Buch lesen: «Eight Ball Boogie»
Declan Burke, geboren 1969 in Sligo, lebt bei Dublin und ist einer der innovativsten Krimiautoren Irlands. Zudem ist er Buch- und Filmkritiker für u. a. die Irish Times und betreibt die Website Crime Always Pays. Burke hat zahlreiche Krimis veröffentlicht; auf Deutsch sind bisher erschienen Absolute Zero Cool und The Big O.
Declan Burke
Eight Ball Boogie
Kriminalroman
Aus dem Englischen übersetzt von Robert Brack
Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Eight Ball Boogie bei Sitric Books, 2003.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH 2018
Deutsche Erstausgabe März 2018
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
Titelfoto: Steve81 / photocase.de
Autorenporträt Seite 2: Kathy Burke
ePub ISBN 978-3-96054-069-4
Dieses Buch ist mit großer Hochachtung meinen Eltern Kathleen und Harry Burke gewidmet
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
1
Wenn es um fünf Uhr morgens an der Tür klingelt, bedeutet das schlechte Nachrichten: Jemand ist tot oder stirbt gerade. Deshalb lief Imelda so eilig die Treppe hinunter, im Nachthemd, und tapste mit nackten Füßen über die kalten Fliesen. Verstört, weil sie glaubte, jemand liege im Sterben.
Deshalb konnte der Mann mit dem Messer ganz dicht an sie herankommen, es unter ihren Armen hindurchführen und die Klinge mit voller Kraft direkt unterhalb des Kinns in ihren Hals stoßen. Er zerfetzte die Halsschlagader, und alles spritzte über die Veranda, Blut, Glas und Chrom – man hätte das Ergebnis in einer Galerie ausstellen können.
So etwas passiert schon mal, wenn auch nicht unbedingt in Neubausiedlungen an der Atlantikküste, und eher selten einer Frau mittleren Alters, die mit einem parteilosen Politiker verheiratet ist, der die Regierung blühen und gedeihen lässt. Aber es passiert. Es ist natürlich eine Schande, zum Heulen, also heult und schämt euch ein bisschen und dann lasst es gut sein. Die restliche Woche wird anstrengend, und nichts wird den irren Lauf der Dinge aufhalten.
Mein Job war, herauszufinden, wer es getan hatte und warum, für zwölf Cent pro Wort, alles korrekt und in der richtigen Reihenfolge. Genug Fakten, ein solider Aufhänger, damit es vielleicht sogar für einen Artikel auf der Titelseite taugte, den ich ausschneiden und in dem verstaubten Ordner unter meinem Bett abheften könnte. Imelda Sheridan war tot, Pech für sie, aber auch ein Silberstreif am Horizont kann schnell hinter einer Wolke verschwinden.
Wie auch immer, so hat alles angefangen.
Es war ein Montagmorgen, drei Tage vor Weihnachten, so ein Montag, der gut in der Lage war, für sich selbst zu sorgen. Ich schob mir ein Kissen hinter den Rücken, drehte mir eine Fluppe mit einer Prise Dope und verzwirbeltem Ende, um ihr die Schärfe zu nehmen. Meine Augen waren verklebt, mein Magen verkorkst, mein Schädel vibrierte wie ein straff gespanntes Seil. Im Zimmer stank es nach Mundgeruch, gelangweiltem Sex und kaltem Zigarettenrauch.
Ich zündete den Joint an und schaute zu, wie Denise schlief. Das hatte ich schon länger nicht mehr getan, hatte keine Gelegenheit gehabt. Ich hatte mich über sie hergemacht und fragte mich nun, ob ich überhaupt noch Geschmack an ihr fand. Schlafend und entspannt sah man ihr das Alter an, so langsam rutschte sie auf die solide Seite der Dreißiger. Dunkle Härchen an ihren Mundwinkeln, ihre Nase hätte etwas zu groß gewirkt, wenn ihre Ohren kleiner gewesen wären. Volle lachsfarbene Lippen, schulterlanges kastanienbraunes Haar mit rötlichem Schimmer. Wenn sie die Augen aufschlug, würden sie groß und braun sein. Sie meinte, sie hätte ein paar Kilo zu viel auf den Hüften, aber ich mochte ihre Kurven und hatte lieber ein bisschen mehr als ein bisschen weniger von ihr.
