Marie II

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Marie II

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Titel Seite
Zusammen schaffen wir es!

Zusammen schaffen wir es! - 1
Band 2 der Trilogie „Marie“

Neuauflage März 2020

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Diana Wolfbach

Illustration: Diana Wolfbach

Was bisher geschah

Die 73-jährige Diana lernt per Zufall die 12 ½-jährige Marie kennen. Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen alt und jung. Diana merkt bald, dass Marie geschlagen wird; diese gibt es aber zunächst nicht zu. Erst nach einigen Versuchen gesteht das Mädchen, dass sie von ihrem Onkel misshandelt und sexuell missbraucht wird. Nach einigen Wirren kommt Marie bei ihrer Lehrerin, Frau Oberwald, unter, die auch das Sorgerecht bekommt.

Diana forscht in Archiven nach Informationen über den mysteriösen Tod von Maries Mutter. Unterstützung bekommt sie von einem Kommissar im Ruhestand, der den Fall bearbeitet hatte. Der tatverdächtige Onkel von Marie musste seinerzeit aufgrund eines Alibis, dass ein Bekannter ihm verschaffte, frei gelassen werden.

In einem Prozess wird Maries Onkel zu neun Monaten auf Bewährung wegen Misshandlung verurteilt, vom Verdacht des Missbrauchs wird er freigesprochen, nicht zuletzt wegen eines Gutachtens eines Psychologen.

Bevor sich das Leben von Marie und Diana normalisieren kann, geschieht das Unfassbare: Frau Oberwald wird das Sorgerecht auf Anraten des Jugendamtes entzogen, weil sie in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt.

Marie wird fast mit Gewalt in ein Heim gebracht, während Diana bei einem zufälligen Zusammentreffen mit ihrem Onkel diesen in Notwehr eine Treppe hinunterstößt und ihn vermutlich tötet.

Als Marie im Heim vom neuen Vormund ebenfalls sexuell belästigt wird, läuft sie davon. Diana holt sie ab; die beiden fliehen, weil sie es für sinnlos halten, sich der Polizei anzuvertrauen.

*

Wohin sollten wir fahren? Wo könnten wir sicher unterkommen?

Zu Frau Oberwald, Maries bisherigem Vormund, könnten wir sicher nicht, denn dort würden sie uns zuerst suchen. Zu mir - das ging aus dem gleichen Grund nicht.

Aber ich sollte Frau Oberwald informieren, denn sie würde sich Sorgen machen, wenn sie Maries Verschwinden bemerkte. Es war kurz vor ein Uhr - noch etwas früh, sie anzurufen.

Schwester Christine zog zurück nach Berlin, außerdem war ihre Wohnung sehr klein.

In den Nachrichten um 13 Uhr wurde seltsamerweise noch nicht nach uns gefahndet.

Ich blickte meine Beifahrerin an. Zusammen schaffen wir es, hatte sie gesagt. Auf jeden Fall musste ich sie jetzt vor dem Heim und ihrem neuen Vormund beschützen.

“Marie, ich hab die Sachen aus deiner Wohnung geholt. Sie liegen auf der Rückbank.”

“Danke, Diana, das ist sehr nett von dir,” sagte sie. “Hast du es gleich gefunden?”

Ich nickte. Sollte ich ihr von dem Zusammentreffen mit ihrem Onkel erzählen? Ich beschloss, sie diesmal sofort einzuweihen.

“Marie, als ich aus deiner alten Wohnung ging, lief mir dein Onkel über den Weg.”

“Oh, das ist aber blöd!” bemerkte sie.

“Hat er was gesagt?”

Ich zögerte. “Ja, nichts Erfreuliches. Er wollte mich schlagen. Dabei gerieten wir in ein Handgemenge, und er stürzte die Treppe hinunter.”

“Ist er…” begann Marie ihre Frage.

“Er bewegte sich nicht mehr, ich denke, ich habe ihn umgebracht,” sagte ich tonlos.

“Aber das war doch Notwehr, Diana!” erklärte Marie mit Nachdruck.

Ich zuckte mit den Schultern. “Ja, das meine ich auch, aber wird das auch die Polizei glauben?”

Marie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. “Das müssen die,” sagte sie.

“Jedenfalls ist meine Flucht nicht gerade günstig,” entgegnete ich.

Ich biss mir wieder mal auf die Lippen. Aber es war zu spät.

