf die eine oder andere Weise an Uruhard erinnerten.

Ryk hatte spätestens seit seiner Begegnung mit Ritas Großvater auf der Perlenwelt gemerkt, dass Menschen mit fortgeschrittenem Alter nicht notwendigerweise klüger oder einsichtiger wurden als jüngere. Viele waren verbohrt, unbeweglich, getrieben von den Geistern ihrer Vergangenheit, gefangen im ewigen Rückblick. Er war daher nicht bereit, dem ehrwürdig dreinschauenden Gremium mehr als nur einen sehr übersichtlichen Vertrauensvorschuss zu geben.

»Ah, Ryk«, begrüßte Sia ihn lächelnd. Sie schob ihm einen Holzteller zu, in dem eine Art Porridge vor sich hin dampfte. Dann gab sie ihm einen Löffel. »Ist lecker und pappt einem übel den Magen zu. Da drüben ist frisches Trinkwasser.« Ein zugepappter Magen erschien Ryk spontan verheißungsvoll, denn sobald er den süßlichen Duft des Getreidebreis wahrnahm, machte sich sein Bauch mit einem schmerzhaft intensiven Hungergefühl bemerkbar.

»Du hast nichts verpasst. Die drei da haben bisher nur Small Talk betrieben. Alle warten auf den Chef der Skrutinatoren.«

»Was sind das für Leute?«

»So was Ähnliches wie die Regierung dieser Siedlung. Sie sind vor allem damit befasst, Situationen und Personen zu bewerten. Es gibt offenbar Aufnahmekriterien für diesen Ort.«

»Wir wollen uns hier doch nicht ansiedeln?« Ryk stopfte sich den ersten Löffel Porridge in den Mund und genoss ihn. Er war nicht zu schleimig und hatte eine angenehme, unaufdringliche Süße, die sogleich seinen Appetit anregte. Zumindest dieses Frühstück war ein Anreiz, länger zu bleiben.

»Wir haben vielleicht keine Alternative«, murmelte Sia. Ryk nickte, schwieg und aß.

Uruhard plauderte mit den drei Alten und soweit Ryk es mitbekam, ging es nur um allgemeine Eindrücke, vor allem um die Frage, wie es gelingen konnte, in einem toten Hive zu leben. Er erfuhr, dass es relativ leicht war, von einem solchen Besitz zu ergreifen, wenn er erst ausgebrannt war, ein Hinweis darauf, dass das von ihnen letzte Nacht beobachtete Phänomen keine Seltenheit war. Noch etwas fiel ihm auf: So freundlich und mitteilsam die drei auch waren, ihre Blicke fielen immer wieder auf Sia. Er wusste nicht, ob die anderen es ebenso bemerkten, aber Uruhard wurde nur mit eher höflicher Aufmerksamkeit bedacht, was diesen aber nicht weiter zu stören schien.

»Die haben nur Augen für dich«, sagte er leise zwischen zwei Löffeln Porridge.

»Ja. Seit sie hier aufgetaucht sind«, gab Sia leise zurück. Es war ihr natürlich aufgefallen. Wie hätte er auch anderes annehmen können?

»Du bist eine Schönheit«, versuchte er, eine nette Erklärung zu finden. Sia lächelte dünn, würdigte Ryks Bemerkung aber nicht einmal einer Antwort. Sie ahnten wohl beide, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Erklärung war. Die wackere Dalia, obgleich erkennbar müde, sah bei hellem Licht betrachtet auch sehr gut aus, sie wurde von den drei Alten aber weitgehend ignoriert.

Dann trat diejenige ein, auf die sie alle gewartet hatten.

Und ohne ein weiteres Wort sprechen zu müssen, wurde Ryk klar, warum Sia so intensiv gemustert worden war.

Denn die alte Frau, die sich mit mühsamen Schritten in den Raum schleppte, machte dabei Geräusche. Es war nicht das Stöhnen eines geplagten Körpers, erschöpft von der Last der Jahre und der Anstrengung der Fortbewegung, kein Seufzen oder Keuchen. Nichts dergleichen kam über die Lippen der fragilen Gestalt. Mit den weißen Spinnenweben als Haupthaar und der fleckigen, fast durchsichtigen Haut war sie beinahe das weibliche Gegenstück zu Ritas Großvater, an den niemand hier gerne zurückdachte.

