Buch lesen: «Das Spiegelbild»

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Dieter Janz

Das Spiegelbild


Für Tamara

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Dieter Janz (Autor)

Layout und Satz: Brigitte Winkler www.winkler-layout.de Titelbild: © Moguchev, 2010, Benutzung unter Lizenz von Shutterstock.de Verlag und Herstellung: www.Verlag-Kern.de 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012 ISBN: 9783944224305

Inhalt

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Inhalt

Das Spiegelbild

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Sonntagmorgen, 8.00 Uhr.

Er steht im Bad, am Waschbecken. Sein Blick ist nach unten gerichtet, langsam wandert er nach oben zum funkelnagelneuen Spiegel. Vorsichtshalber schließt er die Augen. Dann zwingt er sich, sie zu öffnen und betrachtet sein Spiegelbild.

Es verhält sich völlig normal. Er dreht den Kopf nach links, nach rechts, zwinkert mit dem linken Auge, dem rechten, streckt die Zunge heraus. Sein Spiegelbild tut es ihm gleich, zieht keine Grimassen, die nicht auch er macht.

Aus dem Schlafzimmer tönt ein lang gezogenes ›Mmh‹, dem ein leiser Protest folgt: »Ey, es ist erst acht Uhr. Wo bist du?«

»Pinkeln!«

Kurze Stille, dann die Frage mit verschlafener Stimme: »So lange? Du wirst’s in deinem Alter doch nicht schon an der Prostata haben?«

Er lachte, sein Spiegelbild ebenso.

»Ich komme gleich, schlaf ruhig weiter.«

»Beeil dich.«

Langsam schlurft Christian zurück ins Schlafzimmer und legt sich wieder hin. Sie kuschelt sich an ihn und scheint sofort wieder einzuschlafen.

Es ist still an diesem Morgen. An sich ist Christian nicht mehr müde, aber es tut gut, entspannt bei ihr zu liegen. Seine Gedanken kreisen um dies und das und bleiben schließlich bei der Geschichte mit seinem Spiegelbild hängen.

Als er eines Morgens das Badezimmer betrat und in den Spiegel schaute, erschrak er. Er erblickte ein graues, von Arbeit und wenig Schlaf gezeichnetes Gesicht.

So deutlich wie an jenem Morgen war ihm dies noch nicht aufgefallen. Aber wundern durfte er sich nicht. Er hatte jeden Tag von morgens bis abends geschuftet. Dazu kamen fast täglich Geschäftsessen mit potentiellen Kunden, oft bis spät in die Nacht, fast immer mit reichlich Alkohol. Besonders der Leiter der Marketingabteilung dieses Pharmakonzerns, den er unbedingt als Kunden gewinnen wollte, zeigte sich extrem trinkfest und ausdauernd. Es hatte mehrere solcher Gelage gebraucht, um dessen Auftrag an Land zu ziehen.

Und nun betrachtete Christian das Ergebnis seiner Lebensweise im Spiegel. »Das geht auf Dauer nicht gut«, murmelte er vor sich hin, drehte den Wasserhahn auf und bespritzte sein Gesicht. Aber danach war der Anblick auch nicht wesentlich besser. Er schlurfte zum Telefon, wollte wählen, aber dann fiel ihm ein, dass sein Büro noch gar nicht besetzt war. Also ging er in die Küche, warf die Espressomaschine an, nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch, um sie direkt wieder zurückzulegen, denn sie war leer.

Als er seinen Kaffee getrunken hatte, schlich er zurück ins Badezimmer und schaute wieder in den Spiegel. Plötzlich beschleunigte sich sein Herzschlag enorm. Hatte ihm sein Spiegelbild eben nicht zugezwinkert?

»Jetzt wirst du verrückt«, sprach er zu sich selbst.

Er schloss die Augen und schüttelte heftig den Kopf. Dann betrachtete er wieder sein Ebenbild. Da! Da war es schon wieder, dieses Blinzeln.

Schnellen Schrittes eilte er zum Telefon. Inzwischen müsste jemand in der Agentur sein. Er musste aber bestimmt fünf-, sechsmal läuten lassen, bis sich jemand meldete.

»Public Relation- und Marketing-Agentur Maurer«, flötete seine Sekretärin in den Hörer, »Sie sprechen mit ...«

Weiter kam sie nicht, denn Christian fiel ihr ins Wort: »Ich weiß, mit wem ich spreche. Ich komme heute nicht ...«

Jetzt war sie es, die ihn unterbrach: »Aber ich weiß nicht, mit wem ich spreche. Wenn Sie so freundlich wären, mir Ihren Namen zu nennen.«

Oh Gott, schoss es ihm in den Kopf, ist meine Stimme so ruiniert, dass man mich nicht mehr am Telefon erkennt?