Sie roch das Dope, und ihre Lider flatterten. Sie schaute mich träge an, rieb sich ein Auge und gähnte. Dann murmelte sie emotionslos: »Raus.«
»Ene, mene, muh und raus bist du.«
Ich zog an meinem Joint und kicherte.
»Raus, Harry. Geh nach Hause.«
»Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«
»Nein, aber ich würde sagen, es ist so kurz nach Hauendlich-ab.« Sie lächelte müde, in ihrem Blick lagen Bedauern und etwas, das ich noch nie vorher gesehen hatte. »Komm schon, Harry. Du weißt, dass du gehen musst.«
»Na schön, wenn’s sein muss.«
Ich drückte die Kippe aus und griff fröstelnd nach meinem T-Shirt. Schneeregen klatschte gegen das Fenster.
»Willst du mir unter der Dusche Gesellschaft leisten?«
»Keine Dusche, Harry. Es gibt kein warmes Wasser.«
»Verfluchte Scheiße, Dee.«
Offiziell waren wir auseinander. Offiziell schlief ich im Hinterzimmer meines Büros im Old Quarter. Bei unseren ständigen Streitereien war viel von Bens Spielzeug zu Bruch gegangen, und mein Geld war dafür draufgegangen, es zu ersetzen. Miete zu zahlen war nicht drin.
Nebenbei bemerkt, Denise probierte gerade aus, ob sie wohl auch mit einem Kind an den Hacken noch einen abkriegen würde. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, die Wahrheit ist wie eine kaum verheilte Wunde, an der man besser nicht zu viel rumfummelt. Gestern Abend waren wir zur selben Zeit am selben Ort gewesen und hatten die gleiche Menge Alkohol konsumiert. Das war alles, und das reichte einfach nicht.
Sie setzte sich auf, warf sich einen dünnen weißen Baumwollbademantel über und sagte müde: »Zieh dich einfach an und geh, Harry. Bitte.«
Sie zeigte mir, wie man das macht, indem sie das Zimmer verließ.
Ich zog mich an und ging nach unten. Sie stand im Flur und schaute das Telefon an, als wäre es eine tickende Zeitbombe. Ben lag im Wohnzimmer auf dem Boden und schaute sich einen Zeichentrickfilm an, den Ton irre laut gestellt. Er trug Dinosaurier-Hausschuhe und hatte eine »Action Man«-Fliegerbrille um den Hals. Ich schwafelte irgendwas, wir könnten ja einen Schneemann bauen, wenn der Schnee liegen bleibt, und ihm Mums Mantel überziehen, aber Ben hörte gar nicht zu, und dann rief sie mich in die Küche.
Sie stellte den Wasserkocher an und drehte mir den Rücken zu.
»Gonzo hat eine Nachricht hinterlassen. Er kommt Weihnachten nach Hause.«
Das sagte sie ganz ruhig, als würde Gonzo jede Woche mal anrufen, und klang überhaupt nicht aufgeregt oder angewidert dabei, obwohl wir seit vier Jahren nichts mehr von ihm gehört hatten.
»Hat er gesagt, welche Weihnachten?«
Sie drehte sich um und zog den Bademantel enger. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen so groß und dunkel wie die eines Pandabären.
»Er ist dein Bruder, Harry.«
»Dafür kann ich doch nichts, Dee. Das kann mir echt keiner anhängen.«
Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie enttäuscht, weil ihr nichts dazu einfiel.
»Du gehst jetzt besser.«
Sie schob mich durch den Flur und blieb fröstelnd in der Tür stehen, mit verschränkten Armen und ohne mich anzusehen. Ich blieb zwei Stufen weiter unten stehen, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich zugeben musste, dass ich das Auto in der Stadt stehen gelassen hatte.
»Ben sollte sich langsam mal anziehen. Sonst kommt er noch zu spät zur Schule.«
»Jetzt sind Ferien, Harry. Kinder kriegen Weihnachtsferien. Das ist anders als bei den Erwachsenen, die kriegen einen Scheiß. Wir haben übrigens bald Weihnachten.«
»Ich weiß, dass wir bald Weihnachten haben, verdammt.« Ich trat mit dem Fuß gegen die Treppenstufe. Ich hatte einen üblen Kater, das Dope half da auch nicht weiter. Der Wind wehte mir den nassen Schnee ins Gesicht. Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr und sagte: »Harry …«
»Was?«
»Denk bloß nicht, dass das, was passiert ist …«
»Bild dir bloß nichts ein!«
»Ganz bestimmt nicht«, gab sie bissig zurück. »Nicht nach dem, was du mir letzte Nacht gesagt hast.«
Ich suchte nach einer rettenden Entgegnung, aber sie schloss bereits die Tür, schlug sie immerhin nicht zu. Ich wandte mich dem Schneeregen zu und entschied, mich im Büro zu rasieren. Als ich das Päckchen mit dem Tabak rausholte, stellte ich fest, dass mir die Blättchen ausgegangen waren. Was für eine Woche, dabei war es gerade mal Montag Morgen um halb zehn.
Die Einwohnerzahl wurde auf ungefähr neunzigtausend geschätzt, und selbst wenn man die Sinn-Féin-Aktivisten, die doppelt zur Wahl gingen, abzog, war es immer noch eine ganz ansehnliche Stadt. Und genau darum ging es ihnen ja: Sie suchten sich eine kleine verträumte Stadt aus, in der es keine großen Probleme gab, und rissen ihr die Gedärme aus dem Leib. Siedelten die Bewohner um, pferchten sie in Vorstadtsiedlungen aus Fertigbausteinen, die sich auf beiden Seiten des Flusses ausdehnten, südlich vom See und ein Stück weit in die Berge. Sie hätten sogar die Bucht zugeschüttet, wenn sie die Leute für blöd genug gehalten hätten, sich am feuchten Sand zwischen den Zehen zu erfreuen. Sie zogen eine neue Innenstadt hoch, einen Hochhaus-Dschungel für Kreditunternehmen, internationale Callcenter, mehrstöckige Shopping Malls und Software-Entwicklungsunternehmen, die sich als Universitäten tarnten. Das meiste davon war von amerikanischen Unternehmen finanziert worden, die das Geld mit Hilfe einheimischer Subventionen, Niedrigzinskrediten und zurückgeführten Auslandsgewinnen aufgebracht hatten. Die Innenstadt bestand jetzt aus breiten Straßen, von Bäumen gesäumt, und sah aus wie der manifestierte feuchte Traum eines Norman Rockwell, einfach über der Atlantikküste abgeworfen. Es hatte ungefähr fünf Jahre gedauert, bis alles fertig war, und keiner hatte gelacht, nicht ein einziges Mal.
Mein Büro befand sich auf der Nordseite des Flusses im Old Quarter, wo die Innenstadt in die Hafengegend überging, die sich Richtung Westen erstreckte. Das Viertel bestand aus fünf oder sechs belebten Straßenzügen, durchzogen von Eisenbahntrassen, Straßen voller Schlaglöcher und kleinen Gassen, die allesamt zum Hafen führten. Die Gegend war zu laut für eine Wohngegend, und die Laufkundschaft war zu sporadisch, um ein Einkaufszentrum am Leben zu erhalten, also durfte das Old Quarter seine bröckelnden Fassaden, seinen rissigen Asphalt und seine marode Kanalisation behalten.
Das Old Quarter zog eine recht gemischte Bevölkerung an. Crusties lachten über Kids auf Skateboards, die kichernd an ihnen vorbeiflitzten. Trinker, Penner und Straßenmusiker bettelten Passanten um ihr knappes Kleingeld an. Studenten mischten sich unter Tunten, Taugenichtse und Kleinganoven und fanden das total aufregend.
Ich schlief schon seit ein paar Monaten auf dem Sofa im Hinterzimmer meines Büros, hatte mich daran gewöhnt und sah den Verlierern draußen auf der Straße schon ziemlich ähnlich. Die meisten davon mochte ich und fand ihren Mangel an Ehrgeiz und Zurückhaltung in Ordnung. Die Leute hier im Viertel waren auf ein Pfandhaus in ihrer Nähe angewiesen, sie brauchten einen Laden mit Army-Klamotten und ein Tattoostudio. Die Kneipen hatten getönte Scheiben, die Sexshops nicht, und die Imbisscafés sollten vielleicht mal darüber nachdenken. Es gab Antiquitätenläden und sogar ein Geschäft für biologische Lebensmittel aus Thailand und eindeutig zu viele antiquarische Buchhandlungen. In der zweiten Reihe, näher am Flussufer, gab es ein paar Autowerkstätten, die die Dinge schwarz und geschmiert am Laufen zu halten wussten. In den Bars wurden Jazz, Folk und Drum’n’Bass gespielt, und im Sommer hing der schwere Duft von Patschuli und geschmolzenem Teer in der Luft. Nachts genügte es, mit heruntergelassenem Fenster durch die Gegend zu fahren, um sich zu bedröhnen.
Das Quarter war ein angenehmer Ort zum Leben und zum Arbeiten, wenn man eine blinde Freundin hatte und die Klienten noch verzweifelter waren als man selbst. Denise war nicht blind, aber das war nur ein Teil des Problems. Zwischen mir und ihr gab es so einige Schwierigkeiten. Was mich betraf, so hatte ich eigentlich nur ein Problem, aber Denise ließ mich an ihren Sorgen gerne teilhaben.
Ich kam gegen zehn im Büro an, ohne irgendwelche Rekorde gebrochen zu haben. Ich griff nach dem Telefon, um im Erdgeschoss einen Becher Kaffee zu bestellen. Herbie war auf dem Anrufbeantworter. Er klang ungewöhnlich munter für diese Tageszeit, eigentlich war er immer entweder stoned oder er schlief. Mindestens einmal pro Tag kiffte er sich in einen regelrechten Vollrausch.
»Harry … Harry? Scheiße … Harry, schaff deinen Arsch zu Tony Sheridan. Das Haus am See hinter der Rennbahn. Seine Frau hat’s erwischt, Kehle aufgeschlitzt. Die Bullen versuchen, das mit dem Koks unter Verschluss zu halten. Sieht super aus, hab die Fotos im Kasten. Ruf mich an, wenn ich dir den Weg beschreiben soll.«
Das war nicht nötig. Jeder wusste, wo Tony Sheridan wohnte, außer Tony selbst vielleicht, zumindest in jenen Nächten, in denen er glaubte, er würde bei der Brünetten leben, die das Bojangles betrieb. Das war ein Puff mit ganz jungen Hühnern nahe am Fluss, allerdings nicht nah genug, um bei einer Überschwemmung mal ordentlich durchgespült zu werden.
Ich steckte Diktafon und Notizblock ein und überlegte kurz. Schüttelte den Kopf. Dachte noch mal darüber nach – Gonzo war nach Hause gekommen und ein blutiges Verbrechen war geschehen, beides an einem Vormittag. Das konnte Zufall sein oder auch nicht. Ich schloss die untere Schublade des Aktenschranks auf, schob den Unterboden beiseite, zog den .38er mit dem kurzen Lauf heraus und schob sie am Rücken in meinen Gürtel.
Ich nahm die Abkürzung durch die Passage gegenüber vom Coffee Shop, überquerte die Fußgängerbrücke und erreichte den Parkplatz. Verschwendete fünf Minuten damit, zu überlegen, wo ich den Wagen gelassen hatte. Dann ging ich über die Brücke zurück und lief am Ufer entlang zum Taxistand.
Der fette, rotgesichtige Fahrer sagte kein Wort, warf mir durch den Rückspiegel vielsagende Blicke zu, kaute auf seinem borstigen Schnurrbart herum und verzog den Mund zu einem süffisanten Grinsen. Ich nahm das mal so hin, mir musste sowieso keiner erzählen, dass ich total abgerissen aussah. Mein schwarzer Anzug war aus der Form und zerknittert, denn ich hatte nur den einen, den ich von Montag bis Freitag trug. Die Hemden darunter wechselte ich täglich, bis sie beide grau waren. Die dünne schwarze Krawatte hatte ich umsonst zum Anzug dazubekommen und knotete sie immer zum Jahresbeginn neu. Sollte mir Glück bringen. Die Schuhe waren italienisch und aus Wildleder, denn Frauen schauen dir immer zuerst in die Augen und dann auf deine Schuhe. Und ich hatte nun mal Augen, die Frauen dazu brachten, einen längeren Blick auf meine Schuhe zu werfen.
In meinem Job muss man beschissen aussehen. Ich verdiene mein Geld mit Leuten, die Markenklamotten lieben und die ungerührt lauter reden und nicht immer genau aufpassen, was sie sagen, wenn jemand in einem schäbigen Anzug zwei Hocker weiter an der Bar sitzt oder in einem Restaurant weiter hinten in einer ruhigen Nische mit verstaubten Plastikpflanzen. Wenn ein Kunde verzweifelt genug war, klammheimlich mein Büro aufzusuchen, dann hatte er in der Regel so viele Probleme, dass er sich keine Gedanken darüber machte, ob meine Klamotten besser waren als seine. Er wollte einen Anzug und eine Krawatte sehen, die zueinander passten. Das reichte.
Die allermeisten kamen klammheimlich. Gelegentlich stiefelte auch mal einer erhobenen Hauptes herein, weil er nichts zu verbergen hatte. Solche Typen wollten, dass ich ihren vermissten Hund aufspürte.
Im Grunde aber sah ich beschissen aus, weil es mir egal war, wie ich aussah, und weil ich es mir nicht leisten konnte, darüber nachzudenken. Wenn man im Old Quarter eine Münze mit zwei Köpfen warf, blieb sie in zwei von drei Fällen auf dem Rand stehen.
Beim letzten Mal war sie gar nicht mehr heruntergekommen.
Herbie fläzte sich auf seinem ramponierten Moped, die Ellbogen auf den Lenker gelegt, seine Zulassung war schon lange abgelaufen. Er sah müde aus und zitterte leicht. Unter dem Rand seiner schwarzen Wollmütze, die er sich über die Ohren gezogen hatte, lugten ein paar rote Locken hervor und rahmten ein Gesicht ein, das die Farbe von saurer Milch hatte und mit zahllosen Pickeln übersät war.
»Warum hast du so scheißlange gebraucht?«
»Deine Mutter wollte meine Schuhe nicht wieder rausrücken.«
»Zum Glück ist das dein Problem, nicht meins.« Er deutete mit dem Kopf auf die schicke Villa mit den zwei Wohnebenen. Das obere Stockwerk wurde von zwei Säulen gehalten, die Vorderfront war ganz aus Glas, darunter lag eine Garage mit zwei Toren. Er sagte betont beiläufig: »Sie vermuten, dass sie sich selbst getötet hat.«
»Hat sich eigenhändig die Kehle durchgeschnitten?« Ich stieß einen Pfiff aus. »Ganz schön mutig.«
»Es gibt noch eine andere Theorie: Sie macht die Tür auf, und er stößt sofort zu. Schleppt sie ins Wohnzimmer, die Füße voran, und sie tritt immer noch um sich. Also macht er sich mit ihrem eigenen Steakmesser noch mal an ihr zu schaffen, rein, raus, immer wieder, und sägt an ihr herum.«
»Wer hat dir das denn erzählt?«
»Regan. Jedenfalls legt er ihr dann das Messer in die Hand und lässt den Arm ganz natürlich herunterfallen. Damit es wie ein Selbstmord aussieht. Zieht ein paar Linien auf dem Couchtisch, hinterlässt alles schön unordentlich, reibt ein bisschen was davon auf ihr Zahnfleisch, lässt das Briefchen fallen.«
»Gibt’s Fingerabdrücke?«
»Millionen, du guckst wirklich zu viele Filme. Regan sagt, er hat sich Zeit gelassen hinterher, hat mit seinem Stiefel das Hochzeitsfoto zertreten, um ein Motiv zu liefern. Hat eine geraucht und die Kippe im Ascher liegen lassen. Lungerte noch ‘ne Weile herum, um sicherzugehen, dass alles koscher ist. Hat sie nicht angefasst. Vielleicht war’s ja ein Profi, sagt Regan, vielleicht war ihr Höschen aber auch schon voller Pisse und Scheiße. Oder er sieht gern zu, wie eine Leiche ausblutet.«
»Es ist immer gut, mehrere Optionen zu haben. Wie lange liegt sie denn schon da?«
»Keine Ahnung. Sie wurde vor zwei Stunden gefunden.«
»Wer ist jetzt zuständig? Regan?«
»Kilfeather.«
»Möchte der seinen Namen mal in der Zeitung sehen?«
»Das will ich doch hoffen.«
Kilfeather sah zu, wie ich dem uniformierten Polizeiposten im Eingangstor meine Karte unter die Nase hielt, und wartete, bis ich unter dem gelben Absperrband hindurchgeschlüpft war und über den asphaltierten Weg auf ihn zuging. Dann machte er eine abwehrende Handbewegung. Ich ignorierte sie, was er natürlich erwartet hatte, und ich enttäusche ungern jemanden. Er sah zu, wie ich näher kam und grinste säuerlich, als er das Wort zögernd probierte: »Rigby.«
»In seiner ganzen verbeulten Pracht. Wