Mörderisches Schwerin

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Mörderisches Schwerin
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Diana Salow

MÖRDERISCHES SCHWERIN

THEATER DES TODES


In Liebe für Kirsten & Dennis

Der Ostseekrimi »Mörderisches Schwerin. Theater des Todes« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen, Gegebenheiten, Organisationen und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Danksagung

Kapitel 1

Endlich war es so weit. Alles, was in Schwerin Rang und Namen hatte, war im festlich dekorierten Theater der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns zugegen und hatte Platz genommen. Kein einziger der weinroten Samtsessel war freigeblieben. Bis in den dritten Rang hinauf saßen die Herren in ihren eleganten Anzügen und modischen Krawatten. Und die Damen trugen herrliche Paillettenkleider oder edle lange Roben. Niemand wollte es sich entgehen lassen, was Oberbürgermeisterin Anna Mehnert heute offiziell und feierlich verkünden würde: Schwerin mit seinem Schloss und dem Residenzensemble sollte endlich zum Weltkulturerbe erklärt werden. Gleichzeitig wollte sie feierlich zwei neue Ehrenbürger der Stadt ernennen.

Mehnert erhob sich und stieg stolz die kleine Holztreppe zur Bühne hinauf. Die Mitglieder der Landesregierung, die in den ersten zwei Reihen saßen, begrüßte sie im Vorbeigehen kopfnickend. Auf der Bühne angekommen, hielt sie kurz inne und lächelte ihr Schweriner Publikum an. Sie strahlte Freude aus. Nach ein paar Einführungsworten – sie sprach frei – wurde ein Film auf der großen LED-Anzeige eingespielt. Das Publikum blickte auf die bewegenden Bilder, die die Geschichte des Schweriner Schlosses, des Museums und des Theaters zeigten. Gespannt schauten alle auf die riesige Wand und lehnten sich in den weichen Sesseln zurück. Auch Markus Wagner, der Intendant des Theaters, blickte zufrieden. Die Vorbereitungen des Galaabends hatten viel Mühe bereitet. In diesen Augenblicken verwandelte sich das Konzept in die Realität.

Plötzlich ging das Licht im Theater aus. Die Lampen des riesigen Kristallleuchters über dem Publikum erloschen. Im Saal war es fast stockfinster, nur die grünen Notfallwegweiser spendeten ein fahles Restlicht. Der Intendant, der in der dritten Reihe am linken äußeren Rand saß, wunderte sich. Er kannte den geplanten Ablauf der Veranstaltung genau. Was gerade passierte, war in seinem Manuskript des Abends nicht vorgesehen. Es musste ein Stromausfall sein. Wagner setzte sich aufrecht in seinem Sessel hin, schaute sich kurz um, schob nervös seine zwar edle, aber nun unbequeme Fliege am Hals hin und her. Er hoffte, dass seine Techniker den Schaden schnell beheben würden, und erhob sich langsam. ›Es dauert zu lange!‹, dachte er gerade, dann passierte es. Erstaunt blickte der Theaterleiter zusammen mit den hunderten Gästen auf die hell erleuchtete LED-Wand, auf der gut sichtbar zu lesen war:

Niemand rührt sich von seinem Platz!

Wer sich bewegt und seinen Stuhl verlässt, ist tot!

Dies ist kein Scherz,

bewahren Sie Ruhe und warten Sie auf weitere Anweisungen!

»Sehr originell«, rief jemand aus dem Parkett und klatschte vorsichtig in die Hände. – »Spannend, was sich die Veranstalter heute einfallen lassen müssen, um Menschen zu begeistern«, flüsterte die Ministerpräsidentin ihrem Mann ins Ohr. – »Unglaublich, in der heutigen Zeit mit solchen Sätzen, Ängste der Menschen zu schüren«, hörte die Oberbürgermeisterin, die noch immer am Rand der Bühne verharrte, eine ältere Frau sagen. »Mit solchen Sätzen spaßt man nicht!«

»Dies ist kein Scherz!« Es war eine monoton verzerrte Computerstimme, die nun jeder im Saal vernahm. Ein mulmiges Gefühl machte sich unter den Menschen breit. Die in der Nähe der Politikerinnen sitzenden Personenschützer schauten sich besorgt um, einige besprachen offenbar über ihre Headsets das weitere Vorgehen. Nochmals wurden alle im Theater aufgefordert, genau zuzuhören und sich keinesfalls von ihren Sitzen zu erheben. »Wer aufsteht, ist tot! Wer aufsteht, ist tot!«, dröhnte es fortlaufend. Niemand rührte sich. Alle saßen wie erstarrt in ihren Sesseln. Ein junger Mann im ersten Rang wurde ohnmächtig, seine Begleitung klopfte ihm sanft ins Gesicht und begann nach Hilfe zu rufen, nachdem er nicht wieder zu sich kam und zusammengesackt in seinem Sessel hing. Niemand der Anwesenden ging jetzt noch von einem Scherz aus. Keiner wagte sich zu bewegen oder gar sein Smartphone aus der Tasche zu holen. Stumm saß das Schweriner Publikum da. Bedrückende Stille.