»Kerstin, meinst du das im Ernst, oder willst du mich verarschen?«

»Oh, Chrissie! Du bist’s. Entschuldige, aber du klingst irgendwie so, so rau. Geht’s dir nicht gut?«

»Doch, doch, mir geht’s prima. – Nein, mir geht’s beschissen heute Morgen, deswegen werde ich nicht kommen.«

»Das geht aber nicht.«

»Weshalb?«

»Weil du einen Termin hast. Mit diesem Krausner von dem Autohaus.«

»Den soll Wolfgang übernehmen, ich mag den Kerl samt seiner Autos sowieso nicht.«

»Da wird Wolfgang nicht begeistert von sein.«

»Liebe Kerstin, das ist mir sooo egal.«

»Und wenn er sich weigert?«

»Dann gib ihm die Telefonnummer eines unserer Konkurrenten.«

»Dir scheint’s wirklich nicht gut zu gehen.«

»Sag ich doch; ich melde mich später noch einmal. Tschüss.«

»Gute Besserung.«

Sein Weg führte ihn zurück ins Badezimmer. Nur sehr zögerlich wagte er, in den Spiegel zu schauen. Zunächst geschah gar nichts. Doch gerade als er den Blick abwenden wollte, streckte ihm sein Gegenüber kurz die Zunge heraus. Erschrocken trat er zurück.

»Du musst schlafen«, murmelte er vor sich hin, »dein Gehirn spielt einen Streich mit dir.«

Unverzüglich begab er sich in sein Schlafzimmer und legte sich hin.

Es waren gut zwei Stunden vergangen, als er wieder aufwachte. Jetzt fühlte er sich deutlich wohler. Dennoch war ihm beim erneuten Blick in den Badezimmerspiegel mulmig zumute und er war erleichtert, als sein Ebenbild nichts tat, was nicht auch er machte.

Während der Rasur passierte nichts Ungewöhnliches. Nachdem er sich ausgehfertig angezogen hatte, wollte er den Sitz seiner Krawatte im Spiegel noch einmal überprüfen.

»Alles okay«, sagte er zu sich selbst und wollte sich umdrehen, als ihn sein Spiegelbild angrinste, obwohl er selbst den Mund nicht im Geringsten verzog. Er schaute weg; ein, zwei Sekunden später wieder in den Spiegel. Erneut tauchte das Grinsen für einen ganz kurzen Moment auf.

Christian eilte zur Flurgarderobe, um in den dortigen Spiegel zu schauen. Hier konnte er nichts Außergewöhnliches feststellen. Ich glaube, ich suche bald mal einen Arzt auf, um mich durchchecken zu lassen.

Nachdem er die Wohnungstür zugezogen hatte, lief er die Stockwerke zu Fuß hinunter. Den Aufzug mied er fast immer, um sich auf diese Weise wenigstens ein wenig Bewegung zu verschaffen. Seine sportlichen Betätigungen hatten sich in letzter Zeit in engen Grenzen gehalten, genauer gesagt, unternahm er diesbezüglich überhaupt nichts mehr.

Vor der Haustür angekommen, atmete er erst einmal tief durch. Es war ein herrlicher Frühlingstag, die Sonne wärmte auf angenehme Weise. Sein erster Gang galt dem Zigarettenautomaten. Dann eilte er über die Straße, sich zwischen den Autos hindurch jonglierend, wobei er ein kleines Hupkonzert auslöste. Nach wenigen Metern hatte er das Bistro erreicht, in dem er öfter frühstückte und zuweilen auch zu Abend aß.

Er setzte sich an seinen Stammplatz, nahm die Tageskarte und studierte das Frühstücksangebot.

»Sie wünschen?«, sprach ihn eine angenehme weibliche Stimme an. Ohne von der Karte aufzublicken, deutete er auf ein Angebot und erwiderte: »Ich glaube, ich nehm’ dies hier, die Nummer 3.«

»Was möchten Sie dazu trinken?«

»Bringen Sie mir ein Glas ...« Christian blickte die Kellnerin an und verstummte sofort. Er glaubte, in das hübscheste Gesicht zu schauen, das er je gesehen hatte. Sie musste hier im Bistro neu angestellt sein, denn er hatte sie nie zuvor entdeckt. Sie lächelte ihn an und fragte: »Ja, bitte, ein Glas ...?«

Er musste sich anstrengen, um nicht ins Stottern zu geraten.

