Geschichten - erzählt für dich

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Geschichten - erzählt für dich
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Diese Geschichten sind in diesem Buch enthalten

Impressum 2

Widmung 3

Zehn kleine Hoffnungen 4

Kann der Himmel weinen? Schön, dich zu sehen! 47

(Große) Kinder erzählen ihre Geschichten 51

Melanie Moos 70

Sendero Luminoso 107

Ein Tag in der Schule 121

Daniel und Andrea 131

Ein Amerikaner in Deutschland 144

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-816-6

ISBN e-book: 978-3-99107-817-3

Lektorat: Lucas Drebenstedt

Umschlagfoto: Dannyphoto80, Suryadi Djasman Kartodiwiryo, Vadym Nechyporenko, Sopan Hadi, Tigatelu | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: www.pixabay.com

www.novumverlag.com

Widmung

***

Dieses Buch ist für dich gedacht. Mit mehreren kleinen Geschichten. Wenn du gerne am Abend liest, mache es dir gemütlich und lese.

Am besten liest du die Geschichte, die du liest, bis zu ihrem Ende. Denn alle Geschichten waren ursprünglich „Gute-Nacht-Geschichten“. Meinen Kindern habe ich früher diese und weitere Geschichten erzählt. Sie sollten anschließend noch gut schlafen können, was auch immer die Geschichte beinhaltete.

Ihre Lehrerinnen und Lehrer wurden darauf aufmerksam und fragten neugierig nach – und sie baten mich, diese Geschichten aufzuschreiben.

Zehn kleine Hoffnungen

Endlich klingelte es in der kleinen Schule zur Pause. Ramon stand auf, um auf den Hof zu gehen, als der etwas kleinere Paul an ihm vorbeieilte und dabei fröhlich sang.

„Zehn kleine Negerlein, die …“ war eines von Pauls Lieblingsliedern, welches er heute ein ums andere Mal sang. Auch auf dem Schulhof sang er dieses Lied immer weiter, bis auf einmal Lilly, ein Mädchen aus der parallelen Klasse, ihm einen kräftigen Stoß versetzte, so dass Paul stürzte. Sofort fingen sein Knie und sein Ellbogen an zu bluten. Ramon sah sich um. Doch Lilly war verschwunden. Er lief sofort zu der Lehrerin, die Aufsicht führte, doch bekam erst kein Wort heraus, bis es aus ihm herausplatzte: „Paul liegt da und blutet!“

Frau Schreiner, die Lehrerin, ging sofort mit ihm zu Paul und sah, wie der Junge aus mehreren Wunden heraus noch immer blutete. Sie rief sofort den Schulsanitäter, der den Krankenwagen alarmierte.

Als sie sah, dass Paul Hilfe bekam, wandte sie sich Ramon zu: „Sag mal, was ist denn geschehen?“

Ramon schluckte. Tränen schossen ihm ins Gesicht. Auch wenn Paul ein kleiner Wirbelwind war, er war sein Freund.

„Paul hat hier gespielt und gesungen, dann kam Lilly und hat ihn gestoßen!“

Frau Schreiner, die auch seine Klassenlehrerin war, sah sich um, fand Lilly aber nicht. Doch dann nahm sie Ramon mit und suchte eine Ecke in der Nähe der Müllcontainer auf, wo Lilly saß und schuldbewusst wegsah, als beide kamen.

„Lilly?“, fragte Frau Schreiner vorsichtig, innerlich auf dem Sprung, ein weglaufendes Mädchen an der Flucht zu hindern. Lilly hingegen sah sie mit verweintem Gesicht an. Erschrocken setzten sich beide zu ihr.