Mit Entsetzen hörten sie nach einigen Augenblicken erneut die Computerstimme, die allen mitteilte, dass unter bestimmten Sitzen Sprengstoff angebracht worden sei. Wer von seinem Platz aufstünde, müsse mit einer Explosion rechnen. Bis auf das Atmen der Leute war es ruhig im Theater. Eine unerträgliche Spannung lag in der Luft, die nur durch nächste Anweisungen zu zerreißen drohte. Selbst die Mitarbeiter hinter den Kulissen rührten sich nicht von der Stelle und trauten sich nicht, die Polizei zu informieren. Jeder schaute vorsichtig zu seinem Nachbarn und zu den Rängen hoch an die Decke.

 

»Das kann doch gar nicht sein!«, rief ein mutiger junger Mann. »Bei solchen Veranstaltungen, bei denen die vollständige Landesregierung vor Ort ist, werden vorher die Gebäude mit Sprengstoffsuchhunden durchlaufen.«

Niemand kommentierte den Hinweis. Keiner im Saal wusste, ob sich diese unheimliche Szenerie nicht doch als Teil des Events auflösen würde oder man es mit einem Irren zu tun hatte, der einige von den fünfhundert Gästen auf dem Gewissen haben wollte. Von einem Scherz ging tatsächlich niemand mehr aus, als alle im Publikum auf der Leinwand plötzlich weitere Sätze lesen konnten:

Jeder von Ihnen hat jetzt eine Stunde Zeit,

eintausend Euro auf dieses Konto zu überweisen.

Es ist völlig egal, ob Sie es online von Ihrem Handy überweisen,

jemanden informieren, der dies für Sie veranlasst

oder Sie Ihren Sitznachbarn um das Geld bitten.

Um spätestens 21 Uhr müssen 500.000 Euro

auf dem angegebenen Konto eingegangen sein!

Zürcher Kantonalbank

CH39 0070 0115 2119 4816 6

ZKBKCHZZ80A

Dann ertönte wieder die verzerrte Computerstimme: »Sie können jetzt mit Echtzeitüberweisung zahlen oder einfach aufstehen. Wenn das Geld nicht um einundzwanzig Uhr auf dem Konto ist, kommen hier zahlreiche Menschen nicht lebend heraus. Viele der Sitze haben wir mit Sprengstoff präpariert, und es sind nicht nur die Sitze der vermögenden Gäste im vorderen Bereich. Überlegen Sie Ihre Entscheidung! Was ist Ihnen Ihr Leben oder das Leben Ihres Sitznachbarn wert? Entscheiden Sie selbst! Das Theater ist verschlossen. Niemand wird es vor einundzwanzig Uhr verlassen. Die Zeit läuft ab jetzt.« Auf der LED-Wand startete ein Countdown.

Geschockt sahen sich die Leute hektisch um und schauten, wie andere auf diese Informationen jetzt reagierten. Menschen fluchten leise. Einige telefonierten. Der größte Teil von ihnen schrieb zitternd und ängstlich Nachrichten auf Mobiltelefonen. »Mein Akku ist leer«, wisperte eine junge Frau in der Nähe des Intendanten Markus Wagner verzweifelt. Niemand traute sich, laut irgendetwas zu sagen. Keiner wusste, ob man beobachtet oder abgehört wurde.

Die Oberbürgermeisterin, die noch immer fassungslos auf der Bühne vor dem Rednerpult stand, begriff langsam ihr Glück. Sie saß nicht auf ihrem Platz in der ersten Zuschauerreihe und war demzufolge nicht in Lebensgefahr. Sie besann sich kurz, zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht noch größere Unruhe und Ängste zu schüren. »Hören Sie, ich rufe jetzt die Polizei. Bewegen Sie sich nicht!«, sprach sie mit zitternder Stimme. Sie war froh, dass sie ihr Smartphone in einer kleinen Handtasche bei sich führte. Die Akkuladung würde auch ein längeres Gespräch zulassen. »Ich werde alles dafür tun, dass jeder von uns hier lebend herauskommt!«, versprach sie zuversichtlich.