“Ich mache dir nichts als Ärger, Diana,” flüsterte Marie.

“Nein, das machst du nicht. Den Ärger machen andere. Wir haben jetzt keine Wahl, wir müssen uns erst mal verstecken.”

Ich drückte ihre Hand. “Ich hab’ deiner Mama versprochen, dass ich auf dich aufpasse, und das werde ich tun!” sagte ich mit fester Stimme.

Ich hielt an einem Rastplatz, um Claudia anzurufen. Marie reichte ich den Umschlag, den ich aus ihrer Wohnung geholt hatte.

“Marie ist bei mir, sie ist in Sicherheit, Claudia, mach dir deswegen keine Sorgen,” beruhigte ich Frau Oberwald.

Ich informierte sie über die unverfrorene Aktion der Mitarbeiter des Heimes und Maries Flucht. Ich zögerte, ob ich ihr von der Begegnung Maries mir dem neuen Vormund erzählen sollte. Fragend blickte ich Marie an. Sie ahnte wohl, was ich dachte.

“Lass mich mal mit ihr reden, bitte,” sagte sie.

Ich reichte ihr das Handy. Marie erklärte noch mal, dass es ihr gut gehe und sie sicher sei.

Das mit der Sicherheit war so eine Sache, wie oft hatte ich das jetzt schon gedacht.

Marie berichtete ihrer Lehrerin von dem unerfreulichen Zusammentreffen mit dem Herrn Peter Schmidt. Dann gab sie mir wieder das Telefon.

Claudia rang ganz offensichtlich um Fassung.

“Bitte schalte einen Anwalt ein,” bat ich sie. “Wir müssen gegen den Beschluss des Familiengerichts dir das Sorgerecht für Marie zu entziehen vorgehen.”

Meine Gesprächspartnerin stimmte dem zu.

“Ich mach’ mal besser Schluss, sonst können die noch mein Handy orten. Ich melde mich wieder!”

Claudia war darüber nicht erfreut. Aber sie wünschte uns alles Gute. “Passt auf euch auf!” sagte sie bevor ich auflegte.

Ich schloss erst mal die Augen und seufzte. Marie hatte ihre Mappe im Handschuhfach verstaut und drückte meine Hand.

*

Eine ganze Weile saßen wir stumm neben einander. Urplötzlich fiel mir wieder ein, was Marie vorhin gesagt hatte. Ich wandte mich an sie: „Du hast gesagt, du hast das Gespräch mir diesem ... Schmidt aufgenommen?“

Sie nickte. „Ja, hab’ ich. Schwester Christine hat mir damals ein ganz kleines Aufnahmegerät gegeben. Sie sagte, wenn ich mal was Wichtiges aufnehmen will, brauch ich nur auf den kleinen Schalter zu drücken. Ich hab’ das mit ihr ausprobiert, es hat geklappt.“

„Und wo hattest du das Gerät?“ fragte ich.

„Ich habe es an das Band neben dem Hausschlüssel festgemacht, nachdem ich mich angezogen hatte, heute morgen, als die mich abgeholt haben. Im Heim habe ich es dann eingeschaltet. Es war unter meinem T-Shirt.“

„Sie haben es nicht bemerkt?“ wollte ich wissen.

„Nein, zum Glück nicht, es ist noch hier.“ Sie holte das kleine Gerät an der Schnur hervor.

„Möchtest du es anhören, Marie? Oder...“ fragte ich.

„Ja, ich probier mal aus, ob was drauf ist.“

Sie drückte eine kleine Taste. Zuerst kamen die Versuche mit Schwester Christine. Dann hörten wir, nicht sehr deutlich, aber verständlich die Gespräche in dem Zimmer im Heim. Eine weibliche Stimme forderte Marie auf eine Tablette zu nehmen. Danach Stille.

Die Tür wurde aufgeschlossen. Der folgende Dialog mit dem „neuen“ Vormund, Peter Schmidt, war zu hören.

Schmidt: ‚Hallo Marie, da bist du ja. Jetzt wird gut für dich gesorgt, darum werde ich mich selbst kümmern’.

Marie: ‚Wer sind Sie? Ich will hier raus, zurück nach Hause!’

Schmidt: ‚Das ist nicht gut für dich, hier bist du viel besser aufgehoben. Du wirst sehen, es wird dir hier gefallen.’

Marie: ‚Nein, ich will nicht hier bleiben, ich will zu Frau Oberwald!’