Das Geräusch, das sie hörten, war ein singendes. Ryk kannte es. Es war das eines sich anstrengenden Elektromotors, verbunden mit einer Hydraulik. Er kannte das Geräusch, denn in Extremsituationen war es auch aus Sias Leib hörbar, es war die Quelle der großen Kraft, die in ihren schlanken Gliedmaßen steckte. Sia war auf dem aktuellen Stand irdischer Technik, was auch immer davon noch übrig war, unterlag ständiger Wartung und war auf der Perlenwelt, als sie noch in Gnaden der Auri gestanden hatten, überprüft und verbessert worden. Danach war sie noch einmal in der Krankenstation der Korvette gewesen, die manches chronische Leid aus ihrem Körper hatte verbannen können. Sie war eine funktionierende, verbesserte und junge Hybride.

Ein Luxus, den die alte Frau schon lange nicht mehr genossen hatte. Soweit ihre Haut zu erkennen war, schien diese grün und blau geschlagen, mit Flecken und Wunden, die wenig mit ihrem Alter zu tun hatten, sondern mit dem, was Sia selbst trocken »verpasste Werkstatttermine« nannte. Die Geräusche, die ihr biomechanischer Hybridkörper von sich gab, ließen nur ein Urteil zu und Sias erschrockenem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie zu einem ähnlichen Schluss gekommen war: Die alte Dame, wie sehr sie auch um Würde rang, um aufrechten Gang, die traurigen, mitleidigen Blicke ignorierend, pfiff aus dem letzten Loch, und das leider nicht einmal im übertragenen Sinne.

Sie war eine Hybride.

 

Und sie stand am Ende ihres Weges.

Sias und ihre Blicke trafen sich. Sia stand auf und ging auf die Dame zu, die angetan war mit einem weiten Kleid aus einem unbekannten Stoff, dunkelgrün, ohne Muster, ein Zelt, in dem sie beinahe verschwand und das hoffentlich nicht so schwer war, wie es aussah.

»Ich bin Sia.«

Die alte Frau starrte sie an und schien jedes Detail ihres Körpers, jede elegante und kraftvolle Bewegung der Jüngeren mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination aufzunehmen. Sie bewegte ihre Lippen, ohne ein Wort zu sagen, als wollte sie erst einmal üben. Dann sprach sie.

»Mein Name ist Cenn. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, eine zu treffen, die wie ich ist. Was für ein wunderschöner, wunderschöner Anblick. Und zugleich so erschreckend.«

Cenns Stimme, leise, wie knisterndes Papier, brach zum Ende hin, überwältigt von einer Rührung, die den zerbrechlichen Leib wie eine Welle zu durchfluten schien.

Sia reichte Cenn die Hand, diese ergriff sie und sofort übernahm Sia es, die alte Frau zu stützen.

»Wir setzen uns«, sagte Cenn, die Stimme etwas gefasster.

Sie taten es, eine langwierige Prozedur unter dem Singen des Elektromotors und unter Beanspruchung von Gelenken, für die bereits alles zu viel war. Cenns Gesicht blieb beinahe ausdruckslos, nur kurz zuckten die Mundwinkel, blinzelten die blassen Augen. Ryk kannte diese Anzeichen, er kannte sie gut aus Sias perfektem Antlitz, wenn der momentane Schmerz der Implantate, des Metalls in der Haut überwältigend schien. Es war jetzt viel besser, seit der Perlenwelt und dem Autodoc der Korvette, weniger Zucken und kein leises, nur nachlässig unterdrücktes Stöhnen mehr. Ein Segen für Sia und einer, den Ryk in diesem Moment von Herzen der alten Frau wünschte.

»Es tut mir so leid«, sagte Cenn. Sie hatte mit beiden Händen Sias Rechte ergriffen und drückte diese fest.

»Was tut Ihnen leid?«, fragte Sia etwas verwirrt.

Cenn teilte diese Verwirrung nun, das war ihr anzusehen. Sie war tatsächlich davon ausgegangen, dass Sia ihre Bemerkung ohne weitere Erklärungen verstand. »Was? Mein Kind. Das, was sie dir angetan haben. Das Leid, die Qualen, die Entbehrungen. Die vielen falschen Versprechungen. Dein Leben muss eine Folter sein, jede Bewegung voller Schmerz. Die ganzen Prozeduren eine Abfolge permanenter Entwürdigung. Nicht mehr die Herrin über den eigenen Körper, sondern Werkzeug jener, die dich missbrauchen. Ich weiß genau, wie du dich fühlen musst, mein Kind. Mein ganzes Leben lang habe ich nichts anderes erlebt.« Sie senkte die Stimme zu einem kaum noch vernehmbaren Wispern. »So bin ich aus Kryv geflohen und das war alles, was ich an Widerstand leisten konnte. Ich entzog mich ihrer Macht und jetzt sitzen sie da, denn ihre einzige Blaupause ist davongelaufen und sie können keine wie mich mehr quälen.« Sie sah Sia intensiv an. »Gib ihnen niemals diese Macht zurück, mein Engelchen. Das musst du mir versprechen.«

