KATENKAMP UND DER TOTE BRIEFTRÄGER

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KATENKAMP UND DER TOTE BRIEFTRÄGER
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DETLEF WOLFF

KATENKAMP UND DER

TOTE BRIEFTRÄGER

Roman

Apex-Verlag

Impressum

Copyright © by Detlef Wolff/Apex-Verlag/Successor of Detlef Wolff.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.

Satz: Apex-Verlag.

Verlag: Apex-Verlag, Winthirstraße 11, 80639 München.

Verlags-Homepage: www.apex-verlag.de

E-Mail: webmaster@apex-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

KATENKAMP UND DER TOTE BRIEFTRÄGER

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Das Buch


Karsten Welowczyk alias Günther Viehland, Ex-Terrorist, möchte sein altes Leben gern hinter sich lassen, doch was er auch tut, es holt ihn immer wieder ein.

Heinrich Randulke möchte ein bisschen mehr als tagein, tagaus die Post zustellen, doch das kommt ihm teuer zu stehen.

Gernot Katenkamp möchte seinen ersten Fall als frischgebackener Kommissar bei der Hamburger Mordkommission unbedingt aufklären, doch wer erschießt schon einen Briefträger?

Polizist, Briefträger und Ex-Terrorist haben zumindest eines gemein: Die drei Herren kennen Uta Schlandorf – auf die eine oder andere Weise. Und wie immer, wenn eine schöne Frau mit Ambitionen im Spiel ist, gibt es Verwirrungen und Missverständnisse...

Katenkamp und der tote Briefträger von Detlef Wolff (* 30. Oktober 1934 in Thale; † 2004 in Bremen), ein moderner Klassiker der deutschen Kriminal-Literatur, erschien erstmals im Jahr 1982.

KATENKAMP UND

Erstes Kapitel

Scheiße! Wenn das nicht die ganz große Scheiße ist. Genau unter mir wohnt ein Bulle. Ein Kriminalkommissar. Seit fünf Minuten weiß ich es. Ich wohne über einem Bullen. Oder der Bulle unter mir. Na und? Worin besteht da der Unterschied? In achtundzwanzig Treppenstufen? Quatsch! Achtundzwanzig Stufen strategischen Vorteil gibt es nicht. Höchstens bei einer Schießerei. Da kann es wichtig sein, oben zu stehen. Aber ich will mich mit dem Bullen nicht schießen. Ich will mich mit keinem Menschen der Welt mehr schießen. Auch nicht mit Bullen. Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht. Meine letzte Waffe hab ich in Venedig in einen Kanal geschmissen. Addio. Addio, piccola Beretta. Ich hätte das Spielzeug behalten sollen, um mich umlegen zu können, wenn sie mir auf die Bude rücken. Es ist zum... Und ich wollte doch nur aussteigen. Einfach aussteigen.

Als ob das so einfach wäre. Sie lassen dich nicht. Die Genossen lassen dich nicht - und der Staat lässt dich auch nicht. Du kommst nie wieder raus, wenn du einmal drin warst in der Mühle. Du kannst nicht einfach untertauchen. Deine Vergangenheit verfolgt dich. Bis in den Tod? Klingt schön pathetisch. Hat’s aber schon gegeben.

Nicht nervös werden. Aber werd einer wie ich mal nicht nervös, wenn er feststellt, dass in der Wohnung unter ihm ein Bulle... Bleib du mal ruhig, wenn unter dir ein Bulle wohnt und dein Steckbrief überall rumhängt. Für die bin ich doch immer noch einer von den vierundzwanzig meistgesuchten Terroristen; der in der dritten Reihe, zweiter von links. Schön, das Poster ist fünf Jahre alt. Wir hatten es in unserer Wohnung in Paris an der Wand hängen, und keiner von unseren Besuchern hat gemerkt, dass zwei von uns da abgebildet sind. Naja, unsere Besucher, das waren ja auch keine Bullen. Genossen, meistens. Aber der Mann da unter mir müsste ein erkennungsdienstlicher Blindgänger sein, wenn er mich nicht früher oder später erkennt. Oder er hat mich schon erkannt: So wird es sein, ja. Nur aus taktischen Gründen nehmen die mich noch nicht fest. Die gehen davon aus, dass ich hier eine illegale Wohnung unterhalte, eine Anlaufstelle.