»Ein Glas Orangensaft und einen Espresso, wenn es Ihnen nichts ausmacht, bitte.«

»Wenn es mir was ausmachen würde, würde ich nicht hier arbeiten; es ist mein Job.«

»Ja natürlich, war nur so dahingesagt.«

Er spürte, wie er rot wurde. Mein Gott, das ist mir noch nie passiert, fuhr es ihm in den Kopf. Sie lächelte immer noch.

»Es wird nicht lange dauern, ich bring Ihnen die Sachen sofort.«

Christian schaute ihr nach, als sie sich vom Tisch entfernte.

»Hallo Chrissie!«

Er hatte nicht bemerkt, dass sich ihm jemand genähert hatte.

»Kerstin, was machst du hier? Warum bist du nicht bei der Arbeit?«

»Oje, ich sehe, dir geht’s immer noch nicht gut. Darf ich mich trotzdem zu dir setzen?«

»Natürlich, nimm Platz, war nicht böse gemeint.«

»Weißt du, mein Chef feiert heute krank, da dachte ich mir, machst halt ein bisschen früher Mittagspause.«

»Was soll das heißen, dein Chef feiert heute krank? Ich hab mich vorhin wirklich miserabel gefühlt. Du bist ganz schön frech für eine Sekretärin.«

Inzwischen war die Kellnerin zurückgekehrt und stellte Christian die Croissants, das Brötchen, Orangensaft und Espresso hin, während sie Kerstin fragte: »Was darf ich Ihnen bringen? Wollen Sie auch ein Frühstück?«

Kerstin schaute auf die Uhr und meinte: »Nein, lieber nicht. Ich habe heute schon gearbeitet. Ich suche mir ein Mittagessen aus.«

»Gut, dann komme ich gleich noch mal.«

»Du riskierst ein dicke Lippe, Mädchen; pass auf, sonst bist du deinen Job los.«

Kerstin lächelte. »Du scheinst heute sehr großzügig mit der Ankündigung von Rausschmissen umzugehen.«

Als die Bedienung zurückkehrte, um Kerstins Bestellung aufzunehmen, musste sich Christian regelrecht Mühe geben, um sie nicht pausenlos anzustarren. Er war drauf und dran, sie nach ihrem Namen zu fragen, aber in Anwesenheit seiner Sekretärin unterließ er es besser.

Nach dem ersten Croissant war er schon satt und auch das halbe Glas Orangensaft ließ er stehen. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, stand er auf.

»Willst du etwa schon gehen? Ich dachte, du leistest mir beim Essen Gesellschaft?«

»Nein, ich geh’ zum Arzt. Heute komm ich übrigens nicht mehr ins Büro. Das bedeutet aber nicht, dass du dir einen faulen Lenz machen kannst. Also, bis morgen.«

»Bis morgen.«

In der Hoffnung, bei der neuen Kellnerin seine Rechnung bezahlen zu können, ging er zur Kasse an der Theke. Aber sie war weit und breit nicht zu sehen. Wie vom Erdboden verschlungen.

Antonio nahm das Geld entgegen und meinte beiläufig: »So früh wie heute hab ich dich noch nie hier gesehen. Machst du etwa Urlaub?«

»Nein, ich mach nur heute frei – ihr habt ’ne neue Bedienung, was?«

Antonio blickte ihn nachdenklich an. »’ne Neue? Nicht, dass ich wüsste. Wen meinst du denn?«

Gehen meine Halluzinationen etwa so weit, dass ich Leute sehe, die es gar nicht gibt?

»Die Blonde, die mich und meine Sekretärin bedient hat, die ist doch neu hier.«

»Janine? Nein, die ist schon seit Wochen hier, aber nur stundenweise, meist vormittags. Ich sagte doch, um die Zeit bist du sonst nie hier, deshalb hast du sie noch nicht gesehen.«

»Sehr freundlich, die Kleine.«

Antonio antwortete nicht und grinste bis zu beiden Ohren.

»Was soll das, ich hab doch nur festgestellt, dass sie freundlich ist.«

»Schon gut. Schönen Tag wünsch ich dir noch.«

Christian winkte Kerstin noch kurz zu und verließ das Bistro.