„Lilly, warum hast du Paul denn so schwer verletzt?“, fragte Frau Schreiner schließlich, „er ist jetzt sogar auf dem Weg ins Krankenhaus!“

Lilly sah sie jetzt erschrocken an … „Ich habe ihn doch nur gestoßen, und er ist hingefallen!“

„Warum hast du das getan?“

„Ich wollte doch nur … der hat immer ‚Zehn kleine Negerlein‘ gesungen!“

Frau Schreiner verstand nicht so ganz: „Hat dich das Singen denn so genervt?“

„Nein“, Lilly wurde noch weinerlicher, „Mama sagt immer, ich darf das nicht singen, das singen nur böse Menschen!“

„Aber“, Ramon wunderte sich, „Paul ist doch nicht böse, dem macht das Singen Spaß!“

Die Schelle klingelte wieder und rief so zur nächsten Schulstunde.

„Lilly“, begann Frau Schreiner, „komm doch jetzt mit in Ramons Klasse, da habe ich Unterricht. Dann erzähle ich euch mal eine Geschichte über dieses Lied. Aber sag mal, warum denkt deine Mama denn so? Weißt du das?“

„Mama sagt, ‚Neger‘ ist ein Schimpfwort …“

„Aber Lilly, das ist doch ein Kinderlied. Glaubst du, erwachsene Liedermacher schreiben böse Schimpfworte in ein Kinderlied?“

Hilflos sah Lilly zu ihr, dann zu Ramon, dann wieder zu ihr.

„Ich weiß es nicht …“, stammelte sie.

„Lilly“, erklärte Frau Schreiner, „habe keine Angst, die Schule wird dich nicht bestrafen, aber ich will, dass deine ganze Familie zum nächsten Elternabend kommt, auch du und deine Geschwister. Und das, was ich mit euch gleich im Unterricht mache, werde ich mit allen Eltern machen, das verspreche ich dir.“

„Und Paul?“, fragte Ramon, aber Frau Schreiner drängte beide jetzt in den Unterricht, nicht, ohne Lilly bei ihrem Lehrer abzumelden.

Zehn kleine Negerlein

Zehn kleine Negerlein,

die krochen mal auf die Scheun’,

da ist das eine runtergefall’n,

da waren’s nur noch neun.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Neun kleine Negerlein,

die gingen auf die Jagd,

das eine wurde totgeschossen,

da waren’s nur noch acht.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Acht kleine Negerlein,

die gingen in die Rüb’n,

da ist das eine steckengeblieben,

da waren’s nur noch sieb’n.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Sieben kleine Negerlein,

die gingen mal zu ’ner Hex’,

das eine wurde aufgefressen,

da waren’s nur noch sechs.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Sechs kleine Negerlein,

die liefen mal ohne Strümpf,

das eine hat sich totgefror’n,

da waren’s nur noch fünf.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Fünf kleine Negerlein,

die gingen mal zum Bier,

das eine hat zu viel getrunken,

da waren’s nur noch vier.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Vier kleine Negerlein,

die kochten heißen Brei,

das eine hat zu heiß gegessen,

da waren’s nur noch drei.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Drei kleine Negerlein,

die aßen ein hartes Ei,

das eine hat zuviel gegessen,

da waren’s nur noch zwei.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Zwei kleine Negerlein,

die fingen an zu weinen,

der eine hat sich totgeweint,

da gab es nur noch einen.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

Ein kleines Negerlein,

das fuhr mal in der Kutsch,

da ist es unten durchgerutscht,

da war’n sie alle futsch.

Ein klein’, zwei klein’, drei klein’,

vier klein’, fünf klein’ Negerlein,

sechs klein’, sieben klein’, acht klein’,

neun klein’, zehn klein’ Negerlein.

(Es existieren mehrere deutsche Versionen!)

Ten little Indians

One little, two little, three little Indians,

 

four little, five little, six little Indians,

seven little, eight little, nine little Indians,

ten little Indian boys.

Ten little, nine little, eight little Indians,

seven little, six little, five little Indians,

four little, three little, two little Indians,

one little Indian boy.

Ten little Indians standin’ in a line, one toddled home and then there were nine.

Nine little Indians swingin’ on a gate, one tumbled off and then there were eight.

Eight little Indians gayest under heav’n. One went to sleep and then there were seven;

Seven little Indians cuttin’ up their tricks, one broke his neck and then there were six.