Schmidt: ‚Daraus wird nichts, das Gericht hat entschieden, dass du bei den Lesben nicht gut aufgehoben bist.’

Marie: (schreit) ‚Lassen Sie mich gehen, sofort!’

Schmidt: ‚Beruhige dich, ich werde für dich sorgen, Marie’.

Marie: ‚Fassen Sie mich nicht an!’

Schmidt: ‚Wenn du ein wenig nett zu mir bist, dann kann ich viel für dich tun, sonst...’

Marie: ‚Ich werde erzählen was Sie von mir wollen!’

Schmidt: (lachend) ‚Du glaubst, es wird dir jemand abnehmen, was du fantasierst? Deinen Onkel wolltest du auch schlecht machen, aber er wurde freigesprochen. Also vergiss das. Dir gefällt das doch auch, wenn ich lieb zu dir bin ... Komm...’

Marie: (schreit) ‚Nein!’

Es folgte Gepolter und ein Schmerzensschrei von Schmidt.

„Das ist ja furchtbar, Marie!“ sagte ich leise. Ich drückte ihre Hand.

„Aber es ist gut, dass du das aufgenommen hast, dann können wir beweisen, was dieses Scheusal dir antun wollte.“

Natürlich war mir überhaupt nicht klar, ob die Aufnahme als Beweismittel zugelassen werden würde. Aber man sollte es wenigstens versuchen.

„Wir sollten eine Kopie machen und Frau Oberwald schicken, die kann es einem Anwalt vorspielen.“

 

Freddie wäre der Richtige dafür, aber es schien mir zu gefährlich dorthin zu fahren.

Ich startete mein Auto. Wir brauchen was zu essen und zu trinken, dachte ich. Ob die uns schon suchen?

An einer Tankstelle hielt ich. Marie bat ich, im Auto zu bleiben. Ich kaufte Getränke, belegte Brötchen und ein paar Schokoriegel.

Während wir uns stärkten, überlegte ich, wohin wir fahren sollten.

*

Ob sie uns schon suchen? dachte ich wieder. In den Nachrichten kam immer noch nichts über unsere Flucht und den Tod von Kossewitz.

Ich könnte Kommissar Winterberg fragen, ob er eine Bleibe für uns hätte. Zumindest wüsste er aber vielleicht einen Rat.

Ich wählte seine Nummer. Erstaunlich schnell war er am Apparat.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie schon wieder störe, Herr Kommissar,“ begann ich.

Marie zuckte zusammen; ich hätte ihr vorher Bescheid geben sollen.

Ich erklärte ihm kurz von der Notwehr-Aktion gegenüber Kossewitz und der Flucht Maries vor den Zudringlichkeiten ihres neuen Vormunds. Ich fragte, ob wir bei ihm vorbeikommen könnten.

Zu meiner Verwunderung sagte er ohne Umschweife zu. Ich bedankte mich und legte auf.

„Marie, der Kommissar kann uns vielleicht helfen, dem können wir absolut vertrauen, hab’ keine Angst!“

Marie nickte. „Du wirst schon das Richtige machen, Diana.“

Wir mussten doch eine ganze Strecke fahren, denn wir hatten uns ziemlich weit aus der Stadt entfernt. Obwohl wir anscheinend noch nicht gesucht wurden, vermied ich es, auf der Autobahn zu fahren, denn dort könnte man uns vielleicht schneller orten, vermutete ich.

Vor dem Haus angekommen klingelten wir an der Pforte. Kommissar Winterberg trat auf einen Stock gestützt aus der Haustür. Er öffnete das Gartentor und die Garage mit einer Fernbedienung.

„Sie fahren ihren Wagen besser von der Strasse weg. Die Garage ist sowieso leer, ich habe kein Auto mehr.“

Ich bedankte mich und folgte seinem Vorschlag.

Im Haus gingen wir wie bei meinem ersten Besuch in den Wintergarten. Ich stellte ihm Marie vor, die er freundlich begrüßte.

„Sie können erst mal hierbleiben, die obere Etage ist völlig frei, ich lebe ja alleine hier. Das Treppensteigen fällt mir schwer, ich werde nicht mit nach oben kommen. Aber schauen Sie sich ruhig um, es sind zwei Gästezimmer vorhanden.“

„Ich denke, wir brauchen nur eins. Vielen Dank, Herr Winterberg,“ sagte ich.