Sia wusste nicht, was sie da wem genau versprechen sollte. Mit jedem Wort aus dem Mund der alten Dame war ihre offensichtliche Verwirrung nur noch größer geworden. Sie sah Ryk hilfesuchend an, doch dem fiel nicht mehr ein, als ratlos mit den Schultern zu zucken.

»Mir … geht es gut«, sagte Sia dann und drückte wie zur Bestätigung die Hände der Alten. Ryk erwartete mit jeder Bewegung, dass diese darunter zerbrechen würde, dann aber erinnerte er sich, wen er da vor sich hatte. Niemand zerbrach eine Hybride so leicht, auch nicht eine so alte.

»Gut?«, hauchte Cenn voller Unglauben. »Was kann an deinem Zustand gut sein, mein Kind?«

»Ich fühle mich wohl«, versuchte Sia, sich begreifbar zu machen. »Ich habe keine Schmerzen, zumindest derzeit nicht. Meine Implantate funktionieren. Und mich hat niemand mit falschen Versprechungen zu etwas gezwungen. Ich weiß nicht, was in jenem Ort namens Kryv passiert, ich komme nicht von hier. Vielleicht geschehen dort schlimme Dinge, und wenn das so ist und wenn es Hybride wie uns betrifft, dann will ich es gerne erfahren. Aber dort, woher ich komme, ist es nicht so. Dort wird niemand gezwungen, so zu werden. Viele wünschen es sich freiwillig. Es ist erstrebenswert. Und wenn es das für jemanden nicht ist, muss er es auch nicht werden. Ich hoffe, Sie verstehen mich.«

Cenn hatte die Augen weit aufgerissen. Sie schien diese Worte aufzusaugen wie ein trockener Schwamm das Wasser, ihre Lippen zitterten. Das hörte sich für sie offenbar wie ein Märchen an und sie schüttelte andauernd den Kopf, bis Sia geendet hatte. »Du wurdest nicht aus der Krippe ausgewählt und dann bereitet, gesalbt und geschnitten, um durch die Prozedur den Plänen der Älteren zu dienen?«

»Kein Hybride wird bereits als Kleinkind operiert. Das Mindestalter ist sechzehn, manche sind älter, wenn sie den ersten Eingriff haben. Natürlich dienen wir Hybriden der Gemeinschaft, in die wir hineingeboren wurden, und wir teilen im Regelfall ihre Ziele. Aber es gibt Dissens unter uns, Streit um die richtige Richtung, Mangel an Einigkeit, und hin und wieder auch jene, die die Gemeinschaft deswegen verlassen.«

Für eine Weile hatte es so ausgesehen, als würde Sia selbst in diese Kategorie gehören. Ryk erinnerte sich schmerzhaft daran. Was wäre wohl aus ihr geworden, wenn diese Trennung ernsthafter Natur und nicht nur vorgetäuscht gewesen wäre?

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie nennt ihr euch? Hybride?«

»Das ist unsere Bezeichnung.«

»Wir werden die Erwählten oder Gesalbten genannt.«

»Mit diesem Begriff kann ich nichts anfangen. Seid ihr auf dieser Welt eine Art Religion?«

Cenn lachte, ein Geräusch wie knisterndes Feuer. »So kann man es wohl sagen. Es ist ein Irrglaube, das stimmt gewiss. Einer, von dem ich mich gelöst habe, als eine der letzten lebenden Gesalbten auf dieser Welt. Jetzt dürfte es keine mehr geben. Sie hätten mich gebraucht, um neue zu erschaffen.«

»Wie bitte?«

Sias Stimme enthielt nicht nur Unglauben, sondern auch den Unterton einer bösen Vorahnung.

Cenn zuckte mit den Schultern. Sie sprach monoton, distanziert, wohl die einzige Möglichkeit für sie, den Schrecken ihrer Erinnerung zu konfrontieren. »Wenn wir alt sind, werden wir aufgeschnitten und eine Jüngere oder ein Jüngerer erhält die Gaben, kopiert und platziert nach dem Vorbild des sterbenden und blutenden Vorgängers.«

Sia wurde blass. »Was? Verstehe ich das richtig?« Sie war ganz heiser.