Six little Indians all alive, one kicked the bucket and then there were five;

Five little Indians on a cellar door, one tumbled in and then there were four.

Four little Indians up on a spree, one got fuddled and then there were three;

Three little Indians out on a canoe, one tumbled overboard and then there were two.

Two little Indians foolin’ with a gun, one shot t’other and then there was one;

One little Indian livin’ all alone, he got married and then there were none.

„Hallo, guten Morgen“, begrüßte Frau Schreiner ihre Klasse. Die Klasse antwortete ihr auf gewohnte Weise. Doch als die Kinder sich wieder setzen wollten, bat die Lehrerin die Kinder, stehenzubleiben.

„Wisst ihr, heute lernen wir nochmal zählen und rechnen neu … wisst ihr noch, wie das Lied ging: ‚Zehn kleine Negerlein‘?“

Die Klasse wusste Bescheid. Sie stimmten mit Frau Schreiner zusammen das Lied an und in dem Rhythmus des Liedes fingen sie wechselweise an zu laufen, zu springen, zu tanzen, stillzustehen. Jede einzelne Bewegungsart kam zweimal vor.

„Hört mal, anders als früher lernt ihr doch auch schon Englisch hier in der Grundschule. Wer kann auf Englisch zählen?“

Als sich keiner traute, fragte Frau Schreiner Lilly. Das Mädchen fing, noch etwas verweint, an: „One, two, three, four …“

„Danke, Lilly, ich zeige euch mal ein Lied, da könnt ihr auch auf Englisch zählen … ich kenn ein Lied mit ’nem schönen Chor …“

„Sing es uns bitte einmal vor!“, antwortete die Klasse singend.

Frau Schreiner setzte sich an ein Klavier, das im Raum stand, und sang:

„One little, two little, three little Indians, four little, five little, six little Indians, Seven little, eight little, nine little Indians, ten little Indian boys.

Ten little, nine little, eight little Indians, seven little, six little, five little Indians, four little, three little, two little Indians, one little Indian boy.“

Sofort fing die Klasse an, mitzusingen, als sie das Lied wieder anstimmte. Immer wieder wiederholten sie nur den Refrain. Frau Schreiner stand zwischendurch auf und klatschte mit den Händen. Die Kinder machten sofort mit. Sie hüpfte, die Kinder machten es ihr nach. Dann bat sie die Kinder, sich wieder hinzusetzen.

„Wisst ihr, dieses Lied ist noch älter als unser deutsches Lied ‚Zehn kleine Negerlein‘. Das kommt aus Amerika. Wer zeigt mir auf der großen Karte Amerika?“

Juan meldete sich und kam zur Karte, die an der Seite stand. Lange brauchte er nicht zu suchen und zeigte auf ein großes Land.

„Juan, zeig uns doch nochmal, wo du geboren bist!“

Juan lachte, das musste er jedes Mal, wenn er an der Karte stand. Mexiko war ja auch nicht so weit weg von der „USA“.

Frau Schreiner bat Juan, sein Geburtsjahr auf die Tafel zu schreiben, und daneben schrieb sie die Zahl 1827.

„So, jeder von euch rechnet jetzt mal schriftlich aus, wie viele Jahre bis heute vergangen sind!“ Und nach kurzer Zeit: „Ramon, was hast du ausgerechnet?“

„194 Jahre“, las er vor, und als Frau Schreiner nickte, klatschte die ganze Klasse.

„In dem Jahr wurde Septimus Winner geboren, der dieses amerikanische Kinderlied schrieb. Das machte er 1868, in welchem Alter also?“

Wieder war Rechnen angesagt. Diesmal fragte sie Lilly, die erklärte: „57 …“

„Wer hat ein anderes Ergebnis?“, fragte sie. Ramon meldete sich.

„Nein, Ramon, das weiß ich, dass du das weißt. Ich frage mal Kai.“

„51 Jahre!“ Und wieder klatschte nach der Zustimmung die ganze Klasse.

51

Die Klasse wurde ruhiger, und Frau Schreiner fing an, eine Geschichte zu erzählen.

„Hört mal, Amerika, das ist ja ähnlich wie in Deutschland ein Land, das aus vielen Bundesländern besteht. In den ‚Vereinigten Staaten von Amerika‘, so heißt das Land eigentlich, sind das Bundesstaaten. Manche Staaten dort haben viele Städte. Andere Staaten bestehen dort aus Landschaften. Aber die sehen natürlich im Süden anders aus als bei uns, da ist es sehr viel wärmer als bei uns.

Im Süden, da hat man viele Felder, auf denen Bauern arbeiten. Die bauen Getreide an, Gemüse und andere Nahrungsmittel. Aber was glaubt ihr denn, machen die alles alleine?“

Rebecca meldete sich: „Nein, die bezahlen Menschen, damit die alles ernten!“

„Ja, das stimmt“, erklärte Frau Schreiner, „viele haben sich dort von den Ureinwohnern helfen lassen, von denen viele schwarze Haut haben: also Neger. Mit Negern bezeichnen wir Menschen mit schwarzer Haut. Die haben unsere Arbeit getan, viele haben allerdings nicht richtig Geld damit verdient. Viele Weiße, also Menschen wie wir, haben sie als Sklaven gehalten. Wenn die nicht schnell genug waren, wurden sie getreten und bespuckt, misshandelt und geschlagen.“

Die Betroffenheit in der Klasse war groß. Lilly saß dabei und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Ihr war ziemlich unbehaglich.

„Wisst ihr, schon damals fanden das viele nicht in Ordnung, und deshalb führten Bundesstaaten, die mehr aus Städten bestanden, Krieg gegen die ‚Südstaaten‘, von – Moment mal – 1861 bis 1865.“

„Und wer gewann den Krieg?“, fragte Kevin dazwischen.

„Also, die städtischen Staaten setzten sich durch, die Sklaverei wurde im ganzen Staatenverbund abgeschafft, nachdem wieder alle im Staatenverbund waren. Die Südstaaten waren nämlich ausgetreten.“

Lilly saß gedankenverloren da, nahm aber schon wahr, was Frau Schreiner sagte. Irgendwann meldete sie sich:

„Aber wenn Weiße Schwarze misshandelt haben, haben die sich in dem Lied nicht lustig über sie gemacht?“

Frau Schreiner dachte nach.

„Sieh mal, vier Jahre nach dem Krieg kam dieses Lied auf. Also um die Sklaverei ging es da nicht. Weißt du, was wir in Deutschland machen, wenn uns jemand nicht so wirklich passt?“

Lilly zuckte mit den Schultern.

„Weißt du, dafür haben wir hier den Karneval. Wir ziehen alles ins Lächerliche. Das hat man mit Schwarzen auch immer wieder gemacht. Also, willst du Karnevalslieder und Karnevalsreden verbieten?“

Lilly meldete sich: „Warum sagt Mama denn immer, das Lied dürfen wir nicht singen?“

„Warte mal kurz“, erwiderte Frau Schreiner, stellte ein Videogerät auf ein Podest und ließ sich von ein paar Kindern helfen, das Gerät an den Strom anzuschließen und einzurichten.

„Seht mal, was hier passiert!“

Die Kinder sahen amerikanische Polizisten, die einen jungen Schwarzen traten und schlugen. Im nächsten Video sahen die Kinder, wie Polizisten bei einer Verkehrskontrolle mitten in Deutschland einen Syrer zwangen, auszusteigen. Der Mann zögerte, also packten sie ihn, zogen ihn aus dem Fahrzeug und fingen an, gegen die zuckenden Beine zu treten.