Mit Marie ging ich die Treppe hinauf in den ersten Stock. Wir entschieden uns für das Zimmer mit einem Doppelbett, denn Marie wollte nicht alleine schlafen. Ich erzählte Marie von meinem ersten Treffen mit dem Kommissar im Ruhestand. Notgedrungen musste ich ihr den Grund sagen, warum ich mit dem Polizisten in Kontakt getreten war. Ich hatte beschlossen, ihr die Wahrheit zu sagen, denn die letzten Ereignisse hatten mir gezeigt, dass es schlecht war ihr etwas zu verheimlichen. Natürlich würde sie die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter belasten. Ich begann so behutsam wie möglich.

„Marie, du weißt doch sicher, dass der Tod deiner Mama viele Fragen offen gelassen hat. Dein Onkel und deine Tante haben dir vermutlich nicht viel erzählt, denke ich.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie sagten nur, dass ein Einbrecher Mama erschlagen hätte. Stimmt das?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, vermutlich hat ...“ Ich zögerte.

„Wer war es? Ich will es wissen!“ drängte Marie.

„Dein Onkel hat mit großer Sicherheit deine Mutter erschlagen!“

Ich war froh, dass es heraus war, aber ich war auch in Sorge, wie es Marie aufnehmen würde.

Sie wirkte sehr gefasst.

„Danke, dass du mir das sagst, Diana!“ Sie drückte meine Hand.

„Ich habe mir manchmal so was ähnliches gedacht. Er brüllte mich mal an: ‚Wenn du nicht spurst, dann bringe ich dich auch um!’ Ich merkte, dass er selbst darüber erschrocken war.“

„Marie, ich habe deiner Mama am Grab versprochen, dass ich ihren Mörder überführen werde. Deshalb war ich auch hier bei Kommissar Winterberg, denn der hat damals den Fall bearbeitet.“

Ich seufzte. „Jetzt ist der selber tot, der Mörder.“

„Aber es ist trotzdem wichtig, die Wahrheit heraus zu finden,“ sagte das Mädchen. „Ich werde dir dabei helfen!“

Immer wieder verblüffte mich Marie.

Ich nahm sie in meine Arme. Wir warteten eine Weile bevor wir nach unten gingen.

*

Kommissar Winterberg empfing uns mit finsterer Miene. Ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ohne Umschweife stellte er mich zur Rede.

„Liebe Frau Wolfbach, ich will Ihnen ja gerne behilflich sein soweit ich dazu in der Lage bin. Aber dafür ist eine absolut unabdingbare Voraussetzung, dass Sie mir die Wahrheit sagen!“ begann er kühl.

Ich schaute ihn ratlos an. „Aber ich sage Ihnen doch die Wahrheit!“

Wortlos forderte er mich mit einer Handbewegung auf Platz zu nehmen. Marie setzte sich neben mich. Immer noch ohne einen Laut von sich zu geben schaltete er den Fernseher ein.

„Das wird Sie interessieren, das kam vorhin in den Lokal-Nachrichten; ich habe es aufgezeichnet!“

Ich starrte auf den Bildschirm.

„.. wurde gegen Mittag der 39-jährige Ansfred K. im Flur seines Hauses tot aufgefunden. Die Leiche wies erhebliche Kopfverletzungen auf, die von einem stumpfen Gegenstand stammten und zum Tode führten. Die Tatwaffe lag neben dem Erschlagenen und wurde sichergestellt. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen...“

Winterberg schaltete das Gerät aus.

„Soweit zu Ihrer Notwehr!“ zischte er.

Mit aschfahlem Gesicht hatte ich die Nachrichten verfolgt.

Mühsam stammelte ich: „Ich habe ihn nicht erschlagen, er stürzte die Treppe hinunter. Ich dachte, er wäre tot.“

Kommissar Winterberg hob die Augenbrauen. „Und wer hat ihn dann erschlagen?“ fragte er.

„Das weiß ich doch nicht,“ antwortete ich mit zitternder Stimme. „Es hat sich alles genau abgespielt wie ich es Ihnen erzählt habe. Es war Notwehr, er hat mich angegriffen.“

Ich rollte meine Bluse etwas zur Seite und zeigte ihm die Stelle an meiner Schulter wo mich der Schlag getroffen hatte.

Der Kommissar im Ruhestand überlegte.