»Sie nennen es das ewige Leben. Leider gilt das nur für die Gaben. Nicht für die Gesalbten.«

»Gaben?«

Cenn streckte einen Arm aus und berührte eines der sich unter Sias Haut abzeichnenden Implantate. »Die Gaben.«

»Verdammt«, flüsterte Sia. Sie schaute an Cenn vorbei ins Leere, bemüht, die Grausamkeit dessen zu erfassen, was die alte Frau ihr gerade mitgeteilt hatte.

Ryk fühlte sich ebenfalls nicht gut. Je weiter er sich von der Erde entfernte, desto mehr begegnete er den Abgründen menschlicher Existenz, die keine Stufe der Barbarei auszulassen schienen. Nicht zum ersten Mal hatte er den Eindruck, dass er besser gar nicht erst auf die Reise gegangen wäre.

»Wo fanden diese Rituale statt? In Kryv?«, fragte Sia dann.

»Ja. Ich floh. Ein Segen für alle, die nach mir kamen.«

»Aber warum? Wozu? Was ist das für ein Ort?«

Cenn seufzte. »Ich erzähle dir alles. Aber jetzt würde ich gerne wissen, wo es solche unserer Art gibt, die diese Last würdevoller tragen als ich – und die den Gesalbten tatsächlich eine Wahl geben.«

»Von der Erde kommen wir.«

»Terra.« Cenn nickte. »Das ist für uns eher eine Legende, aber ich bin in den Dingen der Vergangenheit gebildet genug, um die Wahrheit dahinter zu erkennen. Dalia?«

»Die Geschichte unserer Besucher ist insofern richtig, als dass wir ein Fragment des Dreigestirns entdeckt haben, dem sie entkommen sind.«

»Eine Rettungskapsel«, erklärte Sia. »Wir sind vom Dreigestirn geflohen.«

»Man weiß gar nicht mehr, wer eigentlich der Feind ist, nicht wahr?«, fragte Cenn und sprach damit exakt die Gedanken aus, die Ryk schon lange umtrieben.

Sia begann, ihre Geschichte zu erzählen und Ryk fühlte sich zurückversetzt zu ihrem Empfang auf der Perlenwelt, den großen Hoffnungen und den darauffolgenden großen Enttäuschungen. Diesmal zumindest waren die Hoffnungen moderat und er würde sie auch so halten.

Während Sia erzählte, vergrößerte sich die Schar der Zuhörer langsam. Die Menschen in dieser Siedlung schienen alle eine ähnlich geschneiderte Montur zu tragen, mit Variationen, die sich eher in den Farben ergaben, weniger in den Funktionen. Es war eine praktische Kleidung, sie enthüllte aber noch nichts darüber, wie die Menschen hier lebten und vor allem überlebten. Ryk ahnte, dass sie das früher oder später erfahren würden, und er behielt seine eigenen drängenden Fragen erst einmal für sich.

Als die Sängerin mit ihrer Geschichte fertig war, gab es einige gemurmelte Kommentare, alle mit einem starken Unterton des Unglaubens versehen. Wer wollte es diesen Menschen übelnehmen? Hätte Ryk diese Geschichte gänzlich unvorbereitet vernommen, er hätte sie ebenfalls für die überbordende Fantasie eines Menschen gehalten, der zu viel Zeit damit verbrachte, sich absurde Dinge auszudenken, anstatt einer sinnvollen und produktiven Tätigkeit nachzugehen.

»Die Frage, die sich uns nach alledem stellt«, sagte Sia zum Schluss in die atemlose Stille hinein, die auf das Ende ihrer Erzählung folgte, »ist also in der Tat, wer der Feind ist und was wir jetzt damit anfangen.«

»Beide sind es.« Dalia sprach mit fester Stimme. Sie schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass Sias abenteuerliche Schilderungen der Wahrheit entsprachen, oder zumindest nur leichte Übertreibungen enthielten. Die Tatsache, dass Cenn mit den Ereignissen ebenfalls im Reinen zu sein schien, half offenbar, Sias Darlegung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Auch die anderen Alten, die Skrutinatoren, erhoben zumindest bis jetzt keine Einwände.

»Beide sind der Feind, nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten und für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Welten«, sagte sie dann. »Die Frage ist also eher, wen man wann aus welchen Gründen bekämpfen will und ob man die notwendigen Mittel dafür hat.«

»Armando Lekish hat diese Frage damals eindeutig für sich beantwortet«, murmelte Cenn etwas gedankenverloren.

