Kleine Morde unter Freinden: Wien-Version

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Dietmar Koschier

Kleine Morde unter Freinden: Wien-Version

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kleine Morde unter Freinden: Wien-Version

Vorwort

Hauptwort

Nachwort

Impressum neobooks

Kleine Morde unter Freinden: Wien-Version

Vorwort

„Diese Geschichte könnte überall spielen“ lässt Danny Boyle im Vorspann zu seiner 1994 erschienen Krimi-Komödie Shallow Grave (Kleine Morde unter Freunden) sagen, und sämtliche Großstädte mit ihrem kommerziellem Einheitsbrei und zugemüllten Straßen sind haargenau gleich, heißt es sinngemäß in Easy Rider 1969.

Also warum nicht auch in Wien spielen lassen? Immerhin Welt-Hauptstadt der falschen Freunde und folkloristisch betonten goldenen Herzen, die sich bei näherem Hingucken jedoch oft genug als aus Katzengold entpuppen.

Hauptwort

Julia, Alex und Christoph wohnen als WG in einer Eigentumswohnung, die Christoph von seiner Großmutter vererbt worden ist, im obersten Stockwerk mitsamt Dachbodenzugang in einem adretten Jugendstilbau aus der Jahrhundertwende in einem noblen Teil des 13. Wiener Gemeindebezirks.

Julia ist eine junge Frau Ende 20 mit drallen Brüsten und kessen Blicken. Sie ist weder auffallend groß noch auffallend klein, sondern weist eine solide Durchschnittsgröße auf und ist angenehm mollig an den richtigen Stellen ihres weiblich gerundeten Körpers. Sie kokettiert gern und stellt ihr brünettes Haar flott nach einer Seite gekämmt zur Schau.

Alex ist Anfang 20 – 22, um genau zu sein –, schlank, hat schulterlanges flachsblondes, wallendes und vor allem volles Haar, auf das er sehr stolz ist und hingebungsvoll pflegt. Charakteristisch für ihn sind die zahlreichen Varianten seines Grinsens: von schelmisch über betörend (vor allem in Verbindung mit seinen blitzblauen Augen) bis hinterlistig und verschlagen. Insgesamt ein recht gutaussehender Bursche von mittelmäßiger Statur.

Christoph ist mit Mitte 30 der Älteste von den dreien. Seine Körpergröße liegt etliche Zentimeter über dem Durchschnitt, doch da er dünn und schlaksig ist, wirkt er oftmals umso größer. Er trägt sein exakt geschnittenes, dunkelbraunes Haar in der Regel gescheitelt. Nickelbrille. Hakennase. Zudem legt er Wert auf stilvolle und seriöse Kleidung. Flapsige Jacken zum Beispiel sind ihm ein Gräuel; er trägt, sobald die Witterung dies erlaubt, Mäntel, die außerdem seine Schulterpartie breiter erscheinen lassen.

Julia, Alex und Christoph unternahmen, obwohl sie ohnehin zusammenwohnten und tagtäglich mehrere Male aufeinander trafen, relativ viel miteinander. Ob sie wirkliche Freunde waren, hätte vermutlich keiner der drei auf Anhieb eindeutig bejahen können, doch was sie auf alle Fälle einte, war ihr grenzenloser Zynismus.

Christophs Wohnung war äußerst großzügig dimensioniert. Während sich die Parteien unter ihnen ihre jeweiligen Stockwerke zu dritt oder viert teilen mussten, stand dem Trio die Wohnfläche ihrer Etage praktisch alleine zur Verfügung. Der Zugang zum nicht ausgebauten Dachboden war zudem nur ihnen möglich, durch eine ausklappbare Luke in der Decke ihres Vorraums.

In ihrer Wohnung gab es ein Zimmer, das sie eigentlich nie benutzten, höchstens ab und zu als vorübergehende Abstellkammer. Ansonsten befand sich nicht viel darin außer ein Bett mit Nachtkästchen und Lampe, eine Kommode, ein Kasten sowie ein Bild von Albrecht Dürers berühmtem Hasen, rot gerahmt.

Auf der online-Plattform job&wohnen.at hatten sie ebendieses Zimmer beständig zur Vermietung inseriert, obwohl sie es gar nicht vermieten wollten. Julia, Alex und Christoph wollten innerhalb ihrer Wohnung eigentlich unter sich bleiben, aber sie machten sich einen Spaß daraus, Interessenten anzulocken, um diese dann in ihren vier Wänden mit einem Stakkato an dämlichsten oder intimsten Fragen Verhören zu löchern oder sie mit absurden Aktionen zu verunsichern und zum Narren zu halten.