»Machen Sie das nicht! Sie bringen uns damit um!«, rief ein junger Mann vom dritten Rang.

Die Oberbürgermeisterin ließ sich nicht beirren und wählte den Notruf der Polizei. Alle sahen gespannt auf sie. Einige befürchteten, gleich würde etwas mit ihr passieren. Vielleicht würde auf Mehnert nach ihren mutigen Worten geschossen werden?

Die Computerstimme blieb jedoch aus. Anscheinend wurde weder das Ansinnen der Frau beobachtet noch mitgehört. Sie erklärte der Polizei ruhig und besonnen die Situation, vernahm, dass die Leitstelle bereits seit ein paar Minuten über SMS und WhatsApp-Nachrichten von Angehörigen der Theatergäste informiert worden war und dass ein Spezialeinsatzkommando auf dem Weg zum Schweriner Theater sei.

Das Schweriner Residenzensemble wurde in diesen Minuten nicht nur deutschlandweit bekannt. Vor dem mörderischen Hintergrund war dies aber keine Werbung, die man sich wünschen würde. Keiner der Gäste, niemand der Angehörigen oder selbst der Einsatzleiter des SEK wusste, wie dieser Abend, der nun wahrlich in die Geschichte Schwerins eingehen würde, für alle Beteiligten enden würde.

Kapitel 2

»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Hauptkommissar Thomas Berger laut, als er auf seinem Smartphone Lars Paulsens WhatsApp-Nachricht las. Er sah erst jetzt, dass sein engster Kollege mehrfach versucht hatte, ihn anzurufen.

»Was ist denn los?«, fragte Bergers Frau, die Gynäkologin Dr. Lea Engel, beunruhigt. Sie saßen gerade in ihren bequemen Lounge-Sesseln auf der Terrasse ihres Hauses, das in der kleinen Gemeinde Wittenförden am Rande der Landeshauptstadt Schwerin stand. Der Duft blühender Petunien lag in der Luft und zog zahlreiche Insekten an, die um die pinkfarbenen Blüten schwirrten.

Lea hatte ihrem Mann gerade eine Portion gegrillte Paprika und Auberginen mit Schafskäsewürfeln gereicht und sich auf einen schönen Sommerabend mit ihm gefreut. Doch Thomas Berger zeigte von einem Moment auf den anderen ein angespanntes Gesicht und reagierte auch nicht einmal darauf, als sie ihm mit einem Glas Chianti zuprostete. Der Polizist nahm nichts mehr um sich herum wahr.

»Oh Gott, ich muss sofort los, Lea!«

»Nun sag doch schon! Was ist passiert?«

»Wir haben eine gefährliche Ad-hoc-Lage in Schwerin!«

»Wirf nicht immer mit polizeilichen Fremdwörtern um dich, die ich als Laie weder kenne noch verstehe!« Lea stellte jetzt ihr Rotweinglas auf dem Tisch ab, ohne davon einen Schluck getrunken zu haben.

Während er aufstand, dippte Berger hektisch ein größeres Stück Knoblauchbaguette in das selbstgemachte Basilikum-Pesto und stopfte es sich in den Mund. Kauend antwortete er: „Lea, das ist eine plötzliche Sofortlage, meistens Amok- oder Geiselsituation. Was in Schwerin genau passiert ist, kann ich noch nicht beurteilen. Ich muss jetzt jedenfalls sofort los! Gut, dass ich noch keinen Wein getrunken habe, dann kann ich selbst fahren.« Er trank ein Glas Wasser, wischte sich mit einer Serviette die Mundecken sauber und gab Lea eilig einen Abschiedskuss.

»Wieso musst du in die Stadt? Ist das nicht zu gefährlich? Es gibt doch Sondertruppen für solche Ereignisse!«, mutmaßte Lea skeptisch. Sie erhob sich aus dem Sessel und wollte ihren Mann am Arm festhalten. Sie forderte eine Erklärung von ihm.

»Lea, ich muss los! Die Spezialeinsatzkräfte, in diesem Fall das SEK und das Sprengstoffkommando, sind bereits auf dem Weg nach Schwerin.« Berger pickte sich im Stehen noch rasch ein Stück Paprika auf die Gabel. »Die Bereitschaftspolizei ist auch schon im Anmarsch. Das wird eine lange Nacht. Warte nicht auf mich!«

»Sehr witzig, Thomas!«, erwiderte Lea sarkastisch. »Denkst du, ich kann jetzt schlafen gehen, wenn ich nicht weiß, was in Schwerin los ist?«

»Ich denke, dass das Fernsehen auch live vor Ort sein wird.«

»Wie bitte? Das Fernsehen?«, antworte Lea mit weit aufgerissenen Augen. »Bitte melde dich, wenn mal Zeit ist!«, flehte sie. Sie hielt ihn einen weiteren Moment vom Gehen ab.

»Lea, ich muss wirklich los …« Thomas befreite sich sanft aus dem Armen seiner Frau.

Sie ließ ihn gehen.

Während er Autoschlüssel, Papiere vom Flurschrank und seine Dienstwaffe aus dem kleine Safe holte, trudelten weitere Nachrichten auf seinem Smartphone ein, die er gleichzeitig überflog. Berger erzählte Lea nichts davon, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen.

Der Hauptkommissar nahm seine neue Schutzweste vom Flurhaken. Er hatte sie erst vor ein paar Tagen bekommen. Niemals hätte er gedacht, dass er sie so schnell brauchen würde. Seine alte Weste hing im Büro und wartete auf ihre Entsorgung. Er war noch etwas ungeübt im Anlegen des neuartigen Kleidungsstücks. Der Innenminister hatte erst vor Kurzem in seinem Amtsdeutsch die sogenannten Außentragehüllen an die Polizei übergeben. Diese Westen sollten einen noch besseren ballistischen und vor allem Stichschutz haben. Den schusssicheren Helm hatte der Kommissar in seinem Auto liegen. Berger hatte an diesem Abend keine Angst, aber dennoch ein mulmiges Gefühl, was ihn in der Stadt erwarten würde. Gewalttaten gegen Polizisten nahmen von Tag zu Tag zu.

Dann eilte er nach draußen, setzte sich in seinen Wagen und warf Lea einen Handkuss aus dem Autofenster zu, so wie er es immer tat, wenn er zu einem Einsatz oder Tatort fuhr.

Lea zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte gezwungen den Kuss aus der Ferne. Der Appetit auf das Essen war ihr vergangen. Sie ging in die Wohnstube und schaltete den Fernseher ein. Beim Nachrichtensender n-tv sah sie sogleich einen Reporter des ZDF-Landesbüros, der in sicherer Entfernung vor dem Schweriner Staatstheater stand. Der Mann sprach aufgeregt, während er sich immer wieder zum Theater umschaute. Am unteren Bildschirmrand liefen in einer Endlosschleife immer wieder die Worte:

Eilmeldung! SEK-Einsatz wegen mutmaßlicher Geiselnahme im Schweriner Theater!

Bergers Frau war entsetzt. Sie hatte jetzt noch mehr Angst um ihren Mann, der des Öfteren schon mal den Helden gespielt hatte. Bisher war es immer gut gegangen. ›Hoffentlich hält er sich zurück‹, dachte Lea. Sie schloss die Terrassentür zum Wohnzimmer und begann etwas zu frösteln. Völlig konzentriert auf den Bildschirm blickend, ließ sie die Ad-hoc-Lage, so wie Thomas es ihr vor einer Viertelstunde erklärt hatte, nicht mehr los. Gänzlich auf den Reporter fixiert, konzentrierte sie sich darauf, was er sagte. Nebenbei wischte sie auf ihrem Mobiltelefon herum, um bei Facebook, Instagram oder bei der Polizei genauere Informationen zu finden. Die Polizei twitterte unaufhörlich: Niemand solle sich in der Nähe des Theaters aufhalten. Nachrichten von Freundinnen trafen bei ihr ein. Aufgeregt fragten sie, ob Lea schon von dem Chaos am Schweriner Theater gehört habe. Sie beantwortete nicht eine einzige. Die Gerüchte um die Lage am Theater wollte sie nicht lesen und auch nicht selbst mit Unwissen bedienen.

Leas Herz fing an zu rasen, als sie im Fernsehen hinter dem ZDF-Reporter deutlich eine Explosion vernahm. Der Korrespondent brach seinen Bericht ab. Er und der Kameramann brachten sich vermutlich gerade in Sicherheit.

