Die kälteste Stunde

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Kapitel 4


Der Amtsvorgänger des neu eingeführten Oberstaatsanwalts Dr. Jünger hatte immer die Distanz zu seinen Kollegen gewahrt und war nie einfach in das Büro eines Staatsanwalts hereingeplatzt. Doch der Nachfolger scherte sich um Diskretion einen Dreck. Ohne anzuklopfen drang er in Cora Dennigsens Büro ein und stellte sie wegen der angeordneten Obduktion des toten Stadtstreichers zur Rede.

»Sie haben ganz offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun. Haben Sie sich den Aktenberg einmal angesehen, der sich hier, aus welchen Gründen auch immer, aufgetürmt hat?«

»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich meine Arbeit zu langsam oder unvollständig mache?«, zeigte sie sich empört über diesen Auftritt.

»Die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht effizient genug. Viel zu viele Strafsachen bleiben zu lange auf unseren Schreibtischen liegen. Wenn die Dinge vor Gericht kommen, wissen Beschuldigte häufig nicht einmal mehr, weswegen sie überhaupt vor Gericht stehen. Das muss sich ändern. Und das wird sich ändern. Es ist tragisch, wenn ein Stadtstreicher wegen der lausigen Kälte erfriert. Aber wir können uns nicht damit aufhalten, diesen Fall als Offizialdelikt zu behandeln. Das ist er nämlich nicht. Der Mann war ein Trinker und jetzt, wo es kalt geworden ist, da ist ihm eingefallen, dass er kein Dach über dem Kopf hat. Einer von denen, die nicht einmal für sich selbst Verantwortung übernommen haben. Da muss der Steuerzahler nicht noch für eine kostspielige und völlig sinnlose Obduktion zur Kasse gebeten werden.«

»Wir kennen nicht einmal die Identität des Toten. Alkoholisiert ist er gewesen, als er gestorben ist. Das konnte man riechen. Dass es sich um einen Stadtstreicher handelt, nehmen wir aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes an. Wissen tun wir das nicht. Zu einer guten Arbeit der Staatsanwaltschaft gehört eine sorgfältige Ermittlung. Ich möchte Fremdverschulden ausschließen.«

»Liebe Frau Dennigsen, wer soll denn einen Penner umbringen und dafür lebenslangen Knast riskieren? Ein Mord braucht ein Motiv. Das sehe ich in diesem Fall nicht im Mindesten.«

»Sagen Sie bitte nicht liebe zu mir. Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt, bisher konnten wir hier in eigener Verantwortung arbeiten und unser Vorgesetzter hat uns vertraut. So würde ich das gern in Zukunft auch handhaben.«

»In Zukunft befolgen Sie Anweisungen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie als verbeamteter Mensch – ich hoffe, ich habe mich in Gendersprache korrekt ausgedrückt – weisungsgebunden sind. Ich bin als Ihr Vorgesetzter dafür verantwortlich, dass diese Behörde künftig effizienter arbeitet. Da können wir uns nicht mit Bagatellen aufhalten. Oder haben Sie einen Anfangsverdacht?«

»Was bitteschön soll ein Anfangsverdacht sein? Verdacht ist Verdacht.«

»Ich muss Sie ja wohl nicht über den Terminus Anfangsverdacht aufklären. Dieser Begriff ist in unserem Berufsstand allgemein üblich. Spielen Sie hier bitte nicht die Oberlehrkraft. Haben Sie nun einen solchen Verdacht? Ja oder nein?«

»Nein.«

»Also, in Zukunft nichts ohne mein ausdrückliches Einverständnis. Diese Aktion bleibt Ihre einzige eigenmächtige. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Schönen Tag noch.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ schwungvoll das Büro der Staatsanwältin.

Cora rechnete nach. Sie war jetzt 45 Jahre alt. Das bedeutete, dass sie noch über zwanzig Jahre bis zu ihrer Pensionierung vor sich hatte. Ihr neuer Chef war 43. Wenn er nicht eines schönen Tages Justizminister werden sollte, würde sie ihre Pensionierung unter diesen Arbeitsbedingungen nicht erleben. Sie grübelte über die Möglichkeit einer Versetzung nach.

Kapitel 5


Jörg Ebeling dachte an seine Pensionierung, deren Schwelle er in drei bis fünf Jahren erreichen würde. Als das junge Brautpaar vor ihm am Altar des Herrn stand und sich das Jawort gab, überlegte er für einen Augenblick, wie vielen Pärchen er das ewige Treueversprechen in all den Dienstjahrzehnten schon abgenommen hatte und wie viele es später vermutlich gebrochen hatten.

Eigentlich empfand er es als romantisch, dass trotz der immer stärker um sich greifenden Nüchternheit Menschen den Weg in die Kirche beschritten, um vor Gott zu bezeugen, dass sie sich füreinander geschaffen glaubten. Meistens verlief das Leben anders, als junge Menschen es sich vorstellten. So kreisten die Gedanken des Pfarrers um seine eigene Ehe, die am Boden lag. Und er dachte an Cora. Er fühlte eine Sehnsucht, als er das Lachen der jungen Menschen sah, die vor ihm standen und die Ringe tauschten. Es war dieses eindeutige, uneingeschränkte Lachen, das Ja zum Leben und vor allem zur Liebe sagte.

Nachdem er den Segen gesprochen und die frisch Vermählten in die eisige Kälte entlassen hatte, schweifte sein Blick über den verschneiten Garten, auf dem am frühen Morgen der Tote gefunden worden war. Keine einzige Spur von dem erfrorenen Obdachlosen war mehr zu entdecken. Nur Ebeling und sein Kirchenvogt Vahldieck dachten für einen Moment an die gespenstische Szene im winterlichen Morgengrauen.

Dann drehte Vahldieck die Heizung wieder ab. Bis zum folgenden Sonntag würde die Kirche unbenutzt bleiben und deshalb auch wieder verschlossen, was Pfarrer Ebeling missfiel.

Er ging zu seinem Haus hinunter und überlegte, ob er Cora anrufen sollte. Aus irgendeinem, ihm nicht ersichtlichen Grunde verwarf er den Gedanken jedoch schnell wieder.

Ebeling traute sich gar nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Wenn er die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf betrachtete und die ziemlich rundliche Figur darunter, befielen ihn stets Zweifel, was die hübsche Staatsanwältin so attraktiv an ihm fand. Vielleicht rief er deshalb nicht bei ihr an, weil ihn die Angst plagte, dass sie ihn eines Tages mit offenen Augen betrachtete und ohne den Mantel der Verliebtheit ihren Gefallen an seinem welken Gesicht verlöre.

Kapitel 6


Am nächsten Tag flatterte der Staatsanwältin der Obduktionsbericht auf den Tisch. Der vermutlich obdachlose Mann, der vor der Tür der Kirche ihres Freundes den Tod gefunden hatte, starb ohne Fremdeinwirkung. Er war erfroren. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass ihn jemand tot vor die Kirche gezerrt und da abgelegt hatte. Den Weg dorthin musste der volltrunkene Mann in der Hoffnung, im Kirchengebäude Unterschlupf und Schutz vor der Kälte zu finden, allein zurückgelegt haben. Sein Alkoholgehalt im Blut belief sich auf 3,4 Promille. Cora Dennigsen gab nun ein Polizeifoto, das den Toten zeigte, an Fernsehen, Presse und soziale Medien mit der Frage weiter, ob jemand den Mann kenne. Seine Akte konnte sie definitiv schließen. Falls die Staatsanwältin Glück haben und sich jemand auf ihre Anfrage mit einem Hinweis melden sollte, könnte sie nachträglich seinen Namen den Akten hinzufügen. Ansonsten bliebe er einer von den namenlosen Toten dieser Welt.

Cora Dennigsen zog das Foto, das der Verstorbene bei sich gehabt hatte, aus der Akte heraus und hielt es in den Händen. Es wunderte sie, dass er es so sorgfältig in seinen Lumpen verstaut hatte. Doch wie versprochen legte sie es nicht wieder in die Akte, sondern würde es Jörg zu ihrem nächsten Treffen mitbringen. Im Augenblick wusste sie jedoch nicht, wann eine neuerliche Begegnung mit dem Pfarrer stattfinden würde und ob sie es überhaupt wollte. Cora war wieder gespalten in ihren Gefühlen diesem Mann gegenüber. Sie besah sich das Foto, noch einmal, bevor sie es in ihrer Handtasche verstaute. Dann beschäftigte sie kurz die Frage, was der so stark alkoholisierte Erfrorene mit diesem bildhübschen Mädchen zu tun hatte. Doch schließlich rief die Arbeit. Berge von Akten wollten beackert werden. Cora machte sich daran und schnell geriet das Mädchen mit den Klapperlatschen wieder in Vergessenheit.

Kapitel 7


Zwei Tage waren vergangen, ohne dass Cora und Jörg etwas voneinander gehört hatten. Es missfiel der Staatsanwältin, dass der Pfarrer sich nicht bei ihr meldete, obwohl ihr nicht klar war, ob sie das überhaupt wollte. Hätte es keinen Grund für sie gegeben, ihn anzurufen, wäre vielleicht noch viel Zeit verstrichen, bis er den Kontakt zu ihr gesucht und aufgenommen hätte.

Für Cora stand fest, dass sein offensichtliches Interesse an ihr verblasst sein musste, wenn er sich nicht meldete. Vielleicht gab es aber auch wieder Stress mit seiner Frau. So gab sie sich schließlich einen Ruck und rief ihn an. Nach mehrmaligem Klingeln ging er an sein Handy. Für Cora nicht spürbar wurde Jörg ganz warm ums Herz, als er ihre leicht angeraute Stimme vernahm. Dieses Mal sprach sie über den Toten vor der Kirche, während er sie mit Komplimenten überzog und sich froh darüber zeigte, ihre Stimme zu hören. Auf die Frage, warum er sich nicht bei ihr gemeldet hatte, gab Ebeling zur Antwort, aus Ärger mit seiner Frau keine Muße dazu gefunden zu haben.

Nach wenigen Minuten befanden sich beide wieder auf einer Wellenlänge und verabredeten sich zum gemeinsamen Abendessen in einem Restaurant in Goslar. Cora wollte dem Pfarrer das fragliche Foto mitbringen.

Wann immer es Jörg aus unterschiedlichen Gründen in dieses Städtchen zog, bewunderte er Goslar mit seiner historischen Altstadt, der Kaiserpfalz und den schmalen kopfsteingepflasterten Straßen.

 

Die beiden trafen sich in einem der Restaurants am Marktplatz, wo sie sich zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss gaben. Die Angst schwang mit, von irgendjemandem aus Leuterspring, der auch hier verweilte, beobachtet zu werden.

Nachdem sie an dem einzigen noch freien Tisch Platz genommen hatten, kam eine Kellnerin und entzündete die Kerze auf einem geschwungenen Bronzeständer vor ihnen. Sie spendete anfangs ein unruhiges Licht und ließ die Schatten der beiden hektisch über die weiße Wand tanzen. Doch als sie ihr Essen bestellt hatten, fand die Kerze zur Ruhe und die Gesichter der beiden schienen in ihrem Glanz wie verzaubert.

Beide verspürten das starke Bedürfnis zu reden. Angestrengt versuchten sie, Wörter für ihre Gefühle zu finden, was sich als äußerst schwierig gestaltete. Gefühle folgten immer völlig eigenen Sprachregeln jenseits von Semantik und Grammatik. Doch irgendwann ergab sich Klarheit für beide. Sie wollten es gemeinsam wagen und klaren Tisch machen. Die fünfzehn Jahre Altersunterschied blendeten die Verliebten einfach aus.

»Sie werden dich als Pfarrer rausschmeißen«, gab Cora zu bedenken.

»Können sie nicht. Allenfalls strafversetzen. Dann hat Leuterspring keinen Pfarrer mehr. Und bevor ich in einer fremden Gemeinde meinen Dienst aufnehmen muss, lass ich mich so lange krankschreiben, bis sie mich pensionieren.«

Cora entgegnete seinen Überlegungen nichts. Sie fragte sich unentwegt, warum es gerade dieser Mann sein sollte, dem sie ihr Leben anvertrauen wollte? Doch so seltsam es auch anmutete, so verhielt es sich mit der Liebe. Sie konnte nur aufflackern und sich entfalten, wenn niemand die Vernunft dem zarten Pflänzchen der Vertrautheit entgegenhielt. So ließen sich beide von ihren Gefühlen leiten und in eine Glückseligkeit hineintreiben, aus der sie niemand wieder herausreißen sollte. Allerdings befielen beide große Zweifel, für die sie Worte der Besorgtheit fanden. Worte, die an diesem Abend bedeutungslos blieben und ungehört verhallten.

Das Foto des toten Obdachlosen, das als Grund für die Verabredung hergehalten hatte, geriet fast in Vergessenheit. Nur beiläufig spielte es eine Rolle, da Cora es aus ihrer Tasche zog und Ebeling überreichte, als der für beide zahlte und sie kurz davor waren zu gehen.

Hand in Hand schlenderten sie nun über den Marktplatz durch die Straßen und Sträßchen der Fußgängerzone. Dort lagen sie sich in den Armen und küssten einander sehr intensiv und ausdauernd. Der Pfarrer verspürte eine ausgedehnte Erregung und konnte sich sicher sein, trotz des fortgeschrittenen Alters nichts an Manneskraft eingebüßt zu haben, wenngleich der Beipackzettel seines Betablockers genau vor diesen unangenehmen Nebenwirkungen warnte.

Da es für Ebeling keinen ersichtlichen Grund gab, nach Hause zu fahren, ließ er sein Auto im Parkhaus stehen und folgte seiner neuen Liebe in deren Goslarer Wohnung.

Ihn überkam ein sehr vertrautes Gefühl aus Jugendzeiten. Es ließ diese Verunsicherung in ihm erwachen, wenn er das erste Mal die Wohnung einer Frau betrat, die ihm gefiel und die er haben wollte - und nun auch haben konnte. Er war aufgeregt, weil alles noch so fremd und ungewohnt für ihn war.

So schaute er sich zunächst die einzelnen Zimmer ganz genau an, als müsse er das Revier abstecken, in das er gerade eingedrungen war. Ebeling betrachtete das Bild auf dem Wohnzimmerschrank. Es stand dort und hatte keinen Rahmen. Glas schützte das Foto, auf dem eine Frau und ein Mann mittleren Alters abgebildet waren.

»Sind das deine Eltern?«, wollte der Pfarrer von Cora wissen.

Sie nickte nur und er stellte bei genauerem Hinsehen eine Ähnlichkeit im Aussehen zwischen Cora und ihrer Mutter fest.

»Manche Leute sagen, ich sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten«, bestätigte sie Jörgs Feststellung. »Aber leider sind beide schon tot«, fügte Cora mit trauriger Miene noch hinzu.

Langsam begann er sich an die ihm noch fremde Umgebung zu gewöhnen und dadurch an Sicherheit zu gewinnen, sich seiner Angebeteten öffnen und hingeben zu können.

Am nächsten Morgen fuhr er nach Leuterspring zurück. Seine Frau war bereits zum Schuldienst aufgebrochen und er war sich sicher, reinen Tisch machen zu wollen, sobald sie zurückkehrte. Er war der Lügen überdrüssig.

Kapitel 8


Tee inspirierte Pfarrer Jörg Ebeling schon seit frühester Jugend. Natürlich trank er Kaffee zum Frühstück und manchmal zwischendurch. Wenn er jedoch Tee kochte und auf sein Stövchen stellte, genoss er die sich dann einstellende Atmosphäre. So weckte ein heißer Schluck aus der gefüllten dampfenden Porzellantasse an diesem Mittag nach der rauschenden Liebesnacht die scheinbar noch schlafenden Geister des 60-Jährigen.

Er setzte sich seine Hornbrille auf und nahm das Foto zur Hand, das der Tote bei sich getragen hatte. Zusätzlich holte Ebeling noch eine Lupe aus dem Schrank und besah sich die Aufnahme, die durch die starke Vergrößerung für den Pfarrer die Lebendigkeit eines Films annahm.

Er griff zur Teetasse und schlürfte daran. Das heiße Getränk verteilte sich im Magen und versprühte seine wohltuende Wirkung, durch die dem Geistlichen eine Idee kam. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging mit dem Foto in der Hand in den Keller hinunter. Dort befand sich ein kleines Archiv seiner Kirchengemeinde, das einer seiner Amtsvorgänger angelegt hatte. Vielleicht war das Mädchen mit den Klapperlatschen ja aus dieser Gemeinde und hier irgendwann in der ersten Hälfte der Siebziger konfirmiert worden.

Er wühlte eine Weile, bis er die Schwarz-Weiß-Fotos jener Tage fand und vorsichtig auspackte. Nacheinander betrachtete der Pfarrer die Bilder und glitt in Gedanken ab in jene ferne zurückliegende Zeit, in der auch er so jung gewesen war wie diese Jugendlichen auf den Fotos.

Die Jungen trugen dunkle Anzüge und Krawatten, die Mädchen weiße Blusen und schwarze Röcke, Strümpfe und Lackschuhe. Es waren Bilder wie aus einer anderen Welt.

Jedes Jahr am Sonntag nach Ostern, dem Weißen Sonntag, hatten die Konfirmationen stattgefunden, und anschließend hatte immer derselbe Fotograf die frisch Konfirmierten in stets gleicher Pose für die Ewigkeit ins Bild gesetzt.

Da standen diese wild zusammengewürfelten jungen Menschen, die die Prozedur der Einsegnung über sich ergehen lassen hatten und nun hoffnungsfroh in die Kamera schauten, wohlwissend, wieder eine Etappe auf dem langen Weg des Erwachsenwerdens genommen zu haben. Hinter ihnen in der Mitte ragte das Kruzifix hervor und der Gekreuzigte betrachtete seine Schützlinge. Dessen Arme schienen die Mädchen und Jungen zu segnen. In Wahrheit entließ der Sterbende die Jugendlichen ins Leben. Die Bilder waren verblasst und verstaubt.

Als Ebeling das Bild des Konfirmandenjahrgangs von 1974 genauer betrachtete, entdeckte er ein niedlich gekleidetes Mädchen, bei dem es sich um das fragliche auf dem Foto handeln könnte, das der Tote bei sich getragen hatte. Außerdem erkannte er in einem der Jungen Axel Süßkraut wieder, der sich schon im beruflichen Ruhestand befand und der Vorsitzende der Freiwilligen Feuerwehr von Leuterspring war.

Der Pfarrer suchte nun nach den Namen, die auf der Rückseite der Konfirmandenfotos so aufgeschrieben waren, dass sie sich den Jugendlichen problemlos zuordnen ließen, wenn man das Bild umdrehte. Gabriele Börner war dort zu lesen. Zweifelsohne war das Mädchen aus dem Dorf. Wenn sie wirklich das Mädchen mit den Klapperlatschen sein sollte, gab es eine Verbindung zwischen dem Toten vor der Kirche, dem Foto in seiner Jackentasche und der dörflichen Gemeinde. Es schien sich um eine uralte Geschichte zu handeln, die möglicherweise hier in der Kirche ihren hoffnungsvollen Anfang genommen und nach all den Jahren am selben Ort ihr schreckliches Ende gefunden hatte. Ebeling war es gelungen, eine erste Spur ausfindig zu machen. Er war wie besessen. Dem Mädchen mit den Klapperlatschen hatte er nun einen Namen zuordnen können. Über diese inzwischen ebenfalls in die Jahre gekommene Frau würde er herausfinden, bei wem es sich um den namenlosen Toten gehandelt hatte. Dessen war er sich sicher. Und als Pfarrer wusste er, dass ein unumstößlicher Glaube all unserm menschlichen Handeln vorausging. Sein Glaube war größer als die ebenso berechtigten Zweifel, dass er sich verrennen könnte.

Als er aus dem Keller wieder nach oben zurückkam, hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Seine Frau musste aus der Schule zurückgekommen sein. Er wusste, welche Stunde schlug und fasste allen Mut zusammen. Dennoch zitterten seine Hände und fühlten sich offensichtlich nicht stark genug, um den Schlussstrich unter so viele Ehejahre gerade wie einen Schnitt zu ziehen. Er musste es trotzdem tun. Jetzt oder nie! Pfarrer Jörg Ebeling entschied sich für das Jetzt.

»Wo bist du denn letzte Nacht gewesen?«, fragte ihn seine Frau vorwurfsvoll, während sie die Handtasche beiseitelegte und den Autoschlüssel auf die Anrichte im Flur schleuderte.

Ebeling spürte die Aggression, die sich sofort ausbreitete, nachdem seine Frau das Haus betreten hatte.

»Ich habe bei einem Freund in Goslar gepennt. Hatte zu viel getrunken, um noch mit dem Auto fahren zu können«, log er. Es war nicht der richtige Moment für die Wahrheit. Das spürte Ebeling sofort. Außerdem hatte ihn sein kurzzeitig aufgebrachter Mut in Windeseile wieder verlassen. In diesem Moment betrachtete er seine Frau und sie tat ihm leid. Sie hatte es nicht verdient, dass er sie belog und betrog. Ihre Treue zu ihm brauchte er hingegen nicht anzuzweifeln.

Sie ging nicht weiter auf ihn ein und verschwand demonstrativ in der Küche. Er wusste, dass sie ihm damit ein schlechtes Gewissen machen wollte. In der Küche kannte sich der Pfarrer nicht aus. Einen Augenblick überlegte er, ob diese Tatsache nicht mit seiner Freundin zum Problem werden könnte. Sie war fünfzehn Jahre jünger. Frauen noch nicht so weit zurückliegender Geburtsjahrgänge verhielten sich im Regelfall emanzipierter und schlüpften nicht in die altertümliche Rolle, die sie jahrhundertelang ausgefüllt hatten.

Ebeling beschloss kurzerhand, jeglicher Diskussion aus dem Weg zu gehen, und stieg noch einmal in den Keller hinab. Da verstaubten Aktenberge, für die sich im Regelfall nie wieder ein Mensch interessierte. Doch der Pfarrer hatte einen Grund gefunden, den Staub von ihnen zu schütteln und sie aufzuschlagen, um damit weit zurückliegende Vergangenheit aufzublättern und zu neuem Leben zu verhelfen.

Wenn das Mädchen auf dem Foto in Leuterspring konfirmiert worden war, stammte es aus diesem Dorf. Dann hatte es ihre Eltern hierher verschlagen oder ihre Familien waren hier schon immer ansässig gewesen. Fiel die Konfirmation des Mädchens in das Jahr 1974, lag ihr Geburtstag vermutlich vierzehn oder fünfzehn Jahre zuvor.

Ebeling nahm das Taufregister zur Hand. Tatsächlich fand er das Datum. Gabriele war am 11. Januar 1960 zur Welt gekommen und am 1. Mai 1960, einem Sonntag, in der Kirche von Leuterspring getauft worden. Als Taufpatin war Helga Ziegler eingetragen. Diese Frau lebte noch und besuchte den Seniorenkreis der Kirchengemeinde einmal im Monat montagnachmittags sowie den sonntäglichen Gottesdienst mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Trotz ihrer 92 Jahre, die sie inzwischen auf dem Buckel hatte, fiel sie jedem durch ihren Scharfsinn sowie ihre körperliche Unversehrtheit auf. Sie marschierte noch immer ohne Gehhilfen in aufrechter Körperhaltung so durchs Dorf, als hätten die Anstrengungen der vielen Lebensjahre ihre Knochen vollständig in Ruhe gelassen. Obendrein war die alte Dame ein Ausbund an Freundlichkeit. Ebeling hatte die Patentante des Mädchens von einst gefunden.

Die Eltern von Gabriele waren aber beide tot, wie er den Akten entnahm. Die Mutter war schon 1979 gestorben und den Vater hatte Ebeling selbst im Jahre 2009 beerdigt, ohne jedoch zu wissen, welche Bedeutung er plötzlich für ihn bekam.

Nun blätterte er weit zurück und stöberte das Buch mit den Amtshandlungen der Jahre 1959, 1958 und 1957 durch. Da fand er sie: die Hochzeit von Gabrieles Eltern. Drei Jahre vor ihrer Geburt hatten sie sich in der Kirche von Leuterspring das Jawort gegeben. Benno Börner hatte Annegret Lachmann im Sommer 1957 geheiratet.

Der Pfarrer war fest entschlossen, alles über diese Familie in Erfahrung zu bringen, da er sicher war, über diesen Weg Zugang zu dem namenlosen Toten vor seiner Kirche zu finden.

 

Er verstaute die Akten im Keller wieder. Niemals würde irgendjemand all diese Daten digitalisieren, da sie praktisch ohne jegliches Interesse für alle Nachgeborenen waren. Vielleicht könnten sie einem Heimatpfleger dienlich sein, der eine Chronik über das Dorf oder seine Kirche schreiben wollte.

Ebelings Frau wirbelte noch immer in der Küche herum, während er die Nummer von Helga Ziegler aus dem Telefonbuch heraussuchte, zum Hörer griff und sie wählte.