„Ich hätte ihn vermutlich auch erschlagen, diesen Dreckskerl. Aber das sieht nicht gut aus für Sie, denn Notwehr nimmt Ihnen niemand ab.“

Ich flehte ihn an: „Sie müssen mir glauben, ich habe ihn nicht erschlagen!“

Siedend heiß fiel mir ein, dass ich die Tatwaffe zweimal angefasst hatte; einmal, als ich den Schlag abwehren wollte, und ein zweites Mal, als sie vor der Tür lag und ich sie auf die Treppe stellte. Meine Fingerabdrücke waren sicher auf der Statue.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, bitte,“ mahnte Winterberg eindringlich.

„Es war alles genau so wie ich es erzählt habe. Er rutschte von der Treppenstufe ab und stürzte hinunter. Ich habe nicht auf ihn eingeschlagen als er am Boden lag,“ versicherte ich.

Nachdenklich wiegte er seinen Kopf hin und her.

Schließlich sagte er: „Ich glaube Ihnen!“

Fast wäre ich ihm vor Erleichterung um den Hals gefallen.

„Aber Ihre Lage ist alles andere als rosig,“ erklärte er nochmals. „Wie man so schön sagt sprechen die Indizien gegen Sie. Dieser Gesichtspunkt und die Situation von Marie lassen es momentan nicht ratsam erscheinen, sich der Polizei zu stellen. Das sage ich als Polizist...“

Marie hatte alles stumm mit angehört. Sie versuchte mich zu trösten. „Die müssen dir das glauben, Diana!“

Und dann fügte sie hinzu: „Das ist alles meine Schuld! Das wäre nicht passiert, wenn ich...“

Ich unterbrach sie. „Nein, das ist es nicht, Marie, rede dir das nicht ein. Du kannst wirklich nichts dafür.“

Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus.

Winterberg ergriff als erster wieder das Wort.

„Wir werden eine Nacht darüber schlafen und morgen versuchen, einen Ausweg aus der Lage zu finden. Ich hab schon ein paar Ideen.“

Ich fragte ihn nicht danach. Mir schwirrten tausend Gedanken durch den Kopf.

Als ich geglaubt hatte, es könne nicht schlimmer werden, hatte ich mich getäuscht. Erst ganz langsam kehrten mein Mut und mein Kampfeswille wieder zurück.

*

An Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken. Immer wieder wachte ich aus schlimmen Träumen auf. Auch Marie wälzte sich hin und her.

Als Licht durch die Fenster ins Zimmer strömte, beschloss ich aufzustehen. Marie hatte wohl endlich Schlaf gefunden; ich weckte sie nicht.

Kommissar Winterberg war anscheinend ein Frühaufsteher, denn ich hörte Geräusche von unten. Ich ging leise über die Treppe hinunter. Die Türen standen alle offen, deshalb sah ich Winterberg in der Küche stehen. Ich wünschte ihm einen guten Morgen.

„Guten Morgen, Frau Wolfbach,“ entgegnete er.

„Mit dem Frühstück müssen Sie sich noch gedulden, ich bin nicht sehr beweglich.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ein Kaffee wäre jetzt alles, was ich brauche.“

„Der ist schon aufgesetzt. Ich trinke nur noch Tee, bekommt mir besser,“ sagte er. „Schläft Marie noch?“

„Ja, ich habe sie nicht geweckt,“ antwortete ich.

„Kommen Sie, wir gehen ins Wohnzimmer.“

Ich folgte ihm, die Kaffeetasse in der Hand balancierend.

Winterberg setzte sich und stellte seinen Stock zur Seite.

„Es gibt Neuigkeiten, leider keine guten,“ begann er.

„Marie wird jetzt gesucht; in den Frühnachrichten kam die Durchsage.“

Ich seufzte. „Das habe ich erwartet.“

„Und nach Ihnen wird gefahndet,“ fuhr er fort.

„Ich weiß zwar nicht wieso, aber irgendwie müssen die Polizei und die Staatsanwaltschaft auf Ihre Spur gekommen sein.“

So richtig erschüttern konnte mich diese Information nicht mehr. Auch damit hatte ich gerechnet.

Bedächtig sagte der Kommissar im Ruhestand: „Sie wissen, dass Sie sich eigentlich stellen müssten, und ich verpflichtete wäre, Sie zu melden.“

Bevor ich etwas antworten konnte, fuhr er fort.

„Aber es ist sicher im Moment nicht klug, das zu tun, weder für Sie noch für Marie. Es wird Sie verwundern, dass ich das als ehemaliger Polizist sage.“

Ich flüsterte: „Danke!“

„Nur ist das keine Dauerlösung, irgendwann muss Klarheit in die Sache gebracht werden. Sie können nicht immer mit Marie auf der Flucht bleiben,“ fügte er hinzu.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Hier können Sie nicht für länger bleiben; ich habe eine Putzhilfe, und es kommt regelmäßig eine Krankengymnastin ins Haus. Zudem sind die Nachbarn sehr neugierig.“

Er trank einen Schluck aus seiner Teetasse.

„Ich habe ein Ferienhaus in der Rhön, das heißt, eigentlich gehört es meinem Sohn. Der nutzt das aber sehr selten. Es steht fast das ganze Jahr leer, ist aber jederzeit bewohnbar. Dort könnten Sie und Marie eine Zeit lang untertauchen, bis einiges geklärt ist. Ich würde Ihnen auch dringend empfehlen mit meinem Sohn Kontakt auf zu nehmen. Sie wissen ja, dass er Rechtsanwalt ist. Im Moment ist er sehr beschäftigt, aber er könnte sie in dem Ferienhaus besuchen.“

Mein skeptischer Gesichtsausdruck ließ ihn hinzufügen: „Der wird Sie und Marie nicht ausliefern, keine Angst.“

Ich war unschlüssig, aber die nächsten Bemerkungen meines Gesprächspartners überzeugten mich schon fast, dass das der richtige Weg wäre.

„Ich würde meinen Sohn auch bitten sich mit Frau Oberwald in Verbindung zu setzen, damit Einspruch gegen den Beschluss des Familiengerichts erhoben werden kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Aberkennung des Sorgerechtes anfechtbar ist.“

Ich informierte ihn über die Aufnahme, die Marie von der Begegnung mit dem ‚neuen’ Vormund gemacht hatte.

„Das ist sicher hilfreich. Ich kopiere es und gebe es Bruno, meinem Sohn.“

Er fügte hinzu: „Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.“

Ich überlegte hin und her. Aber es war wohl der richtige Weg, vor allem für Marie.

„Es ist halt sehr wichtig, dass Marie nicht wieder in dieses Heim gebracht wird und nicht wieder diesem ... Scheusal in die Hände fällt.“

Winterberg nickte. „Deshalb ist es vertretbar, dass Sie mit Marie zunächst mal untertauchen.“

 

„Was mir übrigens gerade einfällt: Der jetzt bestimmte Vormund heißt Peter Schmidt, genauso wie der Zeuge, der Kossewitz seinerzeit das Alibi verschafft hatte,“ informierte ich Winterberg.

„Das ist ja ein Ding!“ entfuhr es ihm. „Wenn das derselbe ist ...“

„Ist ja schon ein häufiger Name...“ bemerkte ich.

„Das kann Bruno klären. Es gibt da vielleicht irgendeinen Zusammenhang,“ sinnierte er.

„Ich nehme Ihren Vorschlag an, Herr Winterberg,“ sagte ich.

Er nickte. „Gut, dann besprechen wir die Einzelheiten.“

Auf einem Blatt, das vor ihm lag, notierte er die Planung für die nächsten Tage.

„Ich werde Frau Oberwald anrufen und ihr die Telefonnummer Ihres Sohnes geben.“

„Lassen Sie Ihr Handy stecken, nehmen sie mein Telefon. Handys kann man orten.“

Es war schon nach acht Uhr, also würde Claudia vermutlich in der Schule sein. Ich probierte es trotzdem.

Frau Oberwald meldete sich sofort. „Ich bleibe heute zu Hause,“ sagte sie, „das ist alles zu viel im Moment.“

Ich informierte sie über den Vorschlag von Kommissar Winterberg. Sie war sofort einverstanden.

„Einen Anwalt wollte ich sowieso einschalten,“ betonte sie. „Wie geht es Marie?“

„Sie schläft noch. Es nimmt sie natürlich alles wieder sehr mit.“

Nachdem ich versprochen hatte, Marie von ihr zu grüßen, unterrichtete ich sie über unser vorübergehendes Untertauchen.

„Passt auf euch auf!“ sagte sie zum Schluss des Gesprächs.

Winterberg hatte inzwischen eine kleine Schachtel geholt.

