Burnett wiederentdeckt

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Dion Tabrett

Burnett wiederentdeckt

Klinische Strategien des großen

Homöopathen für die heutige Praxis –

Wirkungsrichtung von Arzneien –

Organmittel – Pathologisches

Simillimum – Vaccinosis


Impressum

Dion Tabrett

Burnett wiederentdeckt

Klinische Strategien des großen Homöopathen für die heutige Praxis – Wirkungsrichtung von Arzneien – Organmittel – Pathologisches Simillimum – Vaccinosis

1. Auflage 2017

ISBN: 978-3-95582-241-5

© 2017 Narayana Verlag GmbH

Originalausgabe: Burnett Rediscovered

Clinical Strategies of the Great Homeopath for Modern Practice – Line of Action of Remedies – Organ Remedies – Pathological Similimum – Vaccinosis

© 2017 Narayana Verlag

Übersetzt aus dem Englischen von Shiela Mukerjee-Guzik

Coverabbildung vorne: © Shutterstock – Scorpp;

hinten: © Shutterstock – Kamomeen

Herausgeber: Narayana Verlag,

Blumenplatz 2, 79400 Kandern, Tel.: +49 7626 974970-0

E-Mail: info@narayana-verlag.de, Homepage: www.narayana-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen dieses Buches wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Inhalt

Einführung

1. Organopathie

Einleitung

1.1 Definition der Organopathie

Organopathische Medizin

Fallstudie

1.2 Pathologisches Simillimum

1.3 Liste der Organmittel

1.4 Materia Medica der führenden Organmittel

Arzneien für die Leber

Arzneien für die Milz

Arzneien für die Gebärmutter

1.5 Synorganopathie

Varizen

Herzversagen

1.6 Zusammenfassung

Weiterführende Literatur

2. Homöopathie/Ähnlichkeit der Symptome

Einleitung

2.1 Burnetts Definition des Ähnlichkeitsgesetzes

2.2 Wirkungsort

2.3 Wirkungsart

2.4 Wirkungsspektrum und Haltepunkt

Haltepunkt der Wirkung

Fallbeispiel

2.5 Pathologisches Simillimum

Fallstudie Mammatumor

Fallstudie Ekzem

2.6 Kombination von drei oder vier Arzneien, turnusmäßiger Wechsel von Arzneien

2.7 Abwechselnde Gabe von Arzneien (Doppelgabe und die abwechselnde Gabe von Arzneien nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten)

Fallstudie

Fallstudie

2.8 Zusammenfassung

Weiterführende Literatur

3. Medizinische Doktrinen

Einleitung

3.1 Miasmen und Nosoden

Vererbtes Miasma

Erworbenes Miasma

Infektiöses erworbenes Miasma

Nicht-infektiöses erworbenes Miasma

Offenliegendes Miasma

Aktives Miasma

Schlafendes Miasma

3.2 Materia Medica der Nosoden/ Zoische Arzneien

Die Krebsnosoden

Fallstudie

3.3 Vakzinose

3.4 Ätiopathologie

Ätiologische Faktoren

Zwei ätiologische Fälle

Ein Fall von Angstzuständen und Milzschwellung

3.5 Hybrid-Fälle und Konstellation der Symptome

Ein Hybrid-Fall

3.6 Zusammenfassung

Schlusswort

4. Anhang

4.1 Weiterführende Literatur

4.2 Burnetts Therapeutika von A-Z

4.3 Glossar

4.4 Arzneimittelverzeichnis

4.5 Stichwortverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

Einführung

Willkommen in der Welt von James Compton Burnett. Burnett war ein überaus erfolgreicher Homöopath und Autor zahlreicher Bücher zum Thema homöopathische Medizin. In seinen Werken schrieb er eine Vielzahl von geheilten Fällen von Tumoren, Tuberkulose und Vakzinose nieder, deren Heilung oftmals die Verschreibung von Nosoden und Organmitteln zugrunde lag. Darüber hinaus erweiterte er die Definition und Auslegung des Ähnlichkeitsgesetzes. Was gäbe es also, was man an Burnett nicht schätzen könnte?