„Wisst ihr, es gibt immer mehr Menschen, für die sind schwarze Menschen Freiwild. Sie werden bespuckt, beschimpft, ausgelacht und getreten, auch hier in Deutschland. Das machen viele Menschen, selbst die Polizei macht nicht vor der Gewalt halt. Wir kennen aber keine Grenzen, egal, ob Schwarze, Braune, Rothäutige, es sind alles Ausländer, viele, die aus dem Krieg nach Deutschland geflohen sind. Kennt ihr noch Matabo?“

Viele Kinder nickten betroffen. Matabo war ein fröhliches und aufgewecktes Kind in der Klasse gewesen. Die Familie war aus Afrika geflohen. Drei Jahre lang war er in ihrer Klasse, dann drang Polizei in die Wohnung ein, fuhr die Familie zum Flughafen und setzte sie in das nächste Flugzeug zurück in das Land, aus dem sie hergekommen waren. Frau Schreiner erzählte den Kindern, dass Matabo in ein Land zurückkam, in dem noch immer Krieg herrschte.

„Wisst ihr, wie wir diese Menschen nennen, ist eigentlich egal, wenn wir sie willkommen heißen. Marga, was ist dein Lieblingsnachtisch?“

„Negerküsse!“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Was willst du denn den Verkäuferinnen sagen, wo du die immer kaufst, wenn du das nicht mehr sagen darfst?“

Marga saß da perplex: „Ich will doch nicht … ich meine, damit beleidige ich doch keinen!“

„Ramon, was isst du gerne auf den Pommes?“ – „Zigeunersauce!“

„Weißt du, was Zigeuner sind? Fühlen die sich beleidigt, wenn du Zigeunersauce bestellst?“

„Nein, aber …, wenn ich denen ‚Zigeuner‘ hinterherrufe!“, erinnerte er sich.

„Ramon, genau darum geht es doch. Wenn wir seit Jahrhunderten Negerkuss, Mohrenkopf und Zigeunersauce so benennen, wird keiner damit Probleme haben, wenn wir die Menschen gut behandeln. Aber wenn wir mit Negern, Zigeunern, Indianern und Arabern schlecht umgehen, kommen einige auf die Idee, wir meinen es böse, wenn wir weiterhin ‚Negerkuss‘ und ‚Neger‘ sagen.“

Vorsichtig fragte Ramon nach: „Wissen Sie noch, was in unserer letzten Weihnachtsbäckerei passierte?“ Jetzt bekam sie sichtbar einen Schrecken. „Ja klar, Paul schnitt sich leicht in die Fingerkuppe … und es hörte überhaupt nicht mehr auf zu bluten. Irgendwann hörte es auf, aber als die Eltern kamen, habe ich ihnen geraten, ins Krankenhaus zu gehen …“

„Da war er nie …“, erklärte Ramon leise, trotzdem verstand ihn jeder sofort.

LOALWA BRAZ VIEIRA

Dançando LAMBADA

Loalwa Braz Vieira … wer ist das denn?

Geboren wurde sie am 3. Mai 1953 in Rio de Janeiro, einer Stadt in Brasilien („Januar-Fluss“).

Mit 4 Jahren lernte Loalwa Klavierspielen, mit 13 Jahren Singen.

1989 schrieb sie zusammen mit anderen Musikern aus Frankreich (alle zusammen hießen sie KAOMA) einen Song, den hört man heute auf der ganzen Welt, und auf diesen Song gibt es eine ganz eigene Art zu tanzen:

LAMBADA

Sie wurde dadurch über Nacht zu einer der bekanntesten farbigen Frauen auf der ganzen Welt.

Am 19. Januar 2017 wurde sie in Brasilien in der Nähe ihrer Geburtsstadt in Saquarema ermordet.

Als nach der kleinen Pause Frau Schreiner wieder in die Klasse kam, sah sie Lilly, die still dasaß und weinte. Sofort ging sie zu ihr. „Lilly, was ist los?“

Lilly sah sie unglücklich und schuldbewusst an.