Die Idioten. Mich läuft niemand mehr an. Ich bin der Ex-Terrorist Günther Viehland und wohne hier als Karsten Welowczyk. Ich hab mir den Bart abnehmen lassen, eine scheißbürgerliche Frisur zugelegt und laufe schön linksgescheitelt rum. Ich besitze sogar einen Anzug. Den ersten seit meinem Konfirmationsanzug. Aber das genügt eben nicht. Du kannst jeden Morgen deine Schuhe putzen und dich mit dem Schlips rumquälen und brav in diese Scheißfirma traben. Es bringt gar nichts, wenn unter dir ein Bulle wohnt.

Haben die das denn nicht auch merken können? Ausgerechnet mir müssen sie diese Wohnung besorgen... Nein: Mir müssen sie ausgerechnet diese Wohnung besorgen. Es ist zum Verrücktwerden. Oder zum Totlachen. Oder zum Schießen. Aber schieß mal, wenn die Beretta im Kanal liegt.

Aber so war das immer bei uns. Und so ist es auch jetzt wieder. Es scheitert an Kleinigkeiten. Wie vor vier Jahren in Andorra. Da hätte es uns fast erwischt, weil Hoppe kein Französisch konnte. Marschiert in die Bank und brüllt den Kassierer auf Englisch an. Muss ein Aushilfskassierer gewesen sein, einer, der nur in der Mittagszeit mal hinter den Schalter darf. Dabei hatten wir uns gerade von der ruhigen Mittagszeit so viel versprochen. Schließlich soll nach Möglichkeit kein Blut fließen. Und dann ging alles schief. Ein Bankkassierer in Andorra hat doch Englisch zu verstehen. Der verstand nur Bahnhof. Jedenfalls kein Englisch. Drehte sich seelenruhig um und zuckte nur die Achseln, während Hoppe weiterhin auf Englisch nach Geld schrie. Das gibt es bloß in komischen Gangsterfilmen. Und ich stand da in meinem Trenchcoat, hatte in jeder Hand eine Pistole und sollte den Rückzug decken. Und bei Hoppe am Schalter tat sich nichts. Jedenfalls nichts mit Geld. Bis Hoppe hinter dem Bankmenschen her schoss, als der endlich einen Kollegen holen wollte. Wäre der Idiot doch bloß hinter seinem Panzerglas geblieben und hätte nur Bahnhof verstanden. So lagen da am Ende zwei Tote rum, nur weil Hoppe nicht auf Französisch... Sollte er auch nicht. Man sollte uns für Engländer oder Amerikaner halten. Primitiv. Aber es hätte klappen können. So gab es zwei Tote und kein Geld.

Die Toten hat Hoppe nach seiner Verhaftung mir in die Schuhe geschoben. Klar, ich war ja schon raus aus der Szene. Mich, den Verräter, konnte man für zwei Morde verantwortlich machen. Mich hatte man abschreiben müssen, also konnte man mir getrost noch das eine oder andere Ding anhängen. Die Bullen würden schon mitspielen; denen ist es egal, woher der Erfolgsnachweis kommt, wenn sie einen Fall als geklärt abhaken können.

Und nun wohne ich über einem Bullen.

Der Mann kam mir gleich verdächtig vor. Nein, nicht gleich. Erst als ich die Wagen Vorfahren sah. Einmal an einem Sonntag. Der Fahrer blieb am Steuer sitzen, und der Mann stieg vorn ein. Erst dachte ich, irgend so’n Manager. Aber in dieser Gegend wohnen keine Manager. Außerdem haben die größere Wagen und setzen sich auch nicht neben den Fahrer. Aber der Wagen gab den Ausschlag bei mir. Es bleibt was hängen, wenn man lange genug in der Szene war. Man ist geschult worden und hat außerdem einen sechsten Sinn entwickelt. Man ahnt, wo etwas nicht stimmen kann. Und an dem Wagen stimmte was nicht. Da war eine Spezialantenne dran, wie sie für Privatfahrzeuge gar nicht zugelassen ist. Der Mann war zumindest in ein Behördenfahrzeug gestiegen. Jetzt weiß ich sogar, dass es sich um eine Bullenkutsche handelte. Ob sie mich in der mal abtransportieren? Wahrscheinlich nicht. Für mich werden die die große Aktion starten. Die wissen zwar, dass ich mich vom harten Kern abgesetzt habe, aber das werden sie für ein taktisches Manöver halten. Die glauben nicht, dass einer aussteigen kann. Nicht, bevor er zwei Illustrierten ein Interview gegeben hat. Ich hätte die Interviews geben können. Ich wollte nicht. Ich wollte meine Ruhe haben.

