Buch lesen: «Das Experiment»

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Dirk Schulte

Das Experiment

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Experiment

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Das Experiment

Dirk Schulte

Roman

Copyright © 2019 Dirk Schulte

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

Cover: Littera Designs (www.litteradesigns.com)

Prolog

Etwa die Hälfte der knapp sechzigtausend Einwohner Homburgs war, so schien es, in irgendeiner Weise mit Medizin beschäftigt.

Die Universitätskliniken waren der größte Brötchengeber der Region, ernsthaft verfolgt nur von einem Elektronikbetrieb und einer Brauerei, deren süßlich-malzige Ausdünstungen die ganze Stadt überzogen.

Und auf diesem weitläufigen Campus, der an einen Park erinnerte, traf ein verträumter Student, der eine Doktorarbeit suchte, auf einen skrupellosen Forscher. Und als jener sich warmlief und mit Tierversuchen arrangierte, die er eigentlich nicht mochte, während dieser in einer Besprechung verschwieg…

Aber stopp, erzählen wir lieber der Reihe nach.

1

Viertel nach fünf, sagte die Uhr. Wahrscheinlich würde Peter König es doch noch rechtzeitig bis zur Bibliothek schaffen, obwohl er sich nun wirklich kein Bein ausgerissen hatte. In der Nähe des Parkhauses verließ er den Bus und sprang in die kühle, klare Septemberluft. Vielleicht traf er Freunde von Stefan, seinem Bruder, von denen er einige inzwischen kannte und mit denen er ein Schwätzchen halten konnte. Auf jeden Fall sah er keinen Grund, sich zu beeilen.

Am Kiosk kaufte er sich zwei Dosen Bier. Er setzte sich auf eine Bank und öffnete die erste.

Dass er in dieses Kaff gekommen war, um Medizin zu studieren, hatte er einzig seinen Eltern zu verdanken.

Nun musste er sich rächen. Er würde das Leben genießen. Die nächsten fünf oder sechs Jahre. Jedenfalls so lange, wie sie nichts merkten.

Mit diesem angenehmen Gefühl ließ er sich einige Zeit von der Sonne verwöhnen. Nachdem er das eine Bier ausgetrunken hatte, steckte er das andere in seinen Rucksack und machte sich gut gelaunt auf den Weg zur Einschreibung. Knapp hinter dem Haupteingang kreuzte er die Hauptstraße, die quer durch den Campus lief.

Irgendwann kam er zur Bibliothek. Dort stellte er sich an das Ende einer Schlange. Vor ihm wartete ein hagerer junger Mann mit dichtem, lockigem Haar, der gerade damit beschäftigt war, ein Formular auszufüllen. Kurz entschlossen klopfte er seinem Vordermann auf die Schulter.

„Hallo, ich bin Peter. Auch Medizin?“

Langsam drehte sich der Vordermann um. Unter den dunkelbraunen lockigen Haaren saß ein fein geschnittenes Gesicht, das unsicher lächelte. Der Hagere nickte und reichte Peter seine schmale Hand. „Ich heiße Martin.“

„Nett, dich kennenzulernen, Martin. Hast du diesen Samstag schon etwas vor?“

Der schüchterne junge Mann senkte den Kopf, als würde er ernsthaft über diese Frage nachdenken. „Worum geht es denn?“

„Mein Wohnheim schmeißt eine Party für alle Neulinge. Komm doch vorbei.“ Als Peter von der Feier sprach, kam ihm wieder in den Sinn, wie schön die nächsten Jahre werden würden. Wie sehr würde er das Studium genießen! „Also, was hältst du davon?“

„Klingt nicht schlecht.“

„Überleg es dir. Vielleicht sehen wir uns dann.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Als nächster war Martin an der Reihe. „Also, bis später“, rief er und schlurfte in den kleinen Büroraum.