Dieses Buch eignet sich ebenso für Studenten der Homöopathie wie für Homöopathen, die ihre Ausbildung bereits abgeschlossen haben. Die Lektüre empfiehlt sich besonders für Studenten, die bereits ein Studienjahr absolviert haben. Sie sollten in dieser Zeit die wesentlichen Prinzipien der homöopathischen Philosophie gelernt sowie sich grundlegende Kenntnisse in den Bereichen Materia Medica, Miasmentheorie, Anatomie und Physiologie angeeignet haben. Das Verständnis der Methodik der klassischen Homöopathie wird vorausgesetzt. Absolventen und praktizierende Homöopathen können mithilfe dieses Buches ihre Kenntnisse über Burnett auffrischen. Sollte Burnetts Arbeit hingegen Neuland für Sie sein, kann dieses Buch als Wegweiser durch sein Gesamtwerk dienen. Anmerkung: Dieses Buch ist als Lehrbuch für Studenten des Orion Postgraduate Course vorgesehen.

 

Burnett verfasste seine Schriften eher für praktizierende Homöopathen als für Studenten, daher ist es ratsam, bei der Lektüre eine umfassende Arzneimittellehre und ein medizinisches Wörterbuch zur Hand zu haben.

Chitkaras Buch Best of Burnett ist sehr empfehlenswert, aber, wie Chitkara in seiner Einleitung selbst schreibt, es ersetzt nicht Burnetts Originalwerke. Best of Burnett kann sozusagen als eine Zusammenstellung der „größten Hits” betrachtet werden. Aber wie jeder Musikliebhaber weiß, muss man die Originalwerke hören, um ein wahres Verständnis zu entwickeln. Das vorliegende Buch hat nicht die Absicht, Burnetts Originalwerke zu ersetzen, sondern birgt die Hoffnung, das Interesse an diesen zu wecken und dazu anzuregen, sie zu lesen bzw. erneut zu studieren.

Burnett liebte die Philologie: die Wissenschaft der Sprache und die Liebe zum Lernen und zur Literatur. Dies ist vermutlich der Grund dafür, warum er austauschbare Begriffe verwendete und sogar neue Begriffe erfand, um seinen Gedanken und Ideen Ausdruck zu verleihen. Seine Sprachkenntnisse in Französisch, Deutsch, Griechisch und Latein trugen sicherlich wesentlich dazu bei. Allerdings kann das Studium seiner Schriften dadurch manchmal etwas knifflig sein. Damit es leichter ist, sich in Burnetts Originalwerken zurechtzufinden, habe ich ebenfalls viele der von ihm geprägten Begriffe (in Fettdruck dargestellt) verwendet und diese mit entsprechender Erklärung in einem Glossar zusammengefasst. Dieses enthält darüber hinaus im Hinblick auf die Studenten unter der Leserschaft auch die allgemeine homöopathische Terminologie.

Burnett ist in den letzten 23 Jahren mein treuer und zuverlässiger Begleiter und „klinischer Kompass” gewesen. Bei dem Versuch, ein Verständnis für Burnetts Vorgehensweise bei der Fallanalyse zu entwickeln, habe ich festgestellt, dass dieser ein breit gefächerter und weitreichender Ansatz zugrunde lag. Dabei integrierte Burnett je nach Erfordernis die verschiedensten Disziplinen oder schuf sogar neue, wenn es noch keine entsprechenden gab. Er war ein therapeutischer Pionier, der trotz seiner fantastischen klinischen Arbeit und Erfolge auf das Heftigste kritisiert wurde.