Auf der Straße überlegte er, ob er den Wagen aus der Tiefgarage holen sollte, entschied sich aber dann, zu Fuß in die Innenstadt zu gehen. Er steuerte die Praxis seines Freundes Alex an. Der schickte sich gerade an, Mittagspause zu machen.

»Ich geh’ zu McDonald’s ’ne Kleinigkeit essen, kommst du mit? Oder bist du etwa als Patient hier?«

»Nicht unbedingt. Ich hab nur ein paar Fragen.«

»Gut, dann lass uns rübergehen.«

Im Schnellrestaurant fragte Alex, ob er Christian einen Hamburger spendieren dürfe.

»Nein, danke, hab gerade erst gefrühstückt.«

»Um diese Zeit? Bist du dir sicher, dass du nicht doch krank bist?«

»Leider nicht. Pass auf, ich erzähl’ dir jetzt, was mir heute Morgen passiert ist.«

Sein Freund hörte ihm kommentarlos zu, während er seinen Cheeseburger mampfte. Schließlich fragte Christian: »Meinst du, ich entwickle so ’ne Art Neurose?«

»Nein, glaub ich nicht. Spricht nicht unbedingt dafür.«

»Gott sei Dank, ich dachte schon auf dem besten Weg zu sein, verrückt zu werden.«

»Weißt du, wir alle haben unsere Neurosen, mehr oder weniger. Zum Beispiel Phobien, Ängste. Die einen springen auf den Tisch, wenn sie eine Maus sehen, anderen graust’s vorm Aufzugfahren, wieder anderen stockt der Atem, wenn sie im ersten Stock an der Balkonbrüstung stehen. Aber Halluzinationen gehören nicht unbedingt dazu. Sie sprechen eher für eine Psychose.«

»Psychose? Klingt aber auch nicht besonders gut, oder?«

»Der paranoide Formenkreis gehört dazu.«

»Ach du Schreck.«

»Allgemein bekannt unter dem Begriff Schizophrenie.«

»Oh!«, mehr konnte Christian zunächst nicht antworten. Auf den Schreck musste er erst einmal eine Zigarette rauchen und steckte sich eine in den Mund. Aber Alex deutete auf ein Schild, das von der Decke hing. Ein Glimmstängel mit rotem Querbalken. Missmutig steckte Christian die Zigarette weg.

»Klingt schlimmer, als es ist«, fuhr der Arzt mit seinen Ausführungen fort. »Man kann es in den meisten Fällen sehr gut behandeln und muss nicht einmal unbedingt in stationäre Behandlung.«

»Ins Irrenhaus?«

Alex sah ihn mit strafendem Blick an.

»Diesen Begriff gibt es nicht mehr. Außerdem hab ich gerade gesagt, dass es, bis auf sehr schwere Fälle, ambulant behandelt wird. Es gibt hervorragende Medikamente.«

»Sozusagen Antiverrücktsein-Pillen?«

»Deine Ausdrucksweise lässt sehr zu wünschen übrig, aber im Prinzip stimmt’s.«

»Dann schreib mir die Dinger sofort auf. Ich will so früh wie möglich damit anfangen. Andererseits dachte ich immer, man müsse sich für Napoleon halten, um schizophren zu sein. Ich bin mir aber absolut sicher, nicht Napoleon zu sein.«

Alex lachte so laut auf, dass sich die anderen Gäste nach ihnen umdrehten.

Nach einer kurzen Pause fügte Christian kleinlaut hinzu: »Eigentlich müsste ich selbst über dieses Thema Bescheid wissen. Das hab ich alles mal in meinem Studium durchgekaut, aber es ist aus meinem Gedächtnis gelöscht. Seit ich mich nur noch mit Werbepsychologie beschäftige, weiß ich über Krankheiten nichts mehr.«

Alex nickte und erwiderte: »Verständlich. Hör zu, Chrissie. Jeder in deinem Bekanntenkreis weiß, dass du Workaholic bist. Immer wenn die Sprache auf dich kommt, heißt es, wie lange wird der Chrissie das noch durchhalten? Wann kommt der Zusammenbruch? Ich bin mir sicher, du bist nicht schizophren, sondern schlicht und einfach nur überarbeitet. Fühlst du dich verfolgt?«

»Bisher nicht, aber es erstaunt mich, dass ihr über mich redet.«

»Hast du, außer dem Spieglein an der Wand, noch andere Wahnvorstellungen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Bekommst du Drohbriefe?«