Als Peter allein war, nahm er sich einen der herumliegenden Zettel und versuchte ihn – ohne große Lust – auszufüllen. Schließlich gab er auf. Er öffnete die zweite Dose Bier, die er in den Rucksack gesteckt hatte, und leerte sie in wenigen Zügen.

Früher als erwartet traf es ihn. Wahrscheinlich als Letzten an diesem Tag. Hinter dem Bildschirm saß eine Frau mit erstaunlicher Oberweite. Er lächelte, ging auf sie zu und reichte ihr den leeren Bogen. Der Alkohol schoss ihm ins Blut und er merkte, wie seine Zunge lockerer wurde.

„Kennen Sie schon den ultimativen Medizinerwitz?“

Keine Reaktion.

„Hat mir mein Bruder erzählt. Vor einem Jahr hat er sich hier eingeschrieben. Also, folgendermaßen: Es ist mal wieder Anatomietestat, dieses Mal dreht sich alles um die menschlichen Genitalien. Die junge, attraktive Studentin beginnt vom Penisknochen zu reden, den es beim Menschen natürlich nicht gibt, vielleicht bei einigen Tieren, Mäusen oder so, das weiß ich nicht, jedenfalls beginnt sie, davon zu reden, als der Anatomieprofessor sie unterbricht: ,Vergessen Sie die Medizin, aber behalten Sie Ihren Freund!‘ Lustig, oder?“

Die Frau hinter dem Bildschirm kicherte, schien aber froh, sich schnell dem schlampig bearbeiteten Zettel zuwenden zu können, den der – wahrscheinlich angetrunkene – junge Mann ihr gegeben hatte.

Es dauerte ein wenig, bis alle offenen Fragen beantwortet waren. Doch schließlich war Peter ein Student der Medizin.

2

Martin Mai wusste nicht, warum er sich für Medizin entschieden hatte. Mehr noch, er hatte sich diese Frage nie gestellt. Nicht einmal das Bedürfnis, darüber nachzudenken, hatte er.

Seine Eltern hatten ihn nie gedrängt, auch wenn sie mit seiner plötzlich getroffenen Entscheidung zufrieden gewesen waren und gegenüber Bekannten nur selten versäumten, dies zu erwähnen.

Wenn jemand verstehen wollte, warum es Medizin werden sollte, erzählte er gern folgende Geschichte:

Als Junge von vierzehn Jahren, so sagte er dann, war er wegen Bauchschmerzen ins Krankenhaus gekommen. Zur Überbrückung der langen Zeit, die ein Kranker eben braucht, um wieder zu gesunden, hatte er sich den Medicus mitgenommen, einen Roman über die mittelalterliche Medizin.

In diesem Buch waren zahlreiche Leute an der rätselhaften Seitkrankheit gestorben, die nichts anderes war als eine Blinddarmentzündung. Und Martin, da waren sich Hausarzt und Chirurg schnell einig, litt genau daran. Er wurde operiert und von der Krankheit geheilt, an der er zu Zeiten des Medicus noch gestorben wäre. Als dann klar war, dass er das Schlimmste überstanden hatte, beschloss er, Arzt zu werden.

Diese Geschichte war zwar genau so passiert, doch sie kam ihm selbst viel zu dünn und fadenscheinig vor, als dass er an ihren wahren Wert geglaubt hätte. Mehr noch, er wusste, dass sie nicht den Ausschlag gegeben hatte. Denn den Grund für seine Entscheidung kannte nicht einmal er selbst. Trotz allem klang sie gut und überzeugend, und so erzählte er sie, wie man einen alten Witz erzählt, voller Routine und ohne Bezug zum eigenen Selbst.

Vor einer Woche war er von Voerde, einer kleinen Stadt am Niederrhein, die 360 Kilometer nach Homburg gefahren und in sein neues Wohnheim eingezogen. Achtzehn Studenten mussten sich auf einer Etage eine Küche, drei Duschen und vier Toiletten teilen. So kam man sich zwangsläufig nah, ob man es wollte oder nicht.