Burnett versuchte selten, einen Fall vollständig mit einer einzigen Arznei zu lösen. Und je komplexer oder vermischter ein Fall war, desto wahrscheinlicher war es, dass er mehrere Mittel einsetzte – je komplizierter der Fall, desto mehr Arzneien. In all seinen Werken wird deutlich, dass er sich mit jedem einzelnen Fall sehr intensiv befasste und ihn von allen Seiten betrachtete. Dabei suchte er nach Organmitteln, Arzneien, die zur Symptomatik passten, Symptommustern für die Verordnung von Nosoden, Anzeichen für eine vorliegende Vakzinose und Hinweisen auf mögliche Ursachen – ähnlich einem Astronom, der den Nachthimmel nach bekannten Sternen und Sternenkonstellationen absucht. Manchmal erkennen wir bestimmte Sterne oder Muster wie z. B. den Großen Bären, und dann wieder sind wir vollkommen verloren, bis wir schließlich doch eine Reihenfolge erkennen und zum Ziel geführt werden. Deshalb habe ich den neuen Begriff „Konstellation der Symptome” geprägt, und ich hoffe, dass damit die Bedeutung der Suche und des Erkennens bestimmter und verschiedener Muster von Symptomen deutlich wird, die wiederum anzeigend für spezifische und unterschiedliche Arzneien in einer individuellen Fallgeschichte sind. So wie die Sterne am Nachthimmel verschiedene Konstellationen bilden können, können auch Symptome und Arzneien Fallgeschichten entstehen lassen.

Dieses Buch besteht aus drei Hauptteilen:

Organopathische Medizin

Ähnlichkeit der Symptome (Hahnemanns Homöopathie)

Medizinische Doktrinen (Miasmen/Nosoden, Vakzinose, Ätiologien)

Wir beginnen mit den Organmitteln, arbeiten uns dann in die komplexen Grundlagen des Ähnlichkeitsgesetzes ein und wenden uns abschließend den medizinischen Doktrinen zu. Am Ende des Buches findet der Leser einen therapeutischen Index von A bis Z, der auf Burnetts klinischer Arbeit beruht.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei zwei Menschen bedanken, die mich beim Schreiben dieses Buches sehr unterstützt haben. Beide sind großartige Homöopathen (und daneben auch exzellente Schachspieler). Dabei handelt es sich zum einen um Lynn Forte, die mich vor nunmehr etlichen Jahren in die Homöopathie einführte. Zum anderen stehe ich in der Schuld von Mike Bridger, der seine Gedanken zu Arzneimittelbeziehungen, Dreifachmitteln, Fall-Mapping und Mittelkonstellationen auf großzügigste Weise mit mir teilte. Mike ist der einzige andere Homöopathe, den ich kenne, der auf wahrhaft Burnettsche Manier verordnet und lehrt, Hand in Hand mit einem tiefgründigen Verständnis der Kentschen Fallbeschreibungen und Arzneimittellehre.

1994 hielt ich am Londoner College of Homoeopathy des Regents Park College meine erste Vorlesung vor Studenten. Diese Vorlesung trug den Titel „James Compton Burnett” und hatte die Erläuterung von Burnetts Vorgehensweise in der Praxis zum Inhalt. Nun sind bereits mehr als 20 Jahre vergangen, und ich halte immer noch eine ähnliche, wenn auch deutlich aktualisierte Version dieser Vorlesung.

Die Arbeit an diesem Buch hat mir großes Vergnügen bereitet, und jedes Mal, wenn ich eines von Burnetts Büchern zum wiederholten Male lese, lerne ich wieder etwas Neues. Ich muss allerdings ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Versuch, die besten Teile aus all seinen Werken zu extrahieren und in einem Buch zusammenzufassen, ein unmögliches Unterfangen ist. Ich kann nicht eine große Menge in ein kleines Gefäß schütten, sei es ein Bierglas oder ein Buch über Burnett.

Dion Tabrett

1 Organopathie
Einleitung

Der erste Teil dieses Buches behandelt die organopathische Medizin. Er enthält eine Definition des Begriffs Organopathie und gibt eine Einführung in das pathologische Simillimum. Darüber hinaus findet der Leser eine umfassende Auflistung von Organmitteln sowie einen Abschnitt zur Materia Medica. Für ein tieferes Verständnis der Organopathie wird der von Burnett geprägte Begriff Synorganopathie ausführlich erläutert. Dieser Ansatz wird nur selten im Zusammenhang mit den Organmitteln gelehrt, obwohl er in sich vollkommen stimmig ist, insbesondere wenn er mit dem Wissen von Anatomie und Physiologie kombiniert wird.