»Äußerst selten und wenn, stammen sie vom Finanzamt.«

»Na also. In der ganzen Stadt staunt man über die Agentur Maurer. Sie expandiert und expandiert. Neulich fragte mich jemand, ob der Chef der Agentur auf dem Weg sei, Milliardär zu werden. Was machst du mit dem Geld? Du wohnst in einer einfachen Mietwohnung, fährst ein altes Auto ...«

»Sag nichts über mein Auto, das ist ein alter SL, ein wahres Schätzchen.«

»Meinetwegen. Ich will doch nur zum Ausdruck bringen, dass du jetzt mal abschalten musst, Urlaub machen, Ferien. Knall dich an irgendeinen Strand und lass dir die Sonne auf den Bauch scheinen.«

Christian widersprach nicht, im Prinzip hatte sein Freund ja recht. Der fügte noch hinzu: »Aber nur mit Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor, wegen der Melanom-Gefahr.«

»Wegen was?«

»Hautkrebs, Sonne auf dem Bauch und so.«

Jetzt musste Christian lachen. »Ich habe also deiner Meinung nach die Auswahl zwischen verrückt zu werden oder Hautkrebs zu bekommen, na prima!«

»Ach Chrissie! Man könnte glauben, du willst mich nicht verstehen. Weißt du was? Das nächste Mal, wenn dir dein Spiegelbild die Zunge rausstreckt, streck ihm deine auch entgegen.«

»Ich denke nicht daran. Mein Spiegelbild hat mir nachzumachen, was ich tu und nicht umgekehrt.«

Auf dem Heimweg überlegte er, ob er in seinem Stamm-Bistro noch einen Espresso trinken sollte. Aber dann fiel ihm ein, dass Antonio gesagt hatte, Janine arbeite nur vormittags. Also verwarf er den Gedanken und ging direkt in seine Wohnung.

Er wusch sich im Badezimmer seine Hände und blickte in den Spiegel. Beinahe hätte ihn der Schlag getroffen. Sein Gegenüber hielt eine Zigarette zwischen den Lippen und kniff zum Schutz vor dem Qualm die Augen zusammen. Der Haken daran war, dass er selbst im Moment gar nicht rauchte.

Fast fluchtartig verließ Christian das Badezimmer. Im Flur hielt er sich die Hand an die Stirn. Hab ich Fieber? Aber sein Kopf fühlte sich eher kalt an. Spontan ergriff er seine Schlüssel, verließ die Wohnung wieder und begab sich in die Tiefgarage. Er wusste nicht, wohin er fahren wollte. Als er in seinem blank polierten, silbermetallicfarbenen Mercedes saß, wagte er zunächst nicht, in den Rückspiegel zu schauen; aber Gott sei Dank erwies sich dieser als völlig normal. Christian fuhr ziellos durch die Stadt, dann begab er sich auf eine Ausfallstraße, ließ den Motor ordentlich aufheulen und fuhr ins Blaue.

Er war gut eine Stunde unterwegs, als er an einem Ausflugslokal hielt, um eine Pause einzulegen. Die Gaststätte wirkte einladend und so beschloss er, hier zu Abend zu essen, auch wenn es noch relativ früh war. Als er sich nach einem freien Tisch umschaute, erblickte er sie. Janine saß an einem Tisch mit mehreren jungen Leuten, die munter miteinander plauderten und lachten. Ein junger Mann hatte lässig eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Christian überlegte, ob er zu ihr gehen und sie begrüßen sollte. Aber dann kam ihm in den Sinn, wie albern dies aussehen würde. Er hatte sie erst einmal heute Morgen gesehen; wahrscheinlich würde sie sich nicht einmal an ihn erinnern.

Also suchte er sich einen Platz und fand einen Tisch, an dem er alleine sitzen konnte. Ihm stand nicht der Sinn danach, mit irgendeinem Wildfremden höfliche Konversation üben zu müssen.

Nachdem er die Speisekarte studiert und seine Bestellung aufgegeben hatte, schaute er zu den jungen Leuten. Janine schien eine gestenreiche Sprache zu lieben und lachte viel, auf angenehme Art und nicht übertrieben laut. Er versuchte zwar, seine Beobachtungen so unauffällig wie möglich auszuführen, aber plötzlich drehte sie sich, wie auf Kommando, um und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihn an, genauso wie sie es heute Morgen im Bistro getan hatte, was er, ebenfalls lächelnd, mit einem Kopfnicken beantwortete. Danach widmete sie sich wieder ihren Freunden und der angeregten Unterhaltung.