»Armando Lekish?«, echote Sia. Auch Ryk war aufmerksam geworden. Er hatte den Namen schon einmal gehört, aber wie immer war das Erinnerungsvermögen seiner Gefährtin besser als das seine.

»Du kennst diesen Namen, mein Kind?«

»Er wurde mir gegenüber erwähnt, von einem sehr alten Mann namens Willie.«

»Der, von dem du gerade erzählst hast?«

»Genau der. Wer ist Armando Lekish?«

Cenn zuckte mit den Schultern, eine Regung, die von einem unangenehmen, knackenden Laut begleitet wurde, der Ryk unwillkürlich zusammenzucken ließ.

»Der Gründer von Kryv. Er ist seit langer Zeit tot, aber seine Nachfahren handeln in seinem Sinne. Für sie und die übrigen Apostel ist der Feind eindeutig der Hive und nicht das Dreigestirn und das, wofür es steht. Ob er selbst genauso gedacht hat, weiß ich gar nicht, aber seine Nachfolger tun es ohne Zweifel.«

Jetzt saßen sie alle kerzengerade, sogar Momo war zusammengezuckt.

»Die Apostel?«, echote Uruhard. »Die Herren von Kryv nennen sich Apostel?«

»Das stimmt.« Cenn sah Uruhard fragend an, der plötzlich blass wirkte. »Die Apostel sind auf Terra bekannt?«

»Nun«, erwiderte der Mann leise, »ich hoffe, dass es ist wie bei den Hybriden: dass auf Terra die Dinge weitaus weniger schlimm sind als hier und dass die gleichen Begriffe nicht notwendigerweise die gleichen Inhalte haben.«

»Wie meinst du das?«

»Ich gehöre zu den Aposteln.« Es gab einen seltsamen, zischenden Laut, als mehrere Anwesende gleichzeitig scharf Luft holten, wie die Warnung einer Schlange, die bereit war zum Angriff. Uruhard hob sogleich abwehrend die Hände. »Wir salben niemanden, haben keine Stadt gegründet, führen keine Operationen durch und bringen keinen um. Wir sind – auf der Erde – eine Gruppe von Gelehrten oder solchen, die sich dafür halten, auf der Suche nach alten Artefakten und Hinterlassenschaften der Vergangenheit, die gemeinsam den Traum verfolgen, Admiral Rothbards Ruhestätte zu finden. Nein, nicht einmal das. Einige von uns halten diese Idee für ausgesprochen dumm. Aber so sind wir entstanden und deswegen bin ich hier. Das ist alles.« Er sah Sia an. »Ich kenne keinen Armando Lekish. Willie hat ihn erwähnt?«

 

»Willie nannte den Namen.«

»Dann sind die Apostel ursprünglich mehr gewesen als das, was sie jetzt sind, zumindest auf Terra.« Erneut hob Uruhard die Arme und zeigte seine leeren Handflächen. »Sie mögen in Kryv den gleichen Namen tragen, aber das ist es dann auch schon. Ich habe mit so was nichts zu tun. Ich lehne alles ab, was die ehrenwerte Cenn uns gerade an entsetzlichen Praktiken geschildert hat.«

Cenn nickte. »Ich glaube dir. Wir wollen uns alle nicht weiter aufregen. Aber wenn euer aller Ziel ist, den Hive zu besiegen und die Erde zu befreien, dann sollte jemand unseren Freunden zeigen, wie wir hier leben.« Sie winkte und jemand eilte an ihre Seite, um der alten Dame zu helfen, sich zu erheben. Erneut wurde das singende Geräusch hörbar.

Es machte Ryk betroffen. Würde Sia eines Tages auch so enden? Er wollte es sich nicht vorstellen, aber er hatte sowieso seine Probleme, sich sie beide als alte Menschen vorzustellen. Ryk war weiterhin der tiefen Überzeugung, jung zu sterben. Dafür gab es ja bestimmt auch noch die eine oder andere Chance.

Dalia erhob sich gleichfalls. Sie verbarg ein Gähnen hinter einer Hand, wirkte aber sonst nicht, als müsse sie sofort ins Bett gehen. Sie lächelte den vier aufmunternd zu. »Cenn meinte, jemand soll euch unser Leben zeigen. Kommt mit, ich übernehme diese Aufgabe gern. Ich zeige euch das Dorf und dann könnt ihr besprechen, wie ihr weiter vorgehen wollt – und ob überhaupt.«

Der letzte Nachsatz deutete bereits an, was die junge Frau von ihren Absichten hielt.

Wer wollte es ihr verübeln?

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