Die meisten Mitbewohner waren Studenten in den höheren Semestern und arbeiteten unentgeltlich in einer der zahlreichen Kliniken oder paukten für die anstehenden Klausuren. Drei seiner Nachbarn, Klaus, Thorsten und Maria, hatten sich ebenfalls frisch eingeschrieben.

Je näher die Party kam, von der Peter gesprochen hatte, desto unschlüssiger wurde er, ob er auch hingehen sollte.

Am Nachmittag, wie immer, wenn er vor größeren Entscheidungen stand, versuchte er, sich abzulenken. Ohne etwas zu brauchen, machte er einen Bummel durch die Stadt. Wieder zu Hause, räumte er sein Zimmer auf. Dann, als es draußen zu dämmern begann, gab er sich einen Ruck, zog sich um und verließ das Haus.

Martins Wohnheim war eines von drei Hochhäusern, die durch einen schmalen Wald vom Klinikgelände abgetrennt waren. Zur Feier war es etwa eine Viertelstunde mit dem Fahrrad.

Als er ankam, war die Party in vollem Gange. Zahlreiche Studenten, die meisten mit Bierflaschen oder Plastikbechern in den Händen, gingen durch die offene Tür des Gebäudes ein und aus. Einige hatten sich unter freiem Himmel zu Gruppen zusammengefunden. Mit kräftigen Stimmen versuchten sie, die laute Musik, die aus dem Haus kam, zu übertönen.

Mit festem Blick, aber weichen Knien ging Martin ins Wohnheim. Im Keller kaufte er sich ein Bier.

„Hallo, Martin. Toll, dass du gekommen bist.“

Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und sah Peter, dessen anderer Arm um eine blonde Schönheit gelegt war.

„Darf ich euch bekanntmachen? Das hier ist Martin, den ich bei der Einschreibung kennengelernt habe. Und sie hier“, er deutete mit seiner freien Hand auf das Mädchen zu seiner Rechten, „heißt Silke und ist eine Ex von meinem Bruder.“

„Nett, dich kennenzulernen. Studierst du auch Medizin?“

„Klar, ist gar nicht so übel, wie man denkt. Du kannst eine Menge Spaß haben.“

Sie lächelte Peter an und haute dann ab.

„Nettes Mädel, oder? Mein Bruder hat sie damals gehen lassen, wie so einige andere, aber er ist nie lange allein geblieben, das muss ich schon sagen.“

Er ging zu einem Verkaufsstand mit zwei Studenten und kehrte mit zwei Bechern Altbierbowle zurück, einen davon für Martin.

„Mit seiner neuen Flamme ist er gerade für ein Semester nach England gefahren.“

Er nippte an seinem Getränk und da ihm das Zeug schmeckte, nahm er einen großen Schluck hinterher, bis nichts mehr übrig war. „Hast du schon Leute für den Präp-Kurs?“

Der Präparier-Kurs, wie er vollständig hieß, in dem jeweils acht Studenten an einem Leichnam die menschliche Anatomie erlernen sollten, begann nächste Woche.

Martin wollte das Los entscheiden lassen, mit wem er arbeiten würde, und das sagte er Peter.

„Na komm, wie wär’s, Du und ich? Ich habe noch Dennis gefragt, er würde auch mitmachen. Sein Vater forscht hier an der Uni und soll ein ganz hohes Tier sein. Wäre doch toll, oder? Komm, ich zeig ihn dir.“

Sie gingen in die Diele, wo die Musik etwas leiser war.

„Da steht er“, sagte Peter und deutete mit seiner Hand auf den Tisch mit den zwei Studenten, an dem sie ihre Getränke gekauft hatten. Peter ging auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. Die Person, die gemeint war, drehte sich langsam um.

