Die kälteste Stunde

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Kapitel 9


Über Zeit schien die rüstige Rentnerin grenzenlos zu verfügen. So kam es, dass der Pfarrer nach vorheriger telefonischer Absprache noch am selben Tag an der Tür zu ihrem Einfamilienhaus klingelte, das am Dorfrand stand. Seit Jahr und Tag lebte Helga Ziegler allein in diesem Haus und hielt es noch immer ohne fremde Hilfe in Schuss. Dass es sich jemals anders verhalten und ein Mann an ihrer Seite gelebt hatte, daran konnte sich hier schon fast niemand mehr erinnern. Seit mehr als einer Generation war ihr Mann verstorben. Fotos von ihm hingen überall an den Wänden der einzelnen Zimmer. Um sie zu sehen und an den lange verstorbenen Herrn erinnert zu werden, musste ein Besucher allerdings die Eingangstür zu ihrem Haus durchschreiten. Ihren eigenen Angaben zufolge geschah das äußerst selten, da das Interesse an ihr seitens der noch im Dorf lebenden Personen augenscheinlich stark nachgelassen hatte.

Über den Besuch des Pfarrers schien die alte Dame sehr erfreut und Ebeling fragte sich, warum er erst jetzt den Weg zu ihr gefunden hatte. Irgendwie hätte es doch zu seiner beruflichen Pflicht gehört, viel öfter einmal bei ihr vorbeizuschauen als nur zu runden Geburtstagen.

Viele Fenster waren abgedunkelt und ein unangenehmer Geruch stach dem Besucher in die Nase, der sich durch das gesamte Haus zog. Zweifellos lüftete Frau Ziegler nicht mehr in der angemessenen Weise.

Jörg Ebeling entschied sich für Tee, als sie ihn fragte, was er trinken wollte und vor die Alternative Tee oder Kaffee stellte. Hätte er geahnt, dass sie ihm Pfefferminztee servieren würde, wäre seine Wahl auf Kaffee gefallen. Pfefferminztee war so ziemlich die einzige Sorte, die er nicht mochte. In Kindertagen hatte er ihn trinken müssen, wenn er krank gewesen war und sich den Magen verdorben hatte. Aber er zwängte ihn in sich hinein.

Helga Ziegler war neugierig geworden, warum der Pfarrer sie besuchen wollte und es so dringend gemacht hatte.

»Dienstagmorgen ist doch ein Obdachloser vor unserer Kirche erfroren. Er hatte keinen Pass bei sich. Nur ein altes Foto mit einem jungen Mädchen darauf. Ich habe es mit Konfirmandenfotos aus den Siebzigerjahren verglichen und dadurch herausgefunden, dass es sich bei diesem Mädchen um Gabriele Börner handelt. Mittels unseres Taufregisters habe ich dann gesehen, dass Sie seinerzeit die Taufpatin waren.«

»Das liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Im Mai 1960 fand die Taufe in unserer Dorfkirche statt. Aber wie kommt der Tote zu dem Bild mit meinem Patenkind darauf?«

»Das eben weiß ich nicht. Die Staatsanwältin hat ein Foto des Toten an die Zeitungen gegeben. Doch es hat sich niemand gemeldet, der ihn gekannt haben will. Ich würde schon gerne wissen, wer dieser Mann gewesen ist und warum er sich meine Kirche zum Sterben ausgesucht hat. Vielleicht gelingt mir das über Ihr Patenkind. Lebt es noch?«

»Ja natürlich. Gaby Schmuck, wie sie jetzt heißt, wohnt in Braunlage. Sie arbeitet dort als Schreibkraft in einer Rechtsanwaltspraxis. Eine Sozietät. Zu mehr hat es bei ihr nicht gereicht. Und wenn ihr Vater nicht dafür gesorgt hätte, dass Doktor Schmuck seine Tochter ehelichte, dann wäre gar nichts aus ihr geworden. So konnte sie wenigstens auf dem Standesamt promovieren. Durchs Abitur ist sie durchgefallen, obwohl sie die besten Voraussetzungen mitgebracht hat. Beide Elternteile hatten Abitur. Aber die Gaby hat ihren Eltern nichts als Kummer gemacht. Ein Enfant terrible. Ihre Mutter ist aus Kummer darüber sehr früh gestorben. Danach hat ihr Vater sie mit dem Arzt zusammengebracht. Sonst wäre sie verloren gewesen und es wäre gar nichts aus ihr geworden.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