1.1 Definition der Organopathie
Organopathische Medizin

Organopathische Medizin ist die Behandlung von Organkrankheiten mit Organmitteln.

Organkrankheiten sind beispielsweise Zustände wie Gelbsucht oder Gallensteine in der Leber und Gallenblase oder Myome bzw. Polypen in der Gebärmutter, die von einem Arzt diagnostiziert werden. Auch Entzündungen, Über- oder Unterfunktionen, ebenso wie jedwede andere Pathologie können als Organerkrankung klassifiziert werden.

Organmittel sind Arzneien mit einer gezielten Affinität zu spezifischen Lokalisationen im Körper. Klassische Beispiele für Organmittel, die in der Materia Medica gefunden werden können, sind:

Ceanothus (Cean) für die Milz

Chelidonium (Chel) für die Leber

Thlaspi bursa pastoris (Thlas) für die Gebärmutter

Organmittel entstammen überwiegend, aber nicht ausschließlich, dem Pflanzenreich. So ist z. B. der herkömmliche Name für Chelidonium Schöllkraut und für Thlaspi bursa pastoris Hirtentäschelkraut. Einige Organmittel sind mineralischen oder auch tierischen Ursprungs. (Siehe auch die vollständige Liste in Abschnitt 3.1.)

Bekannte Polychreste wie z. B. Arsenicum album, Lycopodium und Nux vomica sind gleichzeitig auch Organmittel und werden einerseits eingesetzt, um Leberstörungen zu behandeln, haben andererseits aber auch noch viele weitere mögliche Einsatzgebiete in ihrem Spektrum. Weisen die Symptome eines Patienten auf ein Polychrest hin, das auch die Organerkrankung vollständig abdeckt, werden kleinere Organmittel nur selten benötigt.

Chelidonium ist gut für seine starke selektive Wirkung auf die Leber bekannt. Burnett nannte diese Affinität zu einem bestimmten Organ Spezifität der Lokalisation. Den pathologischen Zustand des Organs bezeichnete er als Primärort. Er postulierte, dass der schnellste Weg zur Heilung darin besteht, den Primärort der Erkrankung zu identifizieren und dann eine Arznei oder mehrere Mittel zu verschreiben, die eine Affinität sowohl zur Lokalisation als auch zur Pathologie aufwiesen. Anders ausgedrückt, der pathologische Zustand eines Organs (Primärort) wird in Bezug gesetzt zu Arzneien, die eine ähnliche Pathologie (Spezifität der Lokalisation) hervorrufen bzw. heilen können, worauf dann die Verschreibung erfolgt.

Die pathologische Affinität des Organmittels spiegelt die Organpathologie des Patienten wider.

Die Spezifität der Lokalisation entspricht dem Primärort.

Analysiert man einen Fall nach Burnetts System, ist es nicht zwangsläufig notwendig, die charakteristischen mentalen und emotionalen bzw. die allgemeinen und speziellen körperlichen Symptome (Gesamtheit der Symptome) einzubeziehen. Allerdings bedarf es zur Bestätigung der Mittelwahl einer pathologischen Diagnose wie z. B. Gallensteine oder Gelbsucht.

Burnett betrachtete die organopathische Medizin als „elementare Homöopathie” oder „Homöopathie ersten Grades” (Erkrankungen der Milz, S. 11). Er schrieb, dass Organmittel „die Fundamente unseres homöopathischen Hauses” bilden (Organerkrankungen bei Frauen – Die Wechseljahre der Frau, S. 36). Seine Begründung ist einfach: Eine Organerkrankung wird in Übereinstimmung mit einem Organmittel gebracht. Eine Arznei, die allein anhand der Gesamtheit der Symptome verordnet wird, wird als Simillimum bezeichnet; im Gegensatz dazu nannte Burnett die Arznei für eine Organbehandlung (Organopathie) Simile.