Die Mahlzeit, die ihm serviert wurde, war guter Durchschnitt; einen Sternekoch hatte er hier sowieso nicht erwartet. Während er sich das Essen schmecken ließ, hörte er auf einmal Janines Stimme direkt neben ihm.

»Hallo!«

Beinahe hätte er sich verschluckt und hielt eine Hand vor den Mund. Die Gruppe der jungen Leute war gerade im Begriff, das Lokal zu verlassen.

»Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Schönen Abend noch.«

»Danke, gleichfalls.«

Janine hob die Hand ein wenig hoch und deutete mit den Fingern ein Winken an. »Tschüss!«

»Tschüss!«

Dann verschwand sie nach draußen. Mein Gott!, schoss es ihm in den Kopf. Sie hat mich erkannt! Sie hat mich erkannt, obwohl sie mich erst einmal gesehen hat. Und dieses Lächeln, wie von einem anderen Stern.

Sein Blick ging durchs Fenster nach draußen zu dem Parkplatz und er konnte beobachten, wie die jungen Leute, einschließlich Janine, um seinen silbernen SL standen und das Auto bewunderten. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Janine gefragt, ob sie mit ihm eine Probefahrt machen wolle. Zu schade, dass er nicht auch schon zum Aufbruch bereit war, dies wäre die Gelegenheit gewesen. Die Gruppe löste sich schließlich auf und verteilte sich auf verschiedene Autos, meist mehr oder weniger alte, teils klapprige Kleinwagen. Janine stieg zu dem jungen Mann in den PKW, der vorhin seine Hand so lässig auf ihre Schulter gelegt hatte. Ob er wohl ihr Freund ist? Christians Appetit war auf einmal wie weggeblasen. Er legte sein Besteck auf den halbvollen Teller und tupfte sich den Mund mit der Serviette. Bald erschien der Kellner und fragte besorgt: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, alles okay. Ich habe nur meinen Hunger überschätzt. Sie haben ja auch ganz ordentliche Portionen hier. Ist alles prima. Ich möchte dann auch gerne zahlen.«

»Gut, dann bin ich beruhigt. Ich bringe Ihnen sofort die Rechnung.«

Als er in seinen Wagen stieg, überlegte er zuerst, ob er noch ein Stück weiter rausfahren sollte, entschloss sich aber dann, nach Hause zurückzukehren.

Das Verdeck war offen, im CD-Player lief ›Jethro Tull‹ und die Sonne schien. Er fuhr nicht schnell, wollte die Fahrt einfach nur genießen.

In der Tiefgarage angekommen, parkte er das Auto rückwärts ein und lief zu seiner Wohnung. Sein Gesicht brannte etwas; so viel Sonne auf einmal war er nicht gewöhnt.

In der Diele seiner Wohnung schaute er in den Spiegel und erkannte, dass sein Gesicht schon ganz ordentlich Farbe abbekommen hatte. Gott sei Dank verhielt sich sein Gegenüber ganz normal; keine Grimassen, kein Augenzwinkern, keine Zigarette. Den Spiegel im Badezimmer mied er.

Gerade als er sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen ließ, läutete das Telefon.

»Verflixt«, murmelte er. »Wo ist das Ding bloß?«

Er fand es im Flur, da, wo es hingehörte. »Maurer.«

»Hallo Chrissie! Ich bin’s, Melanie.«

»Hallo, Melanie! Wie geht’s dir?«

»Einigermaßen, danke.«

Es folgte eine kurze Pause.

»Du, Chrissie? Ich wollte dich fragen, ob wir uns noch mal treffen können.«

»Selbstverständlich. Lass uns mal ’ne Tasse Kaffee oder einen Rotwein zusammen trinken.«

Wieder eine kurze Pause.

»So war das nicht gemeint. Ich würde gerne noch mal richtig mit dir reden, du weißt schon.«

»Ja, ich weiß; aber ich möchte die alten Kamellen nicht wieder aufwärmen. Ich hab nix dagegen, wenn wir freundschaftlich verbunden bleiben, aber dabei sollten wir es belassen, Melanie.«

Sie antwortete nicht. In den zwei Jahren ihrer Beziehung hatte sie ihn dreimal, soweit er wusste, betrogen. Jedes Mal hatte sie reumütig um Verzeihung gebeten, wobei sie reichlich Tränen vergossen hatte. Beim dritten Mal reichte es ihm.