»Das ist schon sehr lange her. Jahrzehnte. Sie hat damals den Kontakt auch zu mir abgebrochen. Ein undankbares Gör in jeder Hinsicht. Schon in jungen Jahren hatte sie nur Kerle im Kopf. Manche Mädchen gehen aufs Ganze, wenn die Muschi zu jucken anfängt. Gaby war eine davon.«

Donnerwetter! So einen Satz hätte Ebeling aus dem Mund der alten Dame nicht vermutet. In ihrem Gesicht fand er einen Ausdruck von Hass und Abscheu. Ihre Freundlichkeit, für die sie so bekannt war, hatte sich vollends verabschiedet.

»Und Sie kennen den Toten vor unserer Kirche auch nicht?«

»Nein, Herr Pfarrer. Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen. Wenn der Mann ein Foto von Gaby in seiner Tasche oder wo auch immer hatte, dann hat es sich vielleicht um einen ihrer Jugendfreunde gehandelt. Dann haben Sie jetzt eine Vorstellung davon, mit was für Gesindel sich Gaby eingelassen hat und warum ihre Mutter vor lauter Kummer so früh von uns gegangen ist.«

Ein Jugendfreund! Eine Möglichkeit. Nicht ganz unwahrscheinlich.

»Es ist besser so, dass sich diese Rotzgöre nie wieder bei mir gemeldet hat. Sie soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

Mit wem hatte denn Ebeling seinerzeit das Trauergespräch geführt, als der alte Börner beerdigt werden sollte? War da nicht eine jüngere Frau? Handelte es sich dabei nicht möglicherweise um dessen Tochter?

»War Frau Schmuck bei der Beerdigung ihres Vaters?«

»Das wäre ja wohl noch schöner, wenn sie nicht einmal das hinbekommen hätte! Zuzutrauen wäre es ihr gewesen. Aber ihr Mann, der Arzt, nicht sie, wird dafür gesorgt haben, dass der alte Herr anständig unter die Erde gekommen ist.«

»Dann kenne ich Gaby Schmuck. Mit mir hat sie das Gespräch geführt, auf dessen Inhalt ich die Trauerrede aufgebaut habe. Jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist ein Mann dabei gewesen. Ihr Mann. Ein Arzt. Ganz genau.«

»Der Penner, der vor unserer schönen Dorfkirche verreckt ist, ist es nicht wert, dass man sich um ihn unnütze Gedanken macht. Glauben Sie mir, Herr Pfarrer!«, sagte sie unmissverständlich in einer unversöhnlichen Tonlage. Woher kam diese Hartherzigkeit? Offensichtlich musste Ebeling einen ganz wunden Punkt getroffen und thematisiert haben.

»Vielleicht haben Sie recht. Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit so sehr in Anspruch genommen habe«, sagte der Pfarrer daraufhin freundlich lächelnd.

»Aber das haben Sie ja gar nicht. Ist doch normal, dass Sie sich Gedanken machen und Antworten suchen. Schauen Sie bald mal wieder vorbei!«

Kapitel 10


Jörg Ebeling ging durch die verschneiten Straßen von Leuterspring zu seinem Haus zurück. In Gedanken hing er den Worten der alten Dame nach. So hatte er sie bislang noch nicht kennengelernt. Diese Bitterkeit, die lückenlos aus ihr sprach, hätte er bei der sonst so leutseligen Frau nicht vermutet. Es stieß ihn innerlich ab. Das alles stand seinen Predigten über Nächstenliebe und Vergebung diametral gegenüber. Sie saß im Gottesdienst und hörte ihm zu. Verstanden haben konnte sie ihn nicht. Er glaubte, eine Scheinheiligkeit entlarvt zu haben.

Sein Haus war menschenleer, als er es betrat. Wohin sich seine Frau schon wieder verkrümelt hatte, war ihm ein Rätsel. Jedenfalls war sie nicht da.