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass in einem Fall, in dem eine angezeigte homöopathische Arznei gleichzeitig das Simillimum ist und den pathologischen Zustand des Organs vollständig abdeckt, spezifische Organmittel nicht benötigt werden. Sehr oft deckt ein Polychrest sowohl die Symptome als auch die Pathologie ab, aber in genauso vielen Fällen tut es das nicht, und dann ist ein Organmittel überaus nützlich. Im Vergleich zu einer allgemeinen homöopathischen Behandlung ist der Grad der Ähnlichkeit bei einer organopathischen Behandlung geringer. Aus diesem Grund gab Burnett Urtinkturen (Ø), niedrige Dezimal- (D) oder tiefe Centesimal-(C) Potenzen. Die Dosis der Urtinktur betrug meist 5 bis 20 Tropfen, die zwei- oder dreimal täglich eingenommen werden sollten. Dezimalpotenzen wurden im Allgemeinen als D1 bis D3 zwei- bis dreimal täglich verordnet. Centesimalpotenzen waren meist Potenzen zwischen C1 und C5 und sollten ebenfalls zwei- oder dreimal täglich eingenommen werden. Jede Verordnung sollte zwei bis vier Wochen lang eingehalten werden, worauf der Fall neuerlich betrachtet wurde. Eine organopathische Behandlung dauert in der Regel einen bis sechs Monate. Die Ergebnisse können sehr eindrucksvoll sein, auch wenn nur tiefe Potenzen eingesetzt werden.

Betrachtet man die Homöopathie als mächtige Eiche, könnte man die Organopathie als Eichel bezeichnen.

Burnett verfolgte den Ursprung der organopathischen Medizin bis zu Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), besser bekannt als Paracelsus, zurück. Er formulierte eine erste These zur organopathischen Medizin, indem er postulierte, dass Organe Gegenspieler in der Natur hätten, die sich bei Krankheitszuständen als heilsam erweisen könnten.

Johann Gottfried Rademacher (1772–1850) griff Paracelsus‘ Theorie erneut auf und erweiterte sie. Nach seiner Zeit verschwand die Praxis der organopathischen Medizin allerdings größtenteils wieder von der Bildfläche. Wenn Rademachers Rolle darin bestand, die Hohenheimsche Organopathie wiederzubeleben, so lieferte Burnett wiederum die dazu nötigen Elektroden und eine therapeutische Dosis elektrischer Energie, um die Defibrillation auszulösen, das Herz der Organmedizin wieder zum Schlagen zu bewegen und das Gebiet der Organmittel zu erweitern. Burnett war in Großbritannien der führende Kopf dieser homöopathischen Behandlungsform, was sicher zu einem erheblichen Teil durch seine anatomischen Studien gestützt wurde. Burnett nahm sein Medizinstudium an der Universität in Wien auf und machte 1869 seinen Abschluss. Die Wissenschaft der Anatomie interessierte ihn so sehr, dass er ihrem Studium noch zwei weitere Jahre widmete. Anschließend kehrte er nach Großbritannien zurück und schrieb sich für das Studium der Medizin an der Universität in Glasgow ein, das er 1872 abschloss. Seine Abschlussprüfung in Anatomie dauerte anderthalb Stunden; der Professor, der Burnett geprüft hatte, schüttelte diesem anschließend die Hand und sagte, dass er noch niemals einem derart brillanten Studenten begegnet wäre, der solch tief gehende und umfassende anatomische Kenntnisse gehabt hätte. 1875 legte Burnett seine Abhandlung „Specific Therapeutics” [Spezifische Therapeutika] vor, um die Doktorwürde zu erlangen. Diese Arbeit wurde allerdings aufgrund ihrer Bezüge zur Homöopathie von den Gutachtern abgelehnt. Burnett wartete darauf ein Jahr, bevor er erneut eine zweite, akzeptablere Dissertation vorlegte, die ihm 1876 schließlich den Doktortitel einbrachte. Auf der Grundlage seiner umfassenden anatomischen Kenntnisse untersuchte Burnett seine Patienten mit Techniken wie Palpation, Perkussion und Auskultation, um den Zustand der inneren Organe zu bestimmen und den Primärort der Erkrankung festzustellen. So ließ beispielsweise die Entzündung der Leber an verschiedenen Lokalisationen einen Rückschluss auf das am ehesten infrage kommende homöopathische Lebermittel zu, wie z. B. Carduus marianus, Chelidonium oder Chelone glabra. (Siehe auch die Materia Medica der Organmittel, Abbildung 1.) Nach einer solchen Untersuchung stellte Burnett eine Diagnose und begann mit der angemessenen Behandlung. Allerdings gingen viele andere Organopathen früher nach dem Prinzip der Organtestung vor. Hier wird das Ähnlichkeitsgesetz auf eine Ebene heruntergeschraubt, wo es lediglich darum geht, die Erkrankung eines Organs mit der Organaffinität einer Arznei in Übereinstimmung zu bringen. So wurde eine Störung der Leber einfach mit Chelidonium, Carduus marianus oder irgendeiner anderen primären Leberarznei behandelt. Stellte sich eine Besserung ein, wurde die Testung als positiv beurteilt. Dies erlaubte die Fortsetzung der Behandlung nach den gleichen Gesichtspunkten. (Kam es hingegen zu keiner Besserung, war das Testergebnis negativ und andere Behandlungsstrategien, wie z. B. Ähnlichkeit der Symptome/Gesamtheit der Symptome, Vakzinose, Miasmatik etc. mussten einbezogen werden.) In vielen Fällen wurde ein Lebermittel einen Monat lang gegeben und dann von einer weiteren Leberarznei abgelöst, die ebenfalls einen Monat lang verabreicht wurde. So folgte beispielsweise auf Chelidonium häufig das Mittel Carduus marianus. Anschließend wurde entweder zu einer dritten Arznei gewechselt oder es erfolgte die Rückkehr zu Chelidonium. Burnetts Grundgedanke bestand darin, entweder die Suche nach dem wirksamsten Mittel fortzusetzen oder die Behandlung so aufzubauen, dass jede Arznei einen gewissen Prozentsatz zur Heilung des Falles beitrug. Immer wenn die Wirkung der einen Arznei erschöpft war, wurde zu einem neuen Mittel gewechselt, das wiederum einen weiteren Prozentsatz zur Heilung beisteuerte. Dies wurde so lange durchgeführt, bis die Heilung vollständig war.