Der Abend war gelaufen. Lea würde kein Auge zubekommen, bis ihr Mann wieder zu Hause bei ihr sein würde. »Thomas wird sich schon keinem unnötigen Risiko aussetzen«, redete sie sich laut ein. »Dafür hat er zu viel Berufserfahrung.« Aber war Schwerin auf so eine Lage vorbereitet? Sie konnte sich nicht erinnern, dass die Landeshauptstadt jemals mit derartigen Ereignissen konfrontiert gewesen war. Sie wusste, dass sich die Polizei in letzter Zeit auf viele Szenarien vorbereitete. Aber Theorie und Ernstfall waren trotzdem zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Lea nahm sich ein Taschentuch, um sich ihre feuchten Hände zu trocknen. Ihr Smartphone legte sie in Sichtweite auf den Tisch in ihre unmittelbare Nähe. Den Klingelton stellte sie auf die lauteste Stufe, damit sie keinen Anruf ihres Mannes verpassen würde.

Kapitel 3

So viele Blaulichter hatten Hauptkommissar Berger und sein Kollege Paulsen am Alten Garten in Schwerin noch nie gesehen. Das Areal wurde vom Theater, dem Museum und dem Schloss umsäumt und seitlich vom Schweriner See und dem Burgsee begrenzt – eigentlich ein Hot-Spot für Touristen und Gäste aus aller Welt. Jetzt war der Bereich um das Theater weiträumig abgesperrt. Niemand – außer bevollmächtigte Polizeibeamte – kam in das Areal hinein oder heraus. Polizeifahrzeuge, Sondereinsatzwagen und zahlreiche Krankenwagen standen auf dem großen und repräsentativsten Platz der Stadt bereit.

Zwei Präzisionsschützen des SEK hatten sich auf dem Dach des anliegenden Museums positioniert. Sie lagen mit der Waffe im Anschlag bereit und warteten hochkonzentriert auf Anweisungen. Der Chef des SEK saß mit seinem Stabsteam im Einsatzwagen unterhalb der Museumstreppe.

Der Museumsdirektor hatte vorsorglich einige Mitarbeiter zusammengetrommelt und veranlasst – so schnell es überhaupt möglich war –, die wertvollsten Gemälde der Galerie abhängen zu lassen, um sie vor einer möglichen Explosion zu schützen.

Trotz der Situation lag eine gespenstische Ruhe über dem Alten Garten. Die Sonne ging bereits hinter der Staatskanzlei des Landes Mecklenburg-Vorpommern unter und verfärbte den Himmel blutrot.

 

Berger und Paulsen saßen im Polizeiwagen direkt an der Schlossbrücke zwischen Christian Genschows Skulpturen »Obotrit, sein Pferd bändigend« und »Obotrit, sein Pferd rüstend«. Und wie zwei Obotriten in Gefechtsbereitschaft lauschten beide Hauptkommissare angespannt dem Polizeifunk. Das Spezialeinsatzkommando hatte diesen außergewöhnlichen Fall bis auf Weiteres übernommen. Die Beamten wollten die mutmaßlichen Täter überwältigen und festnehmen. Niemand konnte genau sagen, ob die Verantwortlichen überhaupt im Theater waren oder ob das ganze Szenario von außerhalb gesteuert wurde. Nach der vor Kurzem deutlich hörbaren Detonation war jedem Anwesenden bewusst, wie ernst die Lage war. Hunderte von Menschenleben standen auf dem Spiel.

Lars Paulsen war erst vor ein paar Jahren nach Schwerin gekommen. Er hatte in Hamburg lange Zeit beim SEK gearbeitet, bis es wohl zu einem Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten gekommen war. Da er regelmäßig irrtümlich »Sonder« anstelle von »Spezialeinsatzkommando« gesagt hatte, hatte ihm sein damaliger Chef mit einem Disziplinarverfahren gedroht, denn das Wort sollte wegen seiner Benutzung in der Nazizeit keine Verwendung mehr finden. Paulsen war daraufhin für kurze Zeit in einer Verhandlungsgruppe eingesetzt worden – für Gesprächsführungen in akuten Lagen also. Dabei hatte er es oftmals direkt mit Tätern zu tun bekommen. Oder mit Menschen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollten. Er war gut in seinem Job gewesen. Er vermochte die Betroffenen zu motivieren, entweder aufzugeben oder sich der Polizei zu stellen. Wahrscheinlich hätte der Profi die heutige Einsatzlage auch selbst leiten können. Er war psychischen Ausnahmesituationen bestens gewachsen.

Berger hatte in den vergangenen Jahren oft – dienstlich und privat – Paulsens Stressresistenz und Charakterstärke bemerkt. Körperlich und konditionell war der Mann nicht mehr ganz so gut drauf wie ein 20-Jähriger, aber er trainierte immer noch zweimal wöchentlich in einem Kampfsportverein Ju-Jutsu und konnte in seiner Altersklasse sogar Auszeichnungen auf Bundesebene vorweisen.

Um die Zeit des Wartens zu überbrücken, erzählte Paulsen, dass es in einigen SEK-Einheiten deutschlandweit viele Disziplinarverfahren gab. Hubschrauber wurden für Privatausflüge verwendet und Rekruten manchmal bei Aufnahmeritualen gequält.

Berger war stolz, dass es in Mecklenburg-Vorpommern bisher keine derartigen Vorkommnisse gegeben oder er es zumindest nicht mitbekommen hatte.

»Sag mal, hast du Knoblauch gegessen?«, fragte Paulsen seinen Chef.

»Ja, vor einer halben Stunde. Lea und ich hatten gerade zu Abend gegessen, als du mich gestört hast«, zog Berger Paulsen auf. »Ich hätte gern einen schönen Abend mit ihr verbracht. Aber wieder einmal macht mir der Job einen Strich durch die Rechnung.«

»So spät, und noch essen? Pass mal bisschen auf deinen Bauch auf!«, maßregelte Paulsen ihn schmunzelnd und schlug ihm mit der flachen Hand auf einen kleinen Bauchansatz. »So könntest du nie beim SEK anfangen. Die Ausrüstung wiegt über fünfzehn Kilogramm. Dann noch deine kleine Plauze!«

»Vorsichtig, mein Lieber! Ich hatte auch nicht mehr vor, beim SEK einzusteigen. Mit fünfundvierzig Lebensjahren ist bei denen eh Schluss«, lachte Berger. Er behielt beim Wortgefecht immer das Theater im Blick und hörte aufmerksam den Polizeifunk mit. Beide Männer waren froh, dass sie trotz immenser Anspannung niemals ihren Humor verloren.

»Schau mal, dort drüben!«, unterbrauch Paulsen seinen Kollegen und zeigte mit dem Finger in Richtung Theater. »Das Sprengstoffkommando rückt an.«

»Einen Bestattungswagen können sie auch schon anfordern. Wer weiß, was hier noch abgeht. Die Krankenhäuser sind alle in Bereitschaft. Wir haben hier fast fünfhundert Gäste. Da kommt einiges auf die Kliniken zu. Hoffentlich haben sie vorsorglich auch Polizeiseelsorger angefordert.«

»Jetzt kommen noch die Kollegen von der Hundestaffel«, erklärte Paulsen, als er den dunkelgrauen VW-Bus mit der geöffneten Dachluke erkannte.

»Ich verstehe nicht, warum die Sprengstoffsuchhunde erst jetzt kommen und in den Einsatz gehen. Bei so einer Gala mit der kompletten Landesregierung müssen die doch vorher durch das Theater laufen, so wie im Schloss, bevor die Landtagssitzungen beginnen. Da wird vorher alles akribisch durchforstet – der Plenarsaal, die Sitzungsräume, selbst alle Toiletten.« Berger schaltete die Zündung an, um mithilfe der Klimaanlage die Hitze im Auto herunterzuregulieren.

»Wer weiß, wer hier geschlafen und nicht an die Hunde gedacht hat?!«, mutmaßte Paulsen und trank einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die er einem Fach in der Beifahrertür entnommen hatte.

»Jetzt kommt auch noch ein Übertragungswagen vom NDR. Mal sehen, wo die sich hinstellen.« Berger schwitzte und war angespannt. Er überlegte, ob er Lea anrufen sollte, um ihr mitzuteilen, dass er sicher vorm Theater stünde und sie sich keine Sorgen machen müsste.

Der Sprecher der Polizeiinspektion Schwerin wies dem NDR einen Parkplatz neben dem ZDF-Fahrzeug zu und gab erste Informationen an einen wissbegierigen Reporter und Kameramann weiter.

Plötzlich war eine erneute Explosion zu hören. Berger und Paulsen schauten sich an und schluckten schwer. Keiner sagte ein Wort. Es lag nicht in ihrem Kompetenzbereich, einzuschreiten oder irgendetwas zu veranlassen. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Die Wartezeit im Dienstwagen machte beide zunehmend nervöser.

Es hatte begonnen: Blitzschnell stürmten die schwer bewaffneten SEK-Beamten mit durchsichtigen Schutzschilden in den Eingangsbereich des Theaters. Berger und Paulsen hielten für einen winzigen Moment die Luft an.