»Bist du noch dran, Melanie?«

»Ja. Keine Chance, Chrissie? Wenigstens ein Versuch noch?«

»Bitte, lassen wir das Thema. Ich fühl mich im Moment sowieso nicht fit für eine Beziehung.«

Bei diesen Worten kam Verlegenheit in ihm auf, denn sie waren gelogen. Er dachte an Janine und daran, dass er sie nur allzu gerne näher kennen gelernt hätte.

»Schade. – Dann mach’s gut, Chrissie. Ich meld’ mich irgendwann mal wieder. Vielleicht erwische ich dich dann ja in einer besseren Stimmung.«

»Ja, tschüss Melanie.«

Gedankenverloren legte er das Telefon weg, holte in der Küche eine Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank. Er musste daran denken, dass seine bevorzugte Temperierung von Rotwein mit Melanie immer wieder Diskussionen ausgelöst hatte, zündete sich eine Zigarette an und verschwand wieder im Wohnzimmer.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fuhr Christian erschrocken hoch. Er war noch nie von ihm geweckt worden. Das Ding wurde immer von ihm ausgeschaltet, bevor es sich melden konnte. Die Uhr stand nur für den nie zu erwartenden Fall da, dass er verschlafen würde, der aber jetzt tatsächlich eingetreten war. Mühsam kroch er aus dem Bett und wankte ins Badezimmer.

»Ach herrje, der Scheißspiegel, soll ich reinschauen?«, murmelte er vor sich hin.

Sein Bedenken wurde aber zerstreut, als sich sein Spiegelbild völlig normal verhielt, vor dem Duschen, nach dem Duschen, während des Rasierens. Selbst die Krawatte band sich sein Gegenüber analog zu ihm. Man könnte meinen, ich bin dem Wahnsinn im letzten Moment entkommen, dachte er und überlegte weiter, ob er sich zu Hause noch einen Müsliriegel in den Mund schieben oder lieber im Bistro richtig frühstücken sollte. Dabei fiel ihm Janine ein und seine Entscheidung war getroffen. Er war nur viel zu früh dran, sie würde noch nicht da sein. Also entschloss er sich, noch eine Weile zu warten.

Als er im Bistro ankam, erblickte er sie sofort. Kurz nachdem er Platz genommen hatte, war sie auch schon bei ihm.

»Guten Morgen. Was kann ich Ihnen bringen? Dasselbe wie gestern?«

»Guten Morgen, Janine.«

Sie blickte ihn kurz erstaunt an. Offenbar war sie verwundert, dass er ihren Namen kannte. Dann lächelte sie aber wieder in gewohnter freundlicher Weise.

»Nein, gestern habe ich die Hälfte zurückgehen lassen. Bringen Sie mir bitte nur ein Croissant und einen Espresso.«

»Aber einen O-Saft werden Sie doch noch schaffen, oder?«

»Okay, einverstanden.«

»Kommt sofort!«

Sie rauschte davon, um nur kurze Zeit später die bestellten Sachen zu bringen. Just in diesem Moment klingelte sein Handy. Er schaute sie an und verdrehte die Augen.

»Abschalten«, flüsterte sie, während er dranging.

»Ja?«

»Lebst du noch und wenn ja, wird man dich in absehbarer Zeit noch mal zu Gesicht bekommen?«

»Mein Gott, Kerstin, ich bin das zweite Mal in all der Zeit nicht pünktlich im Büro und dann machst du so einen Aufstand.«

»Eben, genau deshalb. Würdest du sonst nach Belieben kommen und gehen, hätte ich nicht angerufen. Also, kommst du noch?«

»Darf ich noch in Ruhe frühstücken?«

»Einverstanden, aber beeil dich.«

»Ich sagte: in Ruhe.«

Christian steckte das Handy weg, als Janine alles hingestellt hatte.

»Ihre Chefin?« Sie schaute ihn belustigt an.

»Schlimmer, meine Sekretärin.«

»Hat Sie aber gut im Griff, oder?«

»Ja, ich merk’s auch gerade.«

Christian schaute sich im Bistro um. Um diese Zeit waren nicht viele Gäste anwesend, daher fragte er: »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten und einen Cappuccino mit mir trinken?«

»Würd’ ich schon machen, aber Antonio sieht das nicht so gerne, er meint, es könnte der Eindruck entstehen, der Laden läuft nicht, wenn die Bedienung Zeit hat, sich zu den Gästen zu setzen.«

»Verstehe ich. Darf ich Sie dann mal außerhalb ihrer Dienstzeit zu einem Kaffee einladen? Nicht hier, vielleicht in die Gaststätte, wo Sie gestern mit Ihren Freunden waren?«