„Dennis, das hier ist Martin, den ich bei der Einschreibung kennengelernt habe. Martin, das ist Dennis, von dem ich dir erzählt habe.“

Dennis hob nur zögernd den Kopf und lächelte gequält, als mache Höflichkeit keinen wirklichen Spaß. Er hatte schmale Augen hinter einer runden Brille und eine kantige, ins Auge stechende Hakennase. Das hellbraune, fast gräuliche Haar begann bereits, über den Schläfen und am Hinterkopf schütter zu werden und war wohl aus diesem Grund etwas länger belassen.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er, als das gequälte Lächeln aus seinem Gesicht bereits wieder verschwunden war.

„Ebenso.“

„Hast Du schon gelernt?“

Martin schüttelte den Kopf. Noch hatte er in kein Buch geschaut, abgesehen vom Pschyrembel, eine Art medizinisches Lexikon, das er sich vorgestern gekauft hatte. Aber warum um Himmels willen wollte dieser Blödmann das wissen?

„Lassen wir das“, sagte Peter, der dieses Thema sichtlich ernüchternd fand. Er legte einen Euro auf den Tisch und bekam einen neuen Becher, randvoll mit Bowle gefüllt. „Das können wir später besprechen. Prost!“

„Bist Du dabei?“, fragte Dennis und blinzelte durch seine kleinen, schlitzförmigen Augen.

Martin überlegte. Er mochte diesen Schnösel nicht. Angestrengt suchte er nach einem Grund, nicht zusagen zu müssen. „Ich würde gerne einige Leute von meinem Stock fragen."

„Mach das. Ich rufe dich dann an.“

Widerwillig schrieb Martin seine Nummer auf einen Zettel und reichte diesen an Dennis.

Als er nach Hause fuhr, grübelte er, warum Peter diesen Widerling angesprochen hatte. Und kam zu keinem brauchbaren Ergebnis.

3

Die Nachbarn waren dabei. Klaus und Thorsten, die wie Unzertrennliche aneinander hingen und Maria, die noch keinen Kontakt außerhalb ihres Stockwerks gefunden hatte und Martins Angebot dankend annahm.

Dann, wie angedroht, rief Dennis bei ihm an, der zwei weitere Leute aufgetrieben hatte. Nun waren sie alles in allem acht und damit komplett. Widerwillig und mit einem unguten Gefühl im Bauch sagte Martin zu. Noch immer fragte er sich, was Peter an ihm gefunden hatte.

Vier Tage später, an einem Mittwoch, begann der Präp-Kurs, vor dem sich alle so sehr fürchteten. Vor dem Anatomie-Gebäude wollte man sich treffen.

Das Institut stand am hinteren Ende des Campus, kurz vor einer angrenzenden bewaldeten Hügelkette. Von oben betrachtet, hatte es die Form eines Dreiecks mit gleich langen Seiten. Es bestand aus zwei Stockwerken und einem Keller, in dessen Sälen der Kurs stattfinden sollte.

Martin und seine Nachbarn erschienen als erste. Kurz darauf trudelte Peter ein, der ein mitgenommenes Gesicht machte, da er zu viel Sangria getrunken, aber deutlich zu wenig geschlafen hatte. Dann kam Dennis mit den zwei Studenten, von denen er gesprochen hatte. Silke, die hübsche Blondine, war eine von ihnen.

„Was machst Du hier?“, fragte Peter. Seine matten Augen glänzten auf einmal, und er strahlte über das ganze Gesicht. „Ich dachte, Du hättest den Kurs schon hinter Dir.“

Wie sich herausstellte, hatte Silke die erforderlichen Prüfungen nicht bestanden, und musste es dieses Jahr erneut versuchen.

Der zweite Student war ein hagerer junger Mann mit Namen Dieter. Er hatte fettiges dunkelbraunes Haar und einen zierlichen Schnäuzer, der an beiden Enden gezwirbelt war. Immer dann, wenn er seinen Mund aufmachte und sich zu irgendwelchen Themen äußerte, was vor allem dann geschah, wenn er gar nicht gefragt war, kam ein lang gezogener, weitschweifiger Vortrag in breitestem saarländischem Dialekt.