 

Damit ist es nun vorbei. Man hat mir eine Wohnung direkt über einem Bullen besorgt. Bei dem Gedanken bleibt einer wie ich nicht ruhig. Dabei wohnen hier angeblich lauter harmlose Leute. Dass ich nicht lache. Aber mir ist nicht zum Lachen. Ich möchte mich lieber besaufen. So richtig volllaufen lassen und dann die achtundzwanzig Stufen runtertorkeln, bei dem an der Tür läuten und ihm zu dem Fahndungserfolg gratulieren, bevor ich ihm stinkbesoffen vor die Füße falle.

Ich saufe sowieso zu viel. Aber irgendwie muss man die Spannung abreagieren. Noch einen Korn? Klar. Das ist schon der neunte. Na und? Im Knast gibt’s keinen Schnaps mehr. Nicht da, wo man uns unterbringt. Schnaps im Hochsicherheitstrakt? Das schafft keiner, den da reinzuschmuggeln, und im Hochsicherheitstrakt sitzen die alten Genossen. Die warten nur auf mich. Ich bin der Verräter. Ich bin der Aussteiger. Nein, ich habe keinen verraten. Aber Aussteigen ist bereits Verrat. Wer dem Verein den Rücken kehrt, den darf man in den Rücken schießen. Ich weiß. Und sie werden es tun. Verräter muss man liquidieren. Das war lange genug auch meine Ansicht. Gibt es dazu nicht einen Spruch vom alten Genossen Mao? Prost, Mao. Du hattest für jede Situation den richtigen Spruch drauf. Ich weiß genau, wo es steht, was du über Verräter gesagt hast. Ich kann den Wortlaut momentan nur nicht nachschlagen. Ich bin ja ausgestiegen. Ich bin abgetaucht. Ich lebe im doppelten Untergrund. Die Genossen dürfen mich nicht aufspüren, weil sie mich sonst umlegen. Und die Bullen dürfen mich auch nicht kriegen. Möglicherweise legen die mich auch gleich um. Denen sind tote Terroristen die liebsten Terroristen. Wenn sie es nicht schaffen, mich bei der Festnahme zu erledigen, sperren sie mich früher oder später zu den ehemaligen Genossen, und dann bin ich fällig. Man steigt nicht ungestraft aus. Prost, Mao. Na, dich hamse ja auch weitgehend abgesägt inzwischen.

Deine kleine rote Bibel hätte ich vielleicht behalten sollen. Mao-Bibeln sind unverdächtig. Aber ich bin ja so scheißbürgerlich geworden, dass es mich schon wieder ankotzt. Ich wollte total aussteigen. Es geht nicht. Man kann seine Vergangenheit nicht auf den Müll werfen. Die Vergangenheit holt einen ein. Der Bulle unter mir beweist es.

Alles falsch.

Die Freunde haben mich nicht zufällig über einem Bullen einquartiert. Die Fahndung hat unter mir einen Bullen einquartiert. Ich bin für die ein Langzeitprojekt. Sie beobachten mich schon seit Monaten. Die halten mein Aussteigen für Tarnung. Die denken, ich unterhalte hier eine Anlaufstation für die aktiven Genossen... Ich nicht.

Ich wollte total abtauchen. Ich, Günther Viehland, Gründungsmitglied der Aktionsgruppe Absoluter Anarchismus (AAA), wollte meine Ruhe haben. Aber das können die ja nicht wissen. Die können nicht wissen, dass ich nicht mehr will. Ich will kein Aushängeschild mehr sein. Das war ich zu Anfang. Der Sohn von Magnifizenz Prof. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. h. c., Mitglied wissenschaftlicher Akademien des In- und Auslandes, macht bei der AAA mit. Alles falsch.