»Im Moment hab ich nicht viel Zeit. Ich schreib nächste Woche zwei Klausuren, die immens wichtig sind und muss entsprechend lernen. Mein Studium hat zuvor wegen meiner Faulheit etwas gelitten, deshalb will ich mich jetzt mal ein bisschen ranhalten.«

»Was studieren Sie denn?«

»Psychologie.«

»Interessant. Haben Sie schon einen Schwerpunkt in diesem Fach gewählt?«

»Ja, ich werde mich wahrscheinlich auf Verkaufspsychologie konzentrieren. Marketing, Public Relations und so was. Ich weiß nicht, ob Sie damit etwas anfangen können.«

»Doch, doch, hab mal was davon gehört. Passen Sie nur auf, dass Ihnen Ihr Spiegelbild nicht eines Tages zuzwinkert.«

»Wie bitte?« Janine blickte ihn entgeistert an.

»War nur ein Scherz, dazu nicht ein besonders guter.« Dann fügte er hinzu: »Darf ich Sie noch mal ansprechen, wenn Sie Ihre Klausuren hinter sich haben?«

»Na klar, meine jetzige Absage ist nicht persönlich gemeint. Im Moment ist meine Zeit wirklich knapp. Aber danach könnte es schon klappen.«

Ihr süßes Lächeln entschädigte ihn ein wenig für seine Enttäuschung. Gestern hatte sie noch die Muße gehabt, mit ihren Freunden auszugehen; da mussten ihr doch die Klausuren auch schon im Nacken gesessen haben. Er ließ es sich nicht anmerken, aber der Korb, den sie ihm gerade gegeben hatte, traf ihn tief.

Als er mit dem Frühstück fertig war, beschloss er, mit dem Auto ins Büro zu fahren. Beim Bezahlen der Rechnung fragte sie ihn: »Werden Sie morgen wieder zum Frühstücken hierher kommen?«

Christian verzog das Gesicht; »Wahrscheinlich nicht, sonst handele ich mir wieder einen Rüffel im Büro ein.«

Sie lachte. »Ich sag Ihnen Bescheid, wenn ich meine Klausuren hinter mir habe.«

Als er nicht sofort antwortete, fügte sie hinzu: »Wegen dem Cappuccino; ich werde Sie beim Wort nehmen.«

Christian hatte das Gefühl, sein Herz schlüge einen Purzelbaum. An der Tiefgarage kam er gehörig ins Staunen. Hatte er nicht gestern seinen Wagen rückwärts eingeparkt? Aber das Auto stand jetzt genau andersherum. Er befühlte die Kühlerhaube, sie war warm. Demnach musste jemand mit seinem SL gefahren sein, während er im Bistro war. Aber niemand außer ihm besaß einen Schlüssel für das Fahrzeug. Er griff in seine Jackentasche, dann durchforstete er die andere Seite, schließlich noch sämtliche Hosentaschen; nirgendwo war der Schlüssel drin. »Scheiße«, entfuhr es ihm. Hastig rannte er zu seiner Wohnung, bis ihm einfiel, dass der Wohnungs- und Autoschlüssel ja an einem Bund waren. »So ein Mist«, sagte er laut zu sich selbst. »Ich hab die Tür vorhin zugezogen und die Schlüssel drinnen vergessen.« Dann fiel ihm der Hausmeister ein; der musste einen für alle Fälle in Reserve haben.

Also lief er zu dessen Wohnung und läutete. Es dauerte eine Weile, bis er die schlurfenden Schritte hörte und die Tür geöffnet wurde.

»Ach Sie, Herr Maurer. Ist was passiert? – Nee, sagen Se nix, lassen Se mich raten: Sie haben sich ausgesperrt, den Schlüssel in der Wohnung vergessen. Stimmt’s?«

»Ganz genau, so ist es, Herr ...«

Ihm fiel der Name nicht ein, denn er hatte so gut wie nie mit dem Hausmeister zu tun.

Doch der ging gar nicht darauf ein, sondern antwortete sofort: »Warten Se einen Moment, ich hol grad meinen Generalschlüssel«, und verschwand wieder in seiner Wohnung. »Hoffentlich haben Sie ihn nur vergessen und nicht verloren«, meinte der Hausmeister, während sie sich auf dem Weg zu Christians Wohnung befanden. »Das wäre nämlich teuer. Dann müsste ein neues Schloss eingebaut werden.«

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