Zusammen gingen die acht ins Gebäude. Um viertel nach zehn begann die erste Vorlesung in Anatomie. Der Hörsaal war bis auf die hintersten Reihen vollständig besetzt.

Mit etwa fünf Minuten Verspätung erschien der Professor. Als wäre ihm soeben erst eingefallen, dass er eine Vorlesung zu halten habe, kam er in den Hörsaal hereingestürmt und knöpfte sich noch im Vorübergehen den flatternden Kittel zu.

Professor Riester war hochaufgeschossen, hatte schmale Schultern und eine füllige Lockenfrisur, die seine ohnehin schon beträchtliche Größe noch um einiges nach oben verlängerte.

„Von dem habe ich schon einiges gehört“, flüsterte Peter. „Mein Bruder hat ihn im Kurs gehabt. Er soll sehr streng sein, aber fair.“

Professor Riester ordnete seine vom Fahrtwind zerzauste Frisur und schnappte sich ein Mikrofon, das auf dem Pult bereitlag.

„Liebe Erstsemester“, sprach er und räusperte sich dann so laut, dass fast der ganze Hörsaal erbebte. „Sie überschätzen uns Prüfer, Sie überschätzen unsere Macht und unsere Einflussmöglichkeiten, die wir auf den Verlauf Ihrer Karrieren haben werden. Aber diese persönliche Einschätzung nur am Rande. Vor allem möchte ich einem jeden von Ihnen Glück für die nun beginnende schwere Zeit des Präparierkurses wünschen, denn dieses Glück, keine Frage, werden Sie brauchen. Alles Gute!“

Er legte das Mikrofon zurück auf das Pult und hastete im gleichen atemberaubenden Tempo, in dem er gekommen war, zurück nach draußen. Kurz vor der Tür machte er kehrt und räusperte sich erneut, diesmal ohne von einem Mikrofon verstärkt zu werden, aber, da es im Hörsaal mucksmäuschenstill war, nichtsdestotrotz für alle gut verständlich.

„Was ich ganz vergessen habe, zu erwähnen: Der Präparierkurs beginnt heute Nachmittag um drei Uhr im Keller dieses Gebäudes. Wir erwarten Ihr Erscheinen. Bis dann!“

Dieses Mal machte er kehrt, ohne es sich anders zu überlegen. Mit einem Klacken zog er die Tür hinter sich zu und ließ die Studenten allein.

Sofort machten hier und da erste Vermutungen die Runde, angeregt durch die kurze Ansprache des Professors und durch das, was man schon vorher von Studenten höherer Semester hatte aufschnappen können: dass die Prüfungen zu einem hohen Maße ungerecht seien bis hin zu Behauptungen, dass Studenten des Kurses verwiesen würden, ohne ersichtlichen Grund.

Der Kurs begann um drei Uhr. Alle Erstsemester hatten sich im Keller der Anatomie versammelt, bis sich große Türen zu den Gängen öffneten und die Neulinge erstmals die dämmrigen Sezierräume betreten durften.

Sofort wurden die achtköpfigen Gruppen zusammengestellt, die sich größtenteils schon vorher gefunden hatten. Martin und seine Leute bekamen einen Tisch in dem mittleren von insgesamt drei Sälen. Auf diesem Tisch, verpackt in eine braune Decke, lag der Leichnam, an dem sie im nächsten Jahr präparieren würden. Ein süßlich stechender Duft nach Formalin, das den toten Körper konservierte, hatte sich durch den dünnen Stoff geschlichen und durchzog den ganzen Saal.

„Alle in diesem Saal haben es mit Riester zu tun“, sagte Peter zu Martin und deutete mit seinem runden Kopf auf ein Schild, das über der Tür angebracht und mit Orth beschriftet war. „Das kann ja lustig werden.“

Ein wenig störte ihn der Gedanke, dass er in der nächsten Zeit des Öfteren von einem Professor belästigt werden könnte. Zum Ausgleich versuchte er sich vorzustellen, wie angenehm das Leben als Student werden würde, etwa wie gestern Abend bei der lustigen Vorweihnachtsfeier und mit einem Schlag hatte er seine unguten Gefühle schon wieder vergessen.

Die Tür im Saal öffnete sich und herein kam Professor Riester, diesmal begleitet von vier Studenten in weißen Kitteln. Mit wehendem Umhang und flatternden Haaren schritt er durch den Saal und winkte alle Umherstehenden zu sich.

„Meine Damen und Herren! Diese Kollegen hier, die ich Ihnen mitgebracht habe, sind Ihre Betreuer für das kommende Semester. Sie werden Ihnen wertvolle Dienste leisten, davon bin ich überzeugt. Jeder der vier Tische in diesem Saal, von dem ich sagen kann, dass meine Wenigkeit ihn betreuen wird, bekommt einen meiner Assistenten. Bei Fragen sind sie immer für Sie da.“

Er schaute im dämmrigen Saal umher.

„Jetzt zum praktischen Ablauf des Kurses.“

Im Folgenden erzählte er ihnen von den Spendern, die zu Lebzeiten beschlossen hätten, ihren toten Körper dereinst der Wissenschaft und der Ausbildung zur Verfügung zu stellen. Er wies mit erhobenem Zeigefinger darauf hin, dass diese Entscheidung und mithin der vor ihnen liegende tote Körper zu achten und zu respektieren sei. Keinerlei Abweichung gegen dieses Gebot könne und werde in irgendeiner Art und Weise geduldet werden. Anders ausgedrückt, man habe bei den kleinsten Verstößen gegen die Mitmenschlichkeit und die guten Sitten mit einem Rauswurf aus dem Anatomiekurs zu rechnen. Was man unter guten Sitten zu verstehen habe, dafür erbitte er Verständnis, das wolle er erwachsenen Leuten nicht noch erklären müssen; er wolle ihnen in der kurzen Zeit, die ihnen bleibe, viel lieber etwas über den topografischen und funktionellen Aufbau des menschlichen Körpers vermitteln. Aber das ständige Tragen eines weißen Kittels sowie das Fernhalten von Rauchen, Trinken und jedweder Nahrungsaufnahme in diesen Sälen sei ein uneingeschränktes Muss. Darüber hinaus müsse man von Studenten erwarten dürfen, dass sie, neben der Einhaltung der guten Sitten, mit Fleiß, Disziplin und mit ehrlichem Interesse zur täglichen Arbeit gingen, denn das sei es, im Übrigen zu Recht, was die Spender zu Lebzeiten von den Jungmedizinern wohl erwartet hätten.

Nach diesen einleitenden Worten ging Professor Riester zu dem naturwissenschaftlich-medizinischen Teil seines Vortrags über.

Er erklärte spannende Einzelheiten über den Aufbau des menschlichen Körpers, nannte ihnen die wissenschaftlichen Begriffe für die Gegensatzpaare links-rechts, oben-unten, vorne-hinten, innen-außen, also Möglichkeiten der Orientierung und der Unterteilung eines komplexen Organismus, und gab ihnen neuartige Gegensatzpaare an die Hand, von denen sie alle noch nie etwas gehört hatten.

Er würzte die Erläuterungen mit Anekdoten, von denen er glaubte, dass sie den Studenten helfen könnten, sich die umständlichen Fachausdrücke besser zu merken und machte einige Abstecher in die Welt eines praktizierenden Arztes.

Am Ende des Vortrags wusste Martin nicht, ob nur eine Stunde vergangen war oder nicht doch ein ganzer Tag.

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