Der alte Herr war in Ordnung. Für den ging nicht mal die Welt unter, als wir in sein schönes Rektorat stürmten und unser Sit-in veranstalteten. Der suchte schon lange einen Vorwand, um den Posten des Rektors der Uni an den Nagel hängen zu können. Der fühlte sich im weißen Laborkittel wohler als im feierlichen Ornat. Der hat mich sogar verstanden und unsere ganzen Aktionen für eine Art Hambacher Fest gehalten - Burschen heraus! Die Eskalationen hat er dann nicht mehr erlebt... Schade. Mit ihm könnte ich jetzt vielleicht reden. Er billigte jedem Menschen das Recht auf Irrtum zu... Das will ich jetzt in Anspruch nehmen.

Ich will nicht mehr die Revolution predigen und ihre Sache mit Feuer und Schwert und Kalaschnikow verbreiten. Ich bin nicht mehr der Missionar dessen, was ich mal für politisches Heil gehalten habe. Ende der Durchsage.

Weg mit der Flasche. Schluss für heute. Ich muss mich zusammenreißen. Unter mir wohnt ein Bulle. Das kann Zufall sein. Aber in meiner Lage ist es besser, nicht an den Zufall zu glauben. Mao, was sagst du über den Zufall? Jetzt fehlt mir wieder dein kleines rotes Buch... Als ob es verdächtig wäre, wenn es da drüben zwischen den Büchern stünde. Was steht da? Klassiker und Unverdächtiges aus dem Lesering. Sogar der Lyrische Hausschatz der Deutschen fehlt nicht. Danke, liebe Freunde. So stellt ihr euch eben ein bürgerliches Bücherregal vor. Ihr wolltet mir die perfekte Fassade verpassen. Als ob die Mao-Bibel da nicht hineinpassen würde. Die ist doch nicht nur von uns gelesen worden.

Nein, Freunde - die Fassade wirkt ein bisschen zu echt. Auch Perfektion kann verdächtig sein. Ein bisschen Literatur aus der anderen Ecke dürfte da ruhig stehen. Dergleichen findet sich doch heute in jedem Haushalt... Aber ihr wolltet mir ja nicht mal ein Paar Jeans erlauben. Als ob der Lagerist einer Arzneimittelgroßhandlung keine Jeans trägt.

Doch, Freunde, ihr habt wirklich an alles gedacht. Sogar an ein Abonnement der Tageszeitung auf den Namen Karsten Welowczyk. Ein schöner Name. Wer untertauchen will, entscheidet sich eher für Müller, Meier oder Schulze. So verdächtig einfach wolltet ihr es nicht. Recht so. Einfache Namen tippt man bei jeder Passkontrolle eben mal in den Computer. Welowczyk weist genau den richtigen Grad an Kompliziertheit auf, um nicht ständig durch den Computer gejagt zu werden. Außerdem liegt unter dem Namen Karsten Welowczyk nichts vor. Auch das habt ihr überprüfen können. Wäre auch eine böse Panne gewesen, mir den falschen Namen zu verpassen. Einen, der in den Fahndungsakten steht - und sei es wegen Fahrerflucht. Doch, Freunde, ihr habt wirklich an alles gedacht.

Nur an den Bullen da unten habt ihr nicht gedacht.

Da musste ich selber drauf kommen. Durch das Behördenfahrzeug bin ich misstrauisch geworden. Das Misstrauen sitzt bei uns nun mal drin. Einen vom Wasserwerk, hab ich mir gesagt, holen sie nicht nachts aus dem Bett. Einer von einer normalen Behörde hat regelmäßige Dienstzeiten... Der da unten nicht. Und das fiel mir auf. Meine Instinkte sind noch in Ordnung. Noch. Solange ich nicht noch mehr saufe. Ich reagiere damit auf die Angst. Besonders am Wochenende.

Aber heute habe ich gehandelt.

Als ich an dem Briefkasten vorbei kam, habe ich gehandelt. Der weiße Umschlag schaute etwa einen Zentimeter aus dem Briefkastenschlitz heraus. Weit genug, um ihn mit spitzen Fingern fassen und herausziehen zu können. Ich habe ihn herausgezogen. Adressiert an Herrn Kriminalkommissar Gernot Katenkamp. Kein Absender... Was kümmert mich der Absender. Für mich ist nur der Empfänger interessant. Eine etwas ungelenke Handschrift. Erstaunlich ungelenk. Wirkte wie verstellt.