 

Dieser turnusmäßige Wechsel von Arzneien — die aufeinanderfolgende Gabe von ähnlich wirkenden Arzneien — wurde von Burnett nicht nur im Rahmen der Verschreibung von Organmitteln vorgenommen, sondern auch bei homöopathisch-therapeutischen Verordnungen und Nosoden. (Siehe auch die Abschnitte zur Symptomenähnlichkeit und die Kapitel zu den medizinischen Doktrinen.)

Für ein umfassendes Verständnis ist es erforderlich, einige der Begriffe zu definieren, die Burnett v. a. im Zusammenhang mit der organopathischen Medizin verwendete, die aber auch bei der Behandlung nach Symptomenähnlichkeit hilfreich sind.

Burnetts Terminologie (modifiziert entsprechend der heute üblichen Definitionen):

Primärort: die Lokalisation der Pathologie bzw. einer Entzündung in einem bestimmten Organ, z. B. Gallensteine in der Gallenblase;

Spezifität der Lokalisation: die Affinität von Arzneien zu einem bestimmten pathologischen Zustand spezifischer Organe, z. B. Chelidonium zur Gallenblase und Gallensteinen;

Symptomatisches Simillimum: eine Arznei, welche die Gesamtheit (Totalität) der Symptome abdeckt. Das symptomatische Simillimum kann dabei auch die Organpathologie abdecken, muss es aber nicht;

Pathologisches Simillimum: eine Arznei, welche die Pathologie des Falles vollständig abdeckt. Das pathologische Simillimum kann dabei auch die Gesamtheit (Totalität) der Symptome des Falles abdecken, muss es aber nicht.

Dies erscheint auf den ersten Blick verwirrend, aber das nachfolgende Fallbeispiel wird jeden Begriff erklären. Burnetts Ansatz bestand darin, innerhalb der Gesamtheit der Symptome nach einer bestimmten Konstellation von Symptomen zu suchen. Diese konnte manchmal wiederum einer behandlungsbedürftigen Organpathologie zugeschrieben werden.