„Was sind deine Hobbys“, „Warum willst du ausgerechnet dieses Zimmer hier?“, „Rauchst du?“, „Rauchst du Gras?“, „Bist du geschieden?“, „Hattest du schon mal gleichgeschlechtlichen Verkehr? Wenn ja, warum; wenn nein, warum nicht?“, „Warum ist deine letzte Beziehung in die Brüche gegangen?“, „Bist du gegangen oder er?“, „Magst du Pizza?“, „Würdest du in der Wohnung Fahrrad fahren?“, „Klaust du manchmal was im Supermarkt?“, „Ganz kurz nur zur Tagespolitik: Was hältst du von der Pensionsrechtsreform?“, „Staatsanleihen mit hundertjähriger Laufzeit: Gut oder schlecht?“, „Wer von euch hat auf der Scheidung bestanden?“, „Haben deiner Meinung nach die Dadaisten den Kunstmarkt ruiniert?“, „Wann hat jemand zum letzten Mal folgende Worte an dich gerichtet: Du bist der Sonnenschein meines Lebens?“. Besonders wenn Alex jene letzte Frage mit betörender Stimme stellte, mussten viele schlucken oder blickten drein wie ertappt.

Manchen Interessenten drehten sie durch die Mangel, indem sie ihnen eine schier endlose Reihe von aus dem Internet gesaugten Katzen- und Babyfotos unter die Nase hielten, die sie als ihre eigenen oder aus ihrer Verwandtschaft stammend ausgeben und Bewunderung dafür kassieren wollten, oder sie präsentierten grässlich hingeschmierte Bilder, die jedes Kleinkind besser hingekriegt hätte, und heischten aufdringlich um Applaus. Rang sich jemand Worte des Lobes ab, fragten sie diesen jemand daraufhin erst recht, ob er denn gar keinen Geschmack habe.

Kam ihnen jemand sittsam, religiös vor, versuchten sie diejenigen mit abstrusen ketzerischen Fragen aus der Fassung zu bringen. „Wenn du eine Ziege opferst und ihr das noch schlagende Herz herausreißt, beschwörst du damit einen Dämon herauf?“, „Wie würdest du reagieren wenn du herausfindest, dass ich der Antichrist bin?“ Oder sie spielten lärmenden Death Metal vor und fragten, ob es für die Person in Ordnung sei, dass Christophs Band Unsensibles Draufspucken zweimal in der Woche zur Probe käme. Oder Julia tat, als leide sie an Tourette: „Nun, was – Arschfick-Fotze! – stellst du dir – Satanshurenkind! – unter einem harmonischen Zusammenleben denn vor? – blöder Scheißeschwengel, arschblöder!“

Hatten die drei es mit einem Gruftie oder Emo – schwarzer Lippenstift, schwarze Haare, schwarze Kleidung, schwarze Schuhe, blass geschminkt – zu tun, legten sie geheucheltes Mitgefühl an den Tag. „Wenn du in der Früh aufwachst und einen weiteren beschissenen Tag zu bewältigen hast, woher weißt du dann, für welches Schwarz du dich entscheiden sollst?“

Einfachen Arbeitern, die das Zimmer als Pendlerwohnung unter der Woche nutzen wollten, die den Attacken gebildeter Rhetorik wenig intellektuelle Bollwerke entgegenzusetzen hatten, entlockte das Trio perfid deren Lebensbeichte, und so manches gestandene Mannsbild hatte auf ihrer Couch zu flennen begonnen wenn es zugeben musste, seine Frau wegen eines anderen Mannes verlassen zu haben, oder dass die Affäre, die ein treusorgender Familienvater aus den Vororten selbstverständlich niemals gehabt hatte, keineswegs beendet war wie er seiner Gattin gegenüber behauptet hatte.

Manches Gespräch lief auch völlig normal und manierlich ab, bis Alex etwa plötzlich Tröte blies, Julia unentwegt Purzelbäume schlug als wäre dies das Normalste auf der Welt und Christoph den Interessenten ohne Grund voller Verachtung anvisierte als hätte dieser soeben den Hitlergruß gemacht oder sich als Tierquäler erwiesen.

Sobald die drei merkten, dass jemand auf persönliche Distanz bedacht war, drängten sie darauf, ein Erinnerungsfoto zu machen, das sie dazu nutzten, auf der Couch ganz nah an die Person heranzurücken und zu doofen Grimassen zu zwingen. Mit säuerlichem Lächeln machten die allermeisten Interessenten gute Miene zum bösen Spiel, denn alle wollten ja das vermeintliche freie Zimmer zugesprochen bekommen.

In diesen fingierten Gesprächssituationen legten Julia, Alex und Christoph eine bemerkenswerte Sensibilität an den Tag und schienen stets genau zu spüren, wo sie bei ihrem jeweiligen Gegenüber den Hebel ansetzen mussten. Das war bei ihrem jüngsten Opfer keineswegs anders gewesen:

„Wie lautet gleich nochmal sein Name?“

„Ich weiß nicht mehr. Hugo, oder etwas in der Art?“

„Bruno.“

„Ach ja, richtig, Aber ich meine nicht seinen Vornamen, sondern seinen Nachnamen.“

„Tja, mal nachsehen … ah ja, hier haben wir’s: Kaminski.“

„Kaminski?“

„Mhm, ja – Kaminski.“

„Kaminski also. So, so. Das klingt osteuropäisch, findet ihr nicht?“

„Doch, ja, ich glaube schon.“

„Ich glaube auch, osteuropäisch … polnisch vermutlich?!“

„Ist ja toll, man hört gar keinen Akzent?!“

„Seine Vorfahren sind vermutlich schon zu Zeiten der Monarchie eingewandert.“

„Glaubst du?“

„Das ist richtig“, meldete sich Bruno Kaminski, der Julia, Alex und Christoph die ganze Zeit, in der sie über ihn und seinen Familiennamen geplaudert hatten, persönlich gegenübergessen war, auch einmal selbst zu Wort. Daraufhin blickten ihn die drei überrascht an, als hätten sie die Möglichkeit, dass er der deutschen Sprache mächtig sei, noch gar nicht in Betracht gezogen. Bruno grinste sie aus seiner Strickweste und seiner Cordhose heraus mit harmloser Freundlichkeit, die Alex sofort überschwemmt hat als er die Tür geöffnet hatte, geduldig und nichts Böses ahnend an.

 

Julia, Alex und Christoph wandten sich ihm zu, und Alex ergriff das Wort:

„Gefällt’s dir hier bei uns in der WG, Bruno?“

„Ja, schon. Danke sehr.“

„Ist wirklich toll hier bei uns, nicht wahr? Wir alle wohnen gern hier. Schöne Aussicht, fairer Preis, gute Verkehrsanbindung, ruhige Lage und der ganze komfortable Larifari, nicht?

Bruno nickte stumm und lächelte.

„Das Zimmer ist auch schwer in Ordnung. Gerade richtig für eine nette, sympathische Person wie dich, findest du nicht auch? Der schöne Teppichboden, genügend Stauraum,… “

„O ja. Wirklich großartig.“

Alex fuhr fort in kühlem, fast vorwurfsvollem Tonfall: „Leider haben wir das Gefühl, du passt ganz und gar nicht hier herein!“

Brunos bislang hoffnungsfrohes Lächeln entwich langsam, aber sicher seinem Gesicht.

„Siehst du, es gibt zwei Arten von Menschenaffen, die mit uns 99,5 Prozent des Erbguts gemeinsam haben: Schimpansen und Bonobos. Schimpansen greifen an, wenn sie in Gefahr geraten, töten mitunter sogar Artgenossen, während die Bonobos, du kennst sie, diese kleinen niedlichen Fellknäuel, man nennt sie auch Zwergschimpansen, bei Gefahr nichts anderes tun können als davonzulaufen oder, na ja, zu bumsen. Die Bonobos sind vom Aussterben bedroht, die Schimpansen hingegen nicht. Und machen wir uns vor: Du bist ein Bonobo, mit deiner Strickweste, deiner Cordhose, deinen Sommersprossen und deinen abstehenden Ohren! Du bist ein Bonobo! Aber das Leben ist kein Honiglecken! Wenn man in dieser Stadt überleben will, muss man das Raubtier in sich entdecken!“ – Alex ballte die Hand zu einer festen Faust – „Denk doch nur mal an die ständig steigende Verbrechensrate. Fressen oder gefressen werden! Und wir haben die Befürchtung, wenn wir uns deinem Einfluss aussetzen, würden wir verweichlichen und bei nächster Gelegenheit von einem Alkolenker überfahren oder von einem Handtaschenräuber erschlagen werden! Sieh dir zum Beispiel Christoph hier an: So ein langer, dünner Lulatsch schreckt fürs erste bestimmt keinen Angreifer ab, aber er versucht wenigstens, kein fremdbestimmtes Opfer zu sein, sich zur Wehr zu setzen. Bei dir erkennen wir dieses Bemühen beim besten Willen nicht. Ich rede hier von Qualitäten wie Präsenz, Charisma, Format, Haltung, Alphamännchen-Stil eben; alles Eigenschaften, die dir abgehen…!“

Mit ernsten, nahezu enttäuschten Gesichtern, als hätte er widerrechtlich ihre Zeit gestohlen, bugsierten sie Bruno zur Eile drängend zum Ausgang. Christoph hielt ihm die Tür auf und konnte sich das laute Lachen dahinter nur schwer verkneifen. Alex schob Bruno, der kaum wusste wie ihm geschah, förmlich hinaus, wie um sich einer lästigen Sache zu entledigen und rief ihm ins Stiegenhaus hinterher: „Ach, und Bruno: Viel Glück noch, trotz allem!“ Danach kehrte er zu seinen Spießgesellen zurück, und alle drei bogen sich vor Lachen und konnten kaum mehr an sich halten.

Alex war ein ehrgeiziger, aber unbeliebter Sportler, weil er seinen Gegnern ihre Niederlage mit harschen Worten genüsslich unter die Nase rieb. Im Gegenzug konnte er es nur äußerst schwer verkraften, besiegt zu werden. In den diversen Sportklubs, in denen er Mitglied war, musste er sich stets neue Gegenspieler suchen, weil bald keiner, der ihn näher kannte, sich mit ihm länger abgeben wollte. Aber Alex war das in seiner Kaltschnäuzigkeit egal, Mannschaftssport mochte er sowieso nicht. Er war alles andere als ein Teamspieler, sondern brauchte stets einen eindeutigen, greifbaren Gegner, über den er im Tennis, Squash oder ähnlichen Ballsportarten triumphieren konnte.

Christophs Hobby waren diverse Gruppentherapien, an denen er wöchentlich teilnahm. Offiziell nahm er jedoch an Debattierclubs teil. Des Öfteren ergab es sich, dass sein Heimweg nach einer solchen Sitzung sich mit dem von Alex nach einem sportlichen Wettkampf und dem von Julia von ihrer Arbeitsstelle, wo sie stets auf günstige Karrierechancen, sprich gehässigen Klatsch, lauerte, deckte. In solchen Fällen legten die drei die Fahrt nachhause in Christophs in die Jahre gekommenem Kleinwagen zurück, den Julia lenkte. Alle drei besaßen zwar den Führerschein, doch Christoph mochte nie Autofahren, weil ihm der Verkehr zu hektisch war, und Alex sollte nicht, weil er ein zu verbissener und aggressiver Fahrer war. Besonders wenn er mies gelaunt war aufgrund einer sportlichen Niederlage, nutzte Alex die Intimität und das enge Beisammensein in der Blechkiste für Sticheleien, in denen er Julia und Christoph unterschwelliges sexuelles Verlangen unterstellte, woraufhin sie regelmäßig eingeschnappt waren, und er ihnen Überempfindlichkeit und Prüderie vorwerfen konnte und an dem Thema zu Fleiß dranblieb. Zumindest für ihn konnte auf Kosten seiner Kumpel ein Abend einer Niederlage damit einigermaßen gerettet werden.

„Was ist eigentlich mit deiner Freundin, die unlängst zu Besuch gekommen ist? Die nette Rothaarige.“

„Was soll mit ihr sein?“

„Kommt sie wieder einmal vorbei?“

„Davon gehe ich nicht aus. Jedenfalls nicht so bald.“

„Schade.“

„Warum?“

„Da war etwas zwischen uns. Eine Verbindung, ich hab’s genau gespürt!“

„Sie konnte dich nicht ausstehen!“

„Na ja, sie hatte Probleme…“

„Die hatte sie erst, nachdem sie dich kennengelernt hat!“

„Es ist oft so, dass wir das richtige Gegenüber brauchen, das uns einen Spiegel vorhält, um unsere unterdrückten Triebe und Wünsche, die wir nicht wahrhaben wollen, zu erkennen. Viele können mit meiner Ehrlichkeit diesbezüglich einfach nicht umgehen.“

Christoph erinnerte sich dieses Besuches ebenfalls, obwohl er ihm damals keine allzu große Bedeutung beigemessen hatte. Eine Arbeitskollegin von Julia war vorbeigekommen. Ihr Freund hatte vor kurzem mit ihr Schluss gemacht und Julia hatte ihr gewissermaßen eine Schulter zum Anlehnen geboten. Sie hatten fein gekocht, und nach ein paar geleerten Gläsern war die Stimmung soweit gelöst, dass diese Freundin sich getraut hatte, ihr privates Debakel auszubreiten. Sie war eine attraktive Frau gewesen, wenngleich nicht sein Typ, und hatte frisch von der Leber weg erzählt, ihr sei bewusst, dass sie eine für die Männerwelt anziehende Person sei. Gerade dies sei ihr Dilemma, da die Männer eine schöne Frau sofort auf das Klischee ‚Sexy, also dumm‘ reduzieren würden. ‚Sie können nie die innere Schönheit sehen!‘, hatte sie gemeint. Daraufhin hatte Alex sanft ihre Hand genommen, geflötet ‚Ich kann sie auch nicht sehen!‘ und sie lüstern anvisiert wie ein notgeiler Teenager sein erstes Pornoheft. Ihrer beider Hoffnungen hatten sich an diesem Abend klarerweise nicht erfüllt.

„Ach, ist das so, Mister Neunmalklug?“

„Das ist so!“

„Nun, vielleicht solltest du selber in eine von Christophs Gesprächstherapien – Verzeihung: Debattierclubs – gehen…!“

Auf Anspielungen wie diese reagierte Alex regelmäßig verschnupft. Er lehnte sich zurück und schmollte. Julia betrachtete ihn im Rückspiegel. Ihre Lippen umspielte dabei ein süffisantes Lächeln.

Ein paar Tage später hatte sich wieder jemand auf die Schein-Annonce im Internet gemeldet. Eine Besichtigung war vereinbart worden. Da klingelte es auch schon zum ausgemachten Zeitpunkt an der Wohnungstür. Julia war noch allein zuhause. Sowohl Alex als auch Christoph hatten vorhin angerufen, dass sie es diesmal nicht schaffen würden. Alex war von seinem Chef, an und für sich ein schmieriges Arschloch, um eine Runde Badminton gebeten worden, die er klarerweise nicht ablehnen konnte, und in einem von Christophs „Debattierclubs“ hatte ein Eklat stattgefunden. Ein Teilnehmer war einem anderen an die Gurgel gesprungen und nun musste die Situation mithilfe der Einsatzkräfte erst einmal bereinigt werden. Julia hatte überlegt, den Termin abzusagen, denn mit einem Wildfremden ihre derben Scherze treiben, trauten sie sich nur zu dritt. Doch dann hatte sie beschlossen, zur Abwechslung mal ein seriöses Gespräch zu beginnen, den Interessenten allerdings rasch abzuwimmeln oder auf einander Mal zu vertrösten.

Sie öffnete die Tür und war von dem Mann, der vor ihr stand, augenblicklich angetan. Groß, stattlich, gepflegt, in einem keineswegs billigen schwarzen Anzug mit offenem weißem Hemdkragen, durch dessen Ausschnitt dichte Brustbehaarung sich abzeichnete.

„Hallo. Du musst Hagen sein?!“

„Und du musst Julia sein.“

„Möchtest du hereinkommen?“

„Danke sehr, ich bin dann so frei.“

Nachdem sie ihm ein wenig die Wohnung vorgeführt hatte, begaben sie sich ins Wohnzimmer, wo sie sonst immer ihre üblichen Interessenten vorführten. Diesmal würde es freilich anders sein.

„Was machst du so?“

„Du meinst beruflich? Nun, ich war längere Zeit weg, auf Reisen sozusagen. Jetzt möchte ich einige Zeit in dieser Stadt verbringen, Recherche. Ich bin Schriftsteller. Ich entwickle gerade einen neuen Roman.“

„Echt? Worum wird’s darin gehen?“

„Um einen alten Priester, der im Sterben liegt.“

„Ach so. Ich verstehe…“

Hagen blickte sie einige Momente forschend an als wollte er fragen „Tust du das wirklich?“ Dann lächelte er und sagte: „Hm, wenn ich es recht bedenke, sollte es doch nicht um einen Priester gehen. Eher um irgendeinen anderen Typen. Und der ist am Leben, er stirbt nicht.“ Julia lachte, und Hagen stimmte in ihr Lachen ein: „Na, wer sagt’s denn, die Idee ist schon besser geworden.“

„Schreiben scheint gar nicht so schwer zu sein“, scherzte Julia.

„Das stimmt, eigentlich ist nicht viel dahinter.“

Julias Handy läutete in ihrer Hosentasche. Sie holte es hervor, warf einen Blick aufs Display, legte es dann auf einer Kommode ab und ließ es läuten.

„Meinetwegen kannst du ruhig rangehen“, sagte Hagen.

Julia lächelte verlegen. „Ist schon gut, für diesen Typen bin ich nicht zu sprechen.“

Hagen nickte kommentarlos, beide warteten ab. Als das Handyläuten endlich aufgehört hatte, setzte Julia zu einem neuerlichen Satz an, wurde jedoch gleich wieder vom Läuten des Handys unterbrochen. Abermals ging sie nicht ran. Dasselbe wiederholte sich ein weiteres Mal. Beim vierten Durchlauf nahm sich Hagen das Handy mit einer gelassenen Gebärde, drückte den Knopf, ohne den Namen des Anrufers abzulesen, rief: „Sie ist nicht hier!“ und legte auf. Danach reichte er Julia das Handy, die es anerkennend in ihre Hosentasche zurückschob. Es läutete kein weiteres Mal.

„Das wird er zwar bestimmt nicht glauben, weil er weiß, dass ich heute Nachtdienst habe, aber was soll’s“, meinte Julia und senkte ihren Blick zu Boden.

„Nachtdienst?“, fragte Hagen.

„Ich bin medizinisch-technische Assistentin in einer Rund-um-die-Uhr-Zahnklinik.“

„Aha, und er ist wohl einer deiner Patienten?!“

Julia kicherte. „Das nun nicht gerade, obwohl eine Behandlung ihm ganz gut täte.“

„Wofür?“

„Persönlichkeitsschwäche.“

„Ah, die Conditio humana …“

„Sieh an, der Herr beherrscht sein Latein!“

„Das sollte ich wohl. Ich schreibe darüber. Wir Schriftsteller suchen beständig nach unserem wahren Selbst…“

Julia erzählte später ihren Wohnungsgenossen von der Begegnung mit Hagen, und dass sie der Meinung war, diesen Kerl sollten sie ernsthaft in die WG aufnehmen. Alex war dagegen, aber Christophs Neugier hatte sie mit ihrer Schilderung geweckt. Sie kamen überein, dass sie Hagen zumindest zum Abendessen einladen würden.

„Ich bin kein großer Fan von Popmusik. Immer derselbe Schmarrn: Deine Hüften, deine Blicke, deine Berührungen, Baby, oh Baby,… blablabla. Nichts weiter als dürftig verhüllte Pornografie. Warum singen sie nicht einfach klipp und klar, dass sie das „Girl“ bumsen wollen?“, antwortete Hagen auf die Frage nach seiner aktuellen Lieblingsband.

Mittlerweile saßen sie beim Dessert beisammen, zum ungezwungenen Gespräch. Hagen hatte unter anderem erfahren, dass Christoph normalerweise keine Leute privat traf, die er nicht bereits kannte, doch dass sein Besuch Julia dermaßen beeindruckt hatte, dass er selber neugierig geworden sei; dass Alex bei jenem Revolverblatt arbeitete, das gratis in den U-Bahnstationen und Einkaufscentern auflag, und darüber zum sarkastischen Giftzwerg geworden war. „Man könnte dieses Wischblatt ebenso gut mit den Lügen, und glaub mir wenn ich sage, die Hälfte der Meldungen, die wir da reingeben, sind glatte Lügen, von vorgestern füllen, der Mob würde sich trotzdem darum reißen, einfach weil es gratis ist“, so drückte Alex es aus.

 

Hagen hatte auch beobachtet, dass Alex empfindlich auf Themen reagierte, die Beziehungen oder Liebesaffären betrafen. Dessen ungeachtet galt es als beschlossene Sache, dass er das Zimmer haben könne. Einzig Alex schien sich noch ein wenig dagegen zu sträuben. Jeder hatte auf einer Seite des Esstisches Platz genommen, und er versuchte nun, die Situation zu einer ihrer Demütigungen von Interessenten umzugestalten.

„Nix für ungut, aber kannst du dir das Zimmer überhaupt leisten? Ich meine als Schriftsteller…“

Hagen griff in die Innentasche seines Sakkos und holte ein zusammengerolltes Bündel Geldscheine hervor. „Die Miete für die ersten drei Monate sowie die Kaution“, sagte er und reichte das Bündel lässig an Christoph weiter.

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