Trotzdem sitze ich in der Falle. Gar keine Frage; die haben den auf mich angesetzt. Der Brief war ein Regiefehler.

An der Wohnungstür steht nur G. & E. K. Nicht Kriminalkommissar und auch nicht Katenkamp, geschweige denn Gernot.

Überhaupt, Katenkamp. Und dann auch noch Gernot... Das sieht denen vom Bundeskriminalamt ähnlich. Wenn die anfangen zu denken, dann kommt was Apartes bei raus. Als die uns damals nach der Aktion in Frankfurt gejagt haben, lief die Großfahndung unter dem Decknamen Butterblume. Dünnholz ist damals dabei draufgegangen. Auch in einer konspirativen Wohnung. Lebe ich in einer konspirativen Wohnung? Im Gegenteil. Ist auch egal. Jedenfalls machte Dünnholz die Tür auf, und dann ballerten sie auch schon los. Dabei wussten die genau, dass er unbewaffnet war. Die Wohnung zehn Wochen lang beobachten und dann trotzdem voll draufhalten. Schweine.

Wer weiß, wie lange sie mich schon beobachten.

Aber mich besucht niemand. Das ist so ausgemacht. Ich will durch nichts auffallen. Ich darf nicht auffallen. Sogar das Radio stell ich leise. Es soll sich niemand über mich beschweren. Es kann an Kleinigkeiten liegen, dass sie auf mich aufmerksam werden, auf den

Lageristen Karsten Welowczyk... Eigentlich ist die Wohnung für einen Lageristen schon zu teuer. Aber ich arbeite in einer Arzneimittelgroßhandlung, und die bezahlen den ehemaligen Pharmaziestudenten nicht schlecht. Aber auch nicht so gut.

Was soll’s. Auf meiner polizeilichen Anmeldung steht als Beruf (Angestellten. Das kann alles sein... Nun nicht mehr. Wenn die mich beobachten, dann wissen sie auch, wo ich arbeite. Dann wissen sie auch, dass sich ein Lagerist bei Dose & Wienhöft die Wohnung eigentlich nicht leisten kann. Lagerist - eine ziemlich stupide Arbeit. Der Job sollte ein Übergang sein, um mich wieder in das bürgerliche Leben einzuschleusen... Alles vorbei. Sie haben mich. Es ist nur die Frage, wann sie zuschlagen. Spätestens dann, wenn sie merken, dass zwischen mir und den Genossen keine Verbindung mehr besteht.

Seit vier Monaten weiß ich nicht mehr, was die Genossen machen. Hoffentlich wissen sie auch nicht, was ich mache. Sie würden mich umlegen. Ich weiß, dass sie es beschlossen haben. Konsequenterweise ganz automatisch beschlossen haben müssen. Es darf keiner aussteigen. Aussteiger verraten nicht nur die Sache der Revolution, sie verraten auch Tatsachen. Wie Koppel, der jetzt in jedem Prozess seinen großen Auftritt als Zeuge hat und auspackt. Ein Toter ohne Bewährungsfrist. Irgendwann erwischen sie ihn. Das Bundeskriminalamt kann ihn nicht ewig bewachen. Irgendwann hat er als Zeuge ausgedient, und dann lassen sie ihn fallen. Sie werden versuchen, ihm eine neue Identität zu verschaffen. Bestimmt gelingt es auch denen nicht, einem Mann zu einer neuen Identität zu verhelfen.

Ich habe es auf eigene Faust versucht und bin gescheitert. Ich hätte Koppels Rolle spielen können. Ich wollte nicht. Schließlich hab ich an die Sache geglaubt, ich, der Sprengstoffexperte der AAA... Mir ist der Glaube an die Revolution abhandengekommen, wie einem Priester der Glaube an die leibliche Himmelfahrt der Jungfrau Maria abhandenkommt. Zurück bleibt die große Leere.