„Hier ist ein Handy, ein nagelneues Smartphone, hat mir mein Sohn geschenkt. Ich brauch’ das nicht. Nehmen Sie es, es hat 50 € Guthaben und eine Sim-Karte. Ihr Handy sollten Sie vorrübergehend still legen, und Marie sollte das mit ihrem auch tun.“

„Danke vielmals, Sie sind eine große Hilfe für uns, Herr Winterberg!“

Er lachte. „Dann bin ich noch zu was nutze.“

Als er mir die Schlüssel und die Anschrift des Ferienhauses gegeben hatte, kam Marie herunter. Ich informierte sie über unsere Pläne.

„Ich will nicht mehr in dieses Heim und zu dem Schwein!“ erklärte sie mit Nachdruck.

„Dafür werden wir sorgen, Marie. Solange nicht geklärt ist, wohin du kommst, bleiben wir versteckt,“ beruhigte ich sie. „Ich soll dich von Frau Oberwald grüßen.“

Bevor wir unsere ‚Flucht’ fortsetzten, bereiteten wir gemeinsam ein Frühstück zu. Kommissar Winterberg kopierte Maries heimliche Aufnahme des Zusammentreffens mit Peter Schmidt.

*

„Noch mal vielen Dank für alles,“ sagte ich zum pensionierten Kommissar, bevor wir uns in den Wagen setzten und losfuhren. Gepäck hatten wir so wie gar keins, ich nur meinen Fliegerkoffer, Marie den Umschlag von ihrer Mama und das Tagebuch. Winterberg hatte uns noch Getränke für die Fahrt mitgegeben.

Das Navi berechnete die Route zum Ferienhaus. Ich wusste natürlich nicht ob auch mein Auto zur Fahndung ausgeschrieben worden war. Aber ich beherzigte die Empfehlung von Winterberg die Autobahnen zu meiden. Mein Bordcomputer zeigte mir an, dass der Benzinvorrat knapp bis zu unserem Ziel reichen würde. Ich plante den Tankstopp und die notwendigen Einkäufe gegen Ende der Strecke, denn die Fahndungen würden ja wohl nicht bundesweit ausgesendet werden.

In den Elf-Uhr-Nachrichten der privaten Rundfunkstation kam keine Meldung über uns. Ich hätte den Kommissar fragen sollen, wo und wie lange die Fahndungen ausgestrahlt werden würden.

Marie war nicht sehr gesprächig.

„Wenn du willst, kannst du etwas schlafen,“ bot ich ihr an. „Klapp einfach die Lehne nach hinten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht müde.“

Peinlich genau hielt ich mich an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten. Jetzt in eine Polizeikontrolle zu geraten wäre nicht so günstig.

„Du bist auch Pilotin, hat mir Claudia erzählt,“ begann Marie ein Gespräch.

„Ich war, meine Lizenz habe ich nicht mehr erneuert.“

„Dann darfst du jetzt nicht mehr fliegen?“ fragte sie.

„Nein, nicht mehr. Ein Flugschein wie ich ihn hatte muss alle zwei Jahre verlängert werden,“ sagte ich.

„Und warum hast du den nicht verlängert?“

„Na ja, das hatte viele Gründe. Zum Einen ist das Fliegen in Deutschland sehr teuer und ziemlich eingeschränkt für Privatpiloten. Und außerdem hatte ich nicht so viel Zeit meine nötigen Stunden zu fliegen, denn neben meinem Beruf als Lehrerin habe ich noch Theorieunterricht in der Flugschule gegeben.“

„Schade, sonst könnten wir einfach davonfliegen, ganz weit weg,“ sagte sie.

„Was für Flugzeuge bist denn geflogen, Diana?“

„Nur ganz kleine, mit zwei oder vier Sitzen. Die Leute sagen meist Sportflugzeuge dazu,“ sagte ich.

„Wo bist du geflogen?“

„Hauptsächlich in Deutschland und den Nachbarländern. Zweimal war ich auch in den USA und habe dort meine notwendigen Stunden geflogen, in der Gegend von Chicago.“

„Wow, nach Amerika möchte ich auch. Mama war mal dort bevor ich auf die Welt kam. ‚Irgendwann fliegen wir dort hin’ sagte sie. Aber das geht ja nicht mehr,“ seufzte sie.

„Dann fliegen wir beide zusammen dort hin,“ sagte ich, ohne groß nach zu denken.

„Wirklich? Das wäre toll!“ griff sie meine Bemerkung auf.