„Lilly, weißt du noch, was ich dir auf dem Hof gesagt habe? Wenn es stimmt, was Ramon gerade sagte, dann trifft dich doch erst recht keine Schuld. Im Gegenteil, wer will, dass Paul am Leben bleibt, wird dir dankbar sein. Weißt du was? Ich werde Paul heute mal besuchen, und morgen erzähle ich euch, wie es ihm geht. Komm aber dafür wieder hierher, gleich in den ersten beiden Stunden hat diese Klasse Unterricht bei mir. Einverstanden?“

Lilly nickte. Doch nicht nur sie war nur noch mit halbem Herzen beim Unterricht dabei.

Frau Schreiner dachte kurz daran, den Kindern früher freizugeben. Aber dann erinnerte sie sich an eine Lehrerin, der die Schulleitung deshalb richtig Ärger gemacht hatte. Denn viele Eltern müssen beide arbeiten oder sind anderweitig unterwegs und wollen, dass ihre Kinder dann irgendwo sind, wo ein Erwachsener auf sie aufpasst.

***

Am nächsten Morgen erlebte die Klasse eine Überraschung. Frau Schreiner hatte eine junge Frau dabei, die sie kurz vorstellte.

„Hallo, ich habe euch eine Ärztin mitgebracht. Das ist Frau Professorin Malihaya Nuemba aus dem Krankenhaus, in dem Paul liegt. Pauls Eltern waren einverstanden, dass wir heute über ihn und das sprechen, warum er wohl ein Leben lang immer wieder schwer bluten könnte.“

„Hallo“, begrüßte die Schwarzafrikanerin die Schulklasse, „es ist schön, bei euch zu sein. Ich freue mich, euch sagen zu können, wie froh ich bin, dass es Paul heute Morgen wohl schon besser geht.“

„Was hat Paul denn?“, fragte Ramon ungeduldig dazwischen. Sofort kam die Ermahnung von Frau Schreiner, er müsse sich erst melden.

„Wenn einer von euch eine Wunde hat, wo ist dann das Blut?“, fragte Frau Nuemba, „das kommt aus den Blutadern heraus. Aber was macht unser Körper, damit er nicht alles Blut verliert?“

 

Ramon wusste Bescheid und meldete sich: „Das Blut gerinnt!“

„Ja, genau, das Blut wird fest. Allerdings muss vorher noch etwas anderes geschehen. Wenn bei euch in einem Wasserrohr ein Loch ist, dann muss das Loch erst mal zugestopft werden, damit das Wasser nicht mehr fließt. Das macht unser Körper ganz alleine. Der schickt ein festes Blutplättchen, das sich vor das Loch schiebt. Aber erst mal braucht der Körper die Information: hallo, hier ist ein Loch … und dafür gibt es Stoffe im Blut, die das melden, und andere, die dem Blutplättchen den Befehl geben. Ramon, wenn du von Frau Schreiner gesagt bekommst, du sollst dich melden, dann ist das ein Befehl. Wenn die jetzt gar nicht reden könnte, würdest du auch nicht wissen, was sie von dir will …“

„Ach doch, die kommt schon an den Tisch …“, fing er an, aber Frau Nuemba unterbrach ihn, „… ja, das glaube ich, aber der Körper kann das nicht. Eiweiße und andere Stoffe bilden eine Sprache im Körper, die alle Zellen im Körper verstehen. Wenn wie bei Paul auch nur ein Baustein für diese Stoffe fehlt, bleibt das Loch offen und das Blut läuft und läuft und läuft …“

Lilly meldete sich: „Und das bleibt sein ganzes Leben lang?“

„Ja, Lilly, wenn keiner etwas unternimmt. Wir können im Krankenhaus entweder die Bildung des körpereigenen Faktors anregen oder ein Ersatzmittel zuführen. Aber das ist nur ein Problem. Bei einem Unfall ist richtig Zeit in Verzug, denn je mehr Blut austritt, umso schneller liegt das Kind da, wird immer träger, apathischer und schwächer …“ Weiter kam sie nicht. Lilly brach in Tränen aus.