Ich weiß nicht, ob sie sich irgendwann wieder auffüllt. Wahrscheinlich gibt es den Weg zurück gar nicht. Man bleibt im Niemandsland zwischen den Welten hängen. Alle Wertvorstellungen sind zerstört. Man glaubt nicht mehr an die Revolution, aber man glaubt auch nicht mehr an die sogenannte bürgerliche Ordnung. Man weiß sogar, dass sie zerstört werden muss, aber man will sich dabei die Hände nicht schmutzig machen... Weil man weiß, dass die Revolution das Maß der Ungerechtigkeit nicht verringert. Weil man selbst ein Scheißbourgeois ist, tief drinnen.

Ich habe lange gebraucht, um das zu erkennen. Macht kaputt, was euch kaputt macht - das konnte ich noch unterschreiben. Gewalt gegen Sachen, keine Gewalt gegen Menschen - hinter der Parole konnte ich noch stehen. Ich habe damals den Sprengsatz in das Nürnberger Warenhaus geschmuggelt. In den Augen der Genossen eine Heldentat. Eine unserer ersten. Tatsächlich war es ein Kinderspiel. Jeder Kunde will einen Koffer vor dem Kauf auch von innen sehen. Ich habe den braunen Lederkoffer geöffnet und den Sprengsatz darin deponiert. Es war kurz vor Geschäftsschluss, und wir wussten, dass sich zum Zeitpunkt der Detonation niemand mehr in dem Warenhaus befinden würde.

Dann kam unsere erste Entführung. Schön, dabei musste ich nur die Kreuzung blockieren, damit die Genossen den Bankmenschen ungestört abtransportieren konnten. Gut, ich habe die Kreuzung blockiert. Nur anders als geplant. Viel besser. Ich war viel zu nervös, um den Unfall planmäßig herbeizuführen. An der Ampel hab ich vor lauter Aufregung den Motor abgewürgt. Der hinter mir konnte noch bremsen, aber sein Hintermann ist auf ihn aufgefahren. Deshalb war ich bei dem ganzen Unfall sofort aus dem Schneider. Die falschen Papiere hätte ich gar nicht nötig gehabt. Damals hieß ich Günther Eckesheim, und der Wagen war auch auf diesen Namen zugelassen.

Später hielten wir uns mit solchen Feinheiten nicht mehr auf. Da wurde nicht mehr entführt, sondern gleich hingerichtet. Die Entführung hat wenig gebracht. Man ist auf unsere Forderungen nicht eingegangen. Die beiden Genossen blieben in Haft. Zwei Genossen. Wie viele sitzen heute? Hoffentlich weiß es wenigstens die Bundesanwaltschaft. Ich habe den Überblick verloren. Emma und Günther sitzen immer noch. Wenn sie Glück haben, überleben sie die fünfzehn Jahre Knast.

Billiger käme ich auch nicht davon. Den Mord an dem CDU-Abgeordneten können sie mir nicht anhängen. Dafür sitzt Werner schon. Er hat alles auf seine Kappe genommen, um uns zu schützen. Bei dem Prozess ging man zwar davon aus, dass es mindestens einen Mittäter gab, nur konnten sie es nicht beweisen. Es gab einen Mittäter. Mich. Zwar habe ich nicht geschossen, doch wenn Werner erfährt, dass ich ausgestiegen bin, dann packt er aus. Er müsste es eigentlich schon wissen. Die Verbindung zu unseren Leuten im

 

Knast reißt nicht ab. Sobald ich auch drin bin, werden die inhaftierten Genossen gegen mich aussagen. Dann machen sie mich auch für den Fall Wendel-Forgach verantwortlich. Wendel-Forgach war bei zwei Verfahren gegen unsere Leute der Anklagevertreter. Als er mit seinem Wagen in die Luft flog, spielte die Justiz verrückt. Sie konnten es sich nicht bieten lassen, dass wir anfingen, den Apparat lahmzulegen. Kann man mir die Sache Wendel-Forgach anhängen? Man kann. Ich habe den Zünder für die Bombe gebastelt.