Schnurstracks marschierte Ebeling in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Dann steckte er einen Stick in das Gerät und rief seine Trauerpredigten auf. Ziemlich schnell fand er jene, die er bei der Beerdigung vom alten Börner vor über zehn Jahren gehalten hatte. Er begann zu lesen:

Liebe Trauergemeinde,

wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Benno Börner zu nehmen. Er wurde am 5. Juni 1928 in Königsberg geboren. Seine Kindheit spielte sich im paradiesischen Ostpreußen ab, wo er die Schule besuchte und unbeschwerte Jahre im Kreise seiner Eltern verbrachte. Der Krieg klopfte erst ziemlich gegen Ende an die Pforten des fernen Ostpreußen.

Dann aber änderte sich das Leben des 17-jährigen Benno schlagartig. Kindheit und Jugend endeten am 27. Januar 1945, als die gesamte Familie von eben auf jetzt die Flucht über die zugefrorene Ostsee gen Westen antreten musste. Mutter und Sohn überlebten als Einzige den Todesmarsch und standen mittellos im zerbombten Deutschland.

Doch hier ging es nach all den Entbehrungen mit Benno wieder bergauf. Er holte sein Abitur nach und begann eine Ausbildung als Autoschlosser. Später studierte er Maschinenbau und lernte dabei seine große Liebe Annegret kennen. Sie zogen in die dörfliche Idylle von Leuterspring. 1957 heirateten die beiden und drei Jahre später wurde Tochter Gabriele geboren. Was für Benno Ostpreußen in jungen Jahren gewesen war, das wurde für die einzige Tochter Leuterspring.

1979 verstarb Ehefrau Annegret überraschend. Nun war Benno ganz auf sich allein gestellt, denn schon bald trat auch Tochter Gaby in den Stand der Ehe mit dem Arzt Doktor Schmuck ein.

Die letzten dreißig Jahre lebte Benno Börner ziemlich zurückgezogen in Leuterspring. Er verreiste nicht mehr und wurde von zunehmenden Depressionen geplagt. Sein Tod aber kam irgendwie schnell und unvermutet.

Dann folgten noch die biblische Auslegung und Worte des Trostes. Das also war die Biografie von Benno Börner. Zumindest handelte es sich dabei um das, was Tochter Gabriele und ihr Ehemann Doktor Schmuck von Pfarrer Ebeling wollten, dass er es über ihn sagte.

Zurückgezogenheit und Verbitterung über das Leben! Auch Helga Ziegler war von jener Bitterkeit durchsetzt.

So etwas kam nicht von ungefähr. Es musste irgendetwas geschehen sein, über das bislang Stillschweigen bewahrt worden war. Und es musste mit dem Toten vor der Kirche zusammenhängen. Das jedenfalls vermutete Pfarrer Ebeling, obwohl es eigentlich keinen einzigen Anhaltspunkt für diese Annahme gab.

 

Die Tür fiel ins Schloss. Seine Frau musste nach Hause gekommen sein. Er hörte, wie sie Einkaufstaschen absetzte und die Kühlschranktür öffnete. Sie hatte eingekauft. Ebeling verspürte wenig Lust, sie zu sehen. Seine Gedanken kreisten um Cora.

Er griff zum Handy und schickte ihr eine Nachricht. An den beiden blauen Haken erkannte Ebeling, dass sie seine Zeilen sogleich gelesen hatte. Dann sah der Pfarrer, dass Cora im Begriff war, zurückzuschreiben.

So ging es eine Weile hin und her, bis am Abend eine Verabredung der beiden stand. Ihm war klar, dass er sich noch etwas einfallen lassen musste, was er seiner Frau als Grund für das geplante Fortgehen auftischte. Vermutlich glaubte sie ihm seine Geschichten längst nicht mehr und ahnte, dass es billige Ausreden waren. Wusste sie auch, dass eine andere Frau dahintersteckte?

Kapitel 11


Coras braune Augen funkelten. Die gedimmten Glühlampen unter der Decke des Restaurants, in dem sie sich zum Essen an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, spiegelten sich in ihnen. Verliebt schauten die beiden einander an.