„Aber das wollte ich doch überhaupt nicht!“, brach es schließlich aus ihr heraus. Frau Schreiner hielt es für angebracht, ein paar Worte zu sagen. „Lilly, das weiß ich, deshalb hatte ich ja gesagt, du brauchst keine Angst zu haben, dass wir Ärger machen …“ „Hinzu kommt“, ergänzte Frau Nuemba, „du siehst den Kindern nicht an, dass ihr Blut krank ist, auch die Eltern nicht. Wo Blut auftritt, da fühlen sie sich schuldig. Ist die Wunde irgendwann zu, denkt keiner mehr dran. Pauls Eltern gingen ein wenig sorglos damit um. Obwohl ihnen gesagt worden war, geht ins Krankenhaus mit Paul, haben sie gedacht, es war ja nur der Finger.“

Frau Schreiner versuchte abzuwiegeln: „Man muss ja nicht gleich aus jeder Mücke einen Elefanten machen …“

Frau Nuemba sah sie erschrocken an: „Wussten Sie nicht, dass die afrikanischen Mücken Elefanten außer Gefecht setzen können?“ Als die Klasse das verdutzte Gesicht der Lehrerin sah, fing sie an zu lachen. Frau Nuemba setzte noch einen drauf: „Es gibt manche Krankheiten wie das ‚West-Nil-Fieber‘, das vor allem ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen richtig krank macht. Dieses Virus wird übertragen von Mücken, die mit uns Menschen nach Europa reisen. Unsere Reiselust bringt auch alle Krankheiten aus den fernen Ländern zu uns!“

Frau Nuemba setzte sich auf das Pult.

„Hört mal“, sagte sie, „ihr seht, es gibt viele Menschen, die sind schon als Kinder behindert, ohne dass man es sieht. Lasst uns alle miteinander darauf achten, dass es uns gut geht. Ich weiß, das Land, aus dem ich komme, da sind viele schwarze Menschen so wie ich, die keine Chance bekommen, satt zu werden, in die Schule zu gehen und einen Beruf zu lernen. Ich bin froh, dass ich die Chance bekam und schließlich nach Deutschland kam.“

„Sind Sie Ärztin?“, meldete sich Katrin neugierig, und gleichzeitig meldete sich Ramon: „Was sagen Sie denn, wollen Sie das Singen verbieten?“

„So viele Fragen gleichzeitig!“, fing Frau Schreiner an, aber Frau Nuemba wiegelte ab: „Ja, ich bin Ärztin, allerdings bilde ich auch Ärzte hier im Krankenhaus aus. Wisst ihr, ich habe hier eine Station für Kinder mit Behinderungen aufgebaut. Wisst ihr, früher sagte man auch ‚Behinderte‘, und das höre ich heute noch. Wenn wir öffentlich reden und schreiben, heißt es richtig ‚Kinder oder Menschen mit Behinderungen‘. Ich singe ebenfalls ‚Zehn kleine Negerlein‘, denn ich finde, so lernt man besser Zählen und Rechnen als ohne Musik. Aber die kleinen Mädchen da, wo ich geboren wurde, haben meistens überhaupt keine Chance, sich satt zu essen, zu lernen … deshalb singe ich von ‚Zehn kleinen Hoffnungen‘, die gerade schwarzen Mädchen und Jungen genommen werden: zehn, neun, acht, sieben …“ Und so zählte die Klasse mit.

Zehn kleine Hoffnungen

Zehn kleine Hoffnungen,

die mussten nichts bereu’n,

die eine kam vor Hunger um,

da waren’s nur noch neun.

Neun kleine Hoffnungen

sind sehr früh aufgewacht,

die eine fand dann keine Arbeit,

da waren’s nur noch acht.

Acht kleine Hoffnungen,

die lernten bald zu fliegen,

doch eine Hoffnung stürzte ab,

da waren’s nur noch sieben.

Sieben kleine Hoffnungen

schrieben ohne Klecks,

doch eine Hoffnung war so arm,

da waren’s nur noch sechs.

Sechs kleine Hoffnungen

haben die Nase gerümpft,

doch eine Hoffnung nieste laut,

da waren’s nur noch fünf.

Fünf kleine Hoffnungen

wollten mal studier’n,

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