Seit Wendel-Forgach begann eigentlich der Terror. Damals fing ich an, zu begreifen, dass wir gar nichts bewirkten. Mit Terroraktionen lässt sich die Verbindung zu den Massen nicht herstellen. Uns fehlt die Verbindung zur Basis. Niemand außer uns will die Revolution. Die Massen nörgeln nur an einem Staat herum, mit dem sie grundsätzlich einverstanden sind. Aus der Illegalität heraus lassen sich die Massen nicht aufrütteln. Durch Morde lassen sie sich nicht zum Nachdenken bewegen. Sie fangen nur an, nach dem starken Mann zu rufen. Unsere Bewegung leitet nur Wasser auf die Mühlen der Ultrakonservativen. Einige von uns erkannten das. Marianne zum Beispiel. Leider sprach sie den Gedanken auch aus. Wenig später flog sie in einem syrischen Ausbildungslager mit einer Handgranate in die Luft. Ich glaube nicht an einen Unfall. Marianne wusste, was eine Handgranate ist, und sie konnte damit umgehen.

Kurz darauf sollte ich nach Syrien. Zu einer Sonderschulung. Es ging um Minen. Vor einem Staatsbesuch sollte der Platz an einem Ehrenmal für die Opfer des Krieges vermint werden. Man wollte zwei Staatschefs und eine halbe Regierungsmannschaft in die Luft fliegen lassen. Ich muss man sagen, denn da hatte ich mich innerlich bereits von der AAA abgesetzt. Nach Mariannes Unfall wollte ich auch nicht mehr nach Syrien. Aus Angst. Ich wusste nicht, ob die Genossen bereits misstrauisch geworden waren. Vielleicht. Ich wusste nur, dass wir auf dem falschen Weg waren. Es gab bei uns keinen, mit dem ich darüber reden konnte. Ich musste handeln, ohne mich absichern zu können. Ich konnte vor meinem Absprung kein Auffangnetz spannen. Ich hätte mich zwar der Polizei stellen können. Aber den Knast betrachte ich nicht als Auffangnetz. Es blieb mir nur die Möglichkeit, in Paris in die falsche Maschine zu steigen.

Als ob das so einfach gewesen wäre. Die Tante am Flughafenschalter wollte mein Ticket nicht umschreiben. Später war ich ihr dankbar. Wer einen Flug nach Damaskus umbucht, fällt auf. Also bin ich bei der Zwischenlandung in Rom einfach von Bord gegangen. In Rom kann man leicht für ein paar Tage untertauchen. In Rom wimmelt es von Touristen. Eine Woche war ich in Rom. Ich bin sogar zur Beichte gegangen und habe mir die Absolution für meine Teilnahme an allen unseren Aktionen geholt. Ich empfand die Beichte nicht als Blasphemie. Schließlich habe ich wirklich bereut. Mein katholisches Erbteil. Man kommt von seiner Erziehung nicht los. Man kommt auch von seiner Vergangenheit nicht los. Sie wird mich verfolgen, wie mich die Genossen und die Bullen verfolgen.

Vielleicht sollte ich doch in den Knast gehen. Sollte die fünfzehn Jahre hinnehmen. In fünfzehn Jahren ist die AAA tot. Sie steht jetzt schon ohne Nachwuchs da. Aber in fünfzehn Jahren bin ich dreiundvierzig. Vorausgesetzt, ich stelle mich sofort. Kriegen sie mich in fünf Jahren, bin ich bei der Entlassung aus dem Knast achtundvierzig. Zu alt, um noch einmal anfangen zu können. Fünfzehnjahre Knast geben einem den Rest, falls die Genossen nicht einen Weg finden, mich im Knast fertigzumachen. Ihre Strafe heißt Tod. Aber ich will leben. Das ist mir klar geworden, als ich den Umschlag in der Hand hielt und die Adresse las. Das Maß der Angst ist der Gradmesser für den Lebenswillen. Nein, dieser Kriminalkommissar Gernot Katenkamp soll mich nicht kriegen.