Warum eigentlich nicht? Ich wollte auf jeden Fall noch mal dorthin reisen. Ob das allerdings mit Marie gehen würde, war mir nicht ganz klar.

„Wenn wir das hier alles überstanden haben, werden wir es vielleicht zusammen machen können,“ erklärte ich.

Marie nickte. Ich vermutete, dass sie nicht so recht glaubte, dass ich das ernst meinte.

„Warst du schon öfter in Amerika?“ fragte sie.

„Ja, ich habe schon 29 Staaten besucht. Irgendwann möchte ich alle schaffen! Weißt du, wie viele es sind?“

Beleidigt schaute sie mich an. „Ja klar weiß ich das, es sind 50!“ erklärte sie mit Nachdruck.

„Sorry.“ Ich klopfte leicht auf ihren Oberschenkel.

„Dann schreiben wir heute Abend alle 50 auf,“ schlug ich vor. „Das habe ich immer gemacht, wenn mir in den Vorlesungen in der Uni langweilig war.“

So recht schien Marie nicht von dieser Idee begeistert zu sein. Stattdessen fragte sie: „Vermisst du das Fliegen manchmal?“

Ich nickte. „Ja, manchmal schon. Vor allem wenn ich eine Cessna am Himmel sehe.“

„Cessna?“

„Das ist eine Firma, die unter anderem Flugzeuge baut wie ich sie geflogen bin,“ erklärte ich ihr.

„Vielleicht werde ich ja auch Pilotin,“ sagte sie. „Oder Stewardess.“

„Warum nicht? Ich könnte dir Unterricht geben, denn ich hab‘ ja Piloten in mehreren Fächern theoretisch ausgebildet,“ meinte ich nicht ganz ernst.

„Oder ich werde Lehrerin, so wie du,“ fuhr sie fort.

„Das hat alles noch Zeit, Marie. Jetzt musst du erst mal die Schule hinter dich bringen.“

Sie überlegte. „Ist das jetzt eigentlich Schulschwänzen?“

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.

„Frau Oberwald wird dich sicher entschuldigen. Und es sind ja bald Ferien,“ beruhigte ich sie.

„Machen wir mal eine kleine Pause,“ schlug ich vor. „Da hinten ist ein Rastplatz!“

„Ja gut. Nicht wieder im Wald parken!“

Ich merkte, dass Marie unsere ‚Flucht’ und der räumliche Abstand gut tat.

*

„Hast du dein Handy ausgeschaltet, Marie?“

„Nein, habe ich nicht,“ antwortete sie.

„Mach das bitte.“

Ich erzählte ihr, dass Herr Winterberg mir ein Handy gegeben hatte und dass wir unsere nicht benutzen sollten.

„Suchen die uns denn noch?“ fragte Marie.

Diese Frage konnte ich natürlich nicht beantworten.

„Vermutlich schon,“ sagte ich ausweichend. „Aber wir sollten sicher gehen, dass sie uns nicht orten können über die Mobiltelefone.“

Marie schaltete ihr Handy aus; ich hatte das bereits getan.

Wir beendeten die Pause auf dem Rastplatz. Nach ein paar Kilometern ertönte ein Signal.

„Was war das?“ wollte Marie wissen.

„Wir müssen bald tanken, wir fahren schon auf Reserve.“

Das Navi zeigte eine Reststrecke von 95 km an, und der Bordcomputer meldete, dass der Benzinvorrat noch für 105 km reichen würde. Das war mir zu knapp.

„An der nächsten Tankstelle halten wir,“ sagte ich.

Kurz vor Erreichen eines kleinen Ortes fanden wir eine Esso-Station. Ich tankte voll und ging zum Bezahlen in den Kassenraum. Mit der Kreditkarte beglich ich den Betrag. Große Gedanken machte ich mir nicht, ob man über den Einsatz der Karte den Standort ermitteln konnte. Einen Schock bekam ich allerdings am Ausgang. Auf der Innenseite der Türe klebte ein Fahndungsfoto. Erleichtert stellte ich fest, dass ein mutmaßlicher Bankräuber gesucht wurde. Das Phantombild starrte mich grimmig an.

Ob mir demnächst auch die Ehre zuteil werden würde mit einem Steckbrief gesucht zu werden?

„Alles okay?“ fragte mich Marie. Sie merkte wohl, dass ich in Gedanken war.