Sie hatten Bad Harzburg als Treffpunkt gewählt. Interessiert studierten sie die Speisenkarten und lasen sich gegenseitig jene Gerichte vor, die auf ihren anfänglichen Geschmack trafen. Irgendwann fiel die Entscheidung und sie bestellten ihr jeweiliges Menü. Cora bevorzugte Fisch, während Jörg gern Fleisch aß. Da sie beide mit dem Auto hierhergekommen waren, tranken sie Alkoholfreies, wenngleich ihnen ein trockener Rotwein lieber gewesen wäre.

»Hast du inzwischen reinen Tisch gemacht oder bin ich noch immer deine heimliche Mätresse?«, fragte sie ihn schließlich.

»Ich wollte es ihr sagen, aber ich konnte es noch nicht. Der richtige Augenblick dafür – er war noch nicht da.«

»Den richtigen Augenblick für so etwas wird es wohl nie geben. Dir fehlt der Mut. Den musst du aufbringen, wenn du mich wirklich haben willst.«

»Ich will dich. Dessen bin ich mir sicher. Nur dich. Aber ich habe Angst, meine Frau zu verletzen, ihr wehzutun.«

»Trennung bedeutet nun mal Schmerz.«

»Ja. Ich habe eine neue Freundin und meine Frau steht allein da. Das ist irgendwie nicht fair.«

»Deine Frau mit mir zu betrügen geziemt sich für einen Pfarrer erst recht nicht.«

»Ich weiß, Liebes. Morgen werde ich es ihr beichten. Ohne Rücksicht auf Verluste.«

»Na hoffentlich. Und was machen deine Recherchen in Sachen Todesfall vor deinem Gotteshaus?«, wollte Cora nun von ihm wissen.

»Ich komme ganz gut voran. Ich weiß jetzt, wer das junge Mädchen auf dem Foto ist, das der Tote bei sich hatte. Ich habe sogar vor ungefähr zehn Jahren ihren Vater beerdigt. Eine treue Gottesdienstbesucherin von 92 Jahren war einst die Patentante dieses Mädchens. Sie hat nicht besonders gut über sie gesprochen. Vielleicht war der Tote ein früherer Freund des Mädchens.«

»Und weshalb kommt der nach so vielen Jahren nach Leuterspring zurück?«

»Keine Ahnung. Das werde ich noch rausfinden müssen.«

»Wie willst du das denn? Und was soll es bringen? Der Tote war ein Obdachloser. Ein Alkoholiker.«

»Zunächst einmal war er ein Mensch.«

»Ja, Jörg. Ich habe das Foto, das wir von dem Toten gemacht haben, an die sozialen Medien und die überregionale Presse weitergegeben. Das weißt du doch. Keine Reaktion. Ich habe es auch nicht anders vermutet. Es bleibt ein tragischer Todesfall, für den wir keine Erklärung haben und sicherlich auch nicht bekommen werden. Für die Staatsanwaltschaft ist es kein Fall. Ich habe genug anderes zu tun.«

»Ich habe die Zeit und die Motivation, die rätselhafte Geschichte zu ergründen. Vielleicht werde ich nicht weiterkommen. Aber das wird sich zeigen. Möglicherweise weiß Frau Schmuck, das Mädchen vom Foto, wer der Mann war, der ihr Bild so sorgfältig aufbewahrt hatte und nach Leuterspring gekommen ist, um dort zu sterben.«

»Warum willst du das alles in Erfahrung bringen?«

»Ich glaube, Gott hat es mir aufgetragen.«

»Wie denn?«

»Indem er den Toten vor meine Kirchentür gelegt hat.«

»Man kann dich von deinem Vorhaben nicht abbringen. Was du dir einmal in den Kopf gesetzt hast, das ziehst du durch. Nicht wahr?«

Der Pfarrer nickte.

»Nur was uns anbelangt, da machst du keinen reinen Tisch mit deiner Frau.«

Ebeling senkte verlegen seinen Kopf.

Die Speisen wurden serviert.

Kapitel 12


Der erste Sonntag nach dem Leichenfund in Leuterspring war angebrochen. Die arktische Kälte hatte sich dorthin zurückgezogen, wo sich ihr Ursprung befand. Mildere Temperaturen lagen über dem Harz und sorgten für Tauwetter. Obwohl das Quecksilber nur geringfügig über den Gefrierpunkt hinaus gestiegen war, fühlte sich die Luft frühlingshaft warm an. Die Menschen atmeten tief durch nach den zwei zurückliegenden Winterwochen, von denen erst in der zweiten reichlich Schnee gefallen war. Die erste Woche war einfach nur bitterkalt und trocken.

Kirchenvogt Vahldieck hatte den geschlängelten Weg hinauf zur Kirche mit reichlich Sand abgestreut, damit die zu erwartenden Gottesdienstbesucher auch sicheren Fußes zur Kirche gelangten.

Die Glocke im Turm bewegte sich wild hin und her und ihr Klöppel mühte sich, den tiefen Klang aus ihr herauszuholen. In den letzten Minuten vor Beginn des Gottesdienstes kamen einige Menschen eilig herbei. Insgesamt wurden es sechs ältere Damen, unter ihnen auch die 92-jährige Helga Ziegler, und vier Herren, die längst im Ruhestand weilten. Der Pfarrer mit seinen sechzig Jahren war der Jüngste an diesem Morgen in der Kirche. Vahldieck kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob es überhaupt noch lohnte, so früh aufzustehen, um das Gotteshaus für teures Geld zu heizen.

Ebelings Frau kam schon lange nicht mehr zur Kirche, weil sie offenbar keine Lust verspürte, den Worten ihres Mannes von der Kanzel zu lauschen. Auch seine Freundin Cora Dennigsen hatte es offensichtlich vorgezogen, in ihrer Wohnung in Goslar im sicherlich warmen Bett zu bleiben. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass Ebeling den toten Obdachlosen vom vergangenen Dienstag zum Thema seiner Predigt machen würde und einfach keine Lust darauf verspürt.

So sangen die wenigen Stimmen an diesem nicht mehr ganz so winterlichen Sonntagmorgen ein paar verstaubte Kirchenlieder. Dabei verhallten sie scheinbar im Nichts. Dann betrat Ebeling seine Bühne, auf der er zu Hause war: die Kanzel. Aufmerksam schienen ihm die wenigen Besucher seines Gottesdienstes zuzuhören.

»Liebe Gemeinde,

am letzten Dienstag fand ein armer Mensch sein trauriges Ende vor unserer Kirche, in die er sich vermutlich vor der inzwischen verflogenen eisigen Kälte flüchten wollte. Doch die Tür war versperrt. Aus Sicherheitsgründen verschließen wir sie lieber. In diesem Fall war es tragisch. Der Tote hatte zu Lebzeiten offensichtlich keine Kraft und Muße, sich zu pflegen und rein zu halten. Aber er trug ein Bild bei sich aus vergangenen Tagen. Das Bild hatte er gehütet wie seinen Augapfel. Es hat ihn vermutlich an seine Kindertage erinnert. Diese Erinnerung hat er bei sich getragen, vielleicht über vierzig Jahre lang. Das Foto zeigt ein junges Mädchen. Es wurde einst in dieser Kirche konfirmiert. Was den armen Mann mit ihr verbindet oder verbunden hat, weiß ich noch nicht. Aber ich will und werde es herausfinden. Ich denke, das bin ich Gott schuldig, wenn er schon vor den Pforten seines Hauses ums Leben kommen musste.

Das Bild, das er in der Tasche trug, strahlte Ordnung, Zuversicht und Anfang aus. Es sollte ihn ins Ende begleiten. Vielleicht hatte er das Bild vor Augen, als er starb. Was hat es ihm gesagt? Warum hat er sich diesen Ort zum Sterben ausgesucht?

Er ist bislang einer von den namenlosen Toten. Gott sagt, dass wir uns darüber freuen können, dass unsere Namen im Himmel geschrieben sind. Ich werde seinen Namen aus dem Himmel auf die Erde zurückholen.

Gott will uns etwas offenbaren. Eine Geschichte vielleicht, die uns möglicherweise alle etwas angeht. Vielleicht sind wir oder einer von uns ja Teil dieser Geschichte. Möglicherweise ist da etwas, das sich Bahn brechen will, das an die Oberfläche drängt. Damit das geschehen kann, müssen wir tief hineinsehen. Ein Bild, das Foto von dem jungen Mädchen, kann Aufschluss geben.

Gottes Wege sind oft unergründlich. Aber Gott hat uns in Jesus Christus einen Grund gelegt. Durch Jesus Christus ist auch der tote Obdachlose unser Bruder vor Gott, dem Schöpfer. Wenn wir ihm erst seinen Namen wiedergeben können, verleihen wir ihm seine Würde zurück. Möge Gott uns helfen, dass dies geschehe. Amen.«

Die wenigen Gottesdienstbesucher schüttelten dem Pfarrer beim Hinausgehen die Hand. Manche führten ein ausgedehntes Dankeschön auf den Lippen, was für Ebeling stets das Signal war, dass sie wenig bis nichts von der Predigt verstanden hatten. Andere lobten seine Predigt über den grünen Klee. Dazu fiel ihm immer Martin Luther ein, der bei derartigen Gelegenheiten gedacht oder auch geäußert haben soll, dass ihm das der Teufel auch gerade geflüstert habe.

Nur Helga Ziegler schien genau zugehört und das Anliegen des Pfarrers verstanden zu haben. Scharfsinnig urteilte sie im Hinausgehen: »Er hat kein gottgewolltes Leben geführt. Wer auch immer dieser Mann gewesen ist. Wohnungslos, arbeitslos wegen asozialen Verhaltens, dreckig und versoffen. Er hat nichts aus seinem Leben gemacht. Nur dem lieben Gott die Zeit gestohlen. Sie sollten sich Menschen widmen, die es verdient haben.«

»Das tue ich. Doch wer es wirklich verdient hat, entscheiden nicht wir Menschen allein, sondern Gott selbst. Jesus lehrte uns, dass die Kranken des Arztes bedürfen.«

»Dieser Mann ist sein Leben lang zu keinem Arzt und auch nicht in die Kirche gegangen. Er hat es so gewollt.«

»Das, liebe Frau Ziegler, wissen wir nicht. In seiner Todesstunde hat er Gott gesucht. Dem zur Rechten Jesu gekreuzigten Mann, einem gottlosen Mörder, sagt Jesus in deren gemeinsamen Todeskampf am Kreuz zu, dass er noch heute mit ihm im Paradiese sein werde. Frau Ziegler, das Christentum ist die Religion der Vergebung und die Religion des Einen-unter-den-Geringsten. Was wissen wir über diesen Geringsten, den wir deshalb gering schätzen? Was wissen wir von ihm oder über ihn, dass wir es uns erlauben können, über den Mann zu richten?«

»Sie werden es schon machen, Herr Pfarrer«, rief sie ihm noch im Fortgehen zu. Bis er den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, war die betagte Dame nicht mehr stehen geblieben. Ihr schien ganz offensichtlich zu missfallen, was Ebeling ihr mit auf den Weg geben wollte. Doch dann dachte der Pfarrer, dass es auch für ihre Hartherzigkeit Gründe geben mochte, die sie hartnäckig verdrängte. Aber welche? Einen Augenblick war es ihm so vorgekommen, als wenn die alte Dame den Toten kannte und wusste, um wen es sich bei ihm gehandelt hatte. Doch verwarf der Pfarrer diesen Gedanken schnell wieder.

Zwei ältere Herrschaften standen noch am Ausgang und warteten darauf, dass sie dem Pfarrer die Hand schütteln konnten. Ebeling kannte die alten Leute vom Sehen. Regelmäßige Gottesdienstbesucher waren sie nicht. Vielleicht hatte sie die Neugier in die Kirche getrieben, nachdem sie von dem seltsamen Todesfall gehört hatten. Doch schnell weckten sie beim Pfarrer größtes Interesse, als der Mann, den seine Frau unterhakte, von jenen merkwürdigen Beobachtungen am Vorabend des Leichenfundes berichtete. Ein Schrei und ein davonrasendes Auto! Aber die Beobachtungen der älteren Herrschaften taugten für keine Aussage bei der Polizei. So viel wusste der Pfarrer. Trotzdem bedankte er sich für diese Auskunft und beschloss, sie in seinem Hinterköpfchen zu behalten. Vielleicht würde das alles ja doch noch einmal irgendeine Rolle spielen.

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