Ich kann nicht mehr klar denken. Der Schnaps. Ich muss hier raus. Ich weiß, dass der Bulle unter mir weg ist. Der eine Bulle. Dafür sitzt jetzt garantiert ein anderer in der Wohnung. Die lösen sich ab. Die Frau gehört auch zu denen. Und das Kind haben sie zur Tarnung in die Wohnung gesteckt. Sie beobachten mich rund um die Uhr. Die Ablösung haben sie in die Nachtstunden verlegt. Deshalb habe ich den Mann zweimal in den Wagen steigen sehen. Die denken, ich schlafe nachts. Oder sie denken, nachts finden keine konspirativen Treffs statt... Ach, was weiß denn ich, was die denken. Wahrscheinlich gar nichts. Die haben den Auftrag, mich zu beobachten. Vielleicht wissen die nicht mal, wer ich bin. Das sind untere Chargen, denen sagt man nichts. Die schlagen auch nicht zu, solange sie keinen Befehl erhalten. Die da unten nicht. Nicht dieser Kriminalkommissar Katenkamp.

Ob sie auf der Straße auch Leute postiert haben? Ich muss versuchen, das festzustellen. Also die Gardine nicht bewegen. Unsinn. Man muss immer versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Ich werde die Fenster putzen. Es ist die beste Tarnung, wenn man eine Straße beobachten will. Ich ziehe jetzt einfach die Gardine auf.

Es sind kaum Menschen auf der Straße. Aber diese Straße ist nie sehr belebt. Auch an einem Sonnabendvormittag »nicht. Drüben schiebt eine Frau einen Kinderwagen vorüber. Zwei Frauen tragen Einkaufstaschen nach Hause. Ein Liebespaar küsst sich flüchtig und geht dann weiter. Jetzt ist die Straße für einen Moment sogar ganz leer. Der Postbote kommt aus einem Hauseingang. Er hat vorhin den Brief an diesen Kriminalkommissar in den Kasten geworfen und bedient nun die gegenüberliegende Straßenseite. Manchmal hat er auch was für mich. Immer nur Prospekte. Ich bestelle sie bei allen möglichen Firmen. Wer nie Post bekommt, macht sich verdächtig.

In dem Hauseingang schräg gegenüber treiben sich zwei Männer herum. Ob das meine Bewacher sind? Ich präge mir die Männer genau ein. Beide sind jung. Eigentlich zu jung für die Polizei. Der eine trägt eine großkarierte Jacke. Die langen blonden Haare hat er im Nacken zusammengebunden. Es sieht aus wie ein Zopf. Der andere ist größer und sehr schlank. Er hat Jeans an und ein kragenloses Hemd. Beide halten Lederbeutel in den Händen. Sprechfunkgeräte? Die Tarnung ist auf den ersten Blick nicht schlecht. Nur die langen blonden Haare sollten nicht sein. So läuft heute kaum noch jemand rum.

Jetzt biegt der Postbote in den Hauseingang ein. Die beiden reden mit dem Briefträger. Sie sind nah an ihn herangetreten. Vielleicht wollen sie wissen, ob ich Post bekommen habe und von wem... Nein, so funktioniert das nicht. Die weihen keinen Postboten ein. Meine Post wird früher kontrolliert.

Der Postbote reagiert unwillig auf die beiden. Er stößt sie zurück und geht an ihnen vorbei in das Haus hinein. Ich kann jetzt nur noch seine Beine sehen. Die beiden ziehen Pistolen aus den Beuteln. Sie heben die Waffen in Brusthöhe und schießen gleichzeitig. Man hört fast nichts. Schalldämpfer. Die Beine des Postboten knicken weg. Der mit dem kragenlosen Hemd reißt ihm die Tasche mit den Briefen von der Schulter und schüttet ihren Inhalt in den Hauseingang. Die beiden bücken sich, durchsuchen hastig das kleine Häufchen Briefe. Dann hebt der Lange einen bräunlichen Geschäftsumschlag auf. Beide werfen einen Blick darauf, dann steckt der Karierte den Umschlag in die Tasche und schlendert auf die Straße und nach links davon. Der Lange entfernt sich mit strammen Schritten nach rechts.

Ich habe bei einem Mord zugesehen.

Das Ganze hat knapp eine Minute gedauert. Profiarbeit? Kaum. Zuviel Risiko.

Und ausgerechnet hier muss es passieren - ein ausgewachsener Kriminalkommissar in der Wohnung unter mir reicht wohl nicht. In einer halben Stunde wimmelt’s hier von Bullen, die an allen Türen klingeln: »Haben Sie etwas beobachtet?«

Scheißspiel. Und ausgerechnet am Sonnabend. Werktags bin ich um diese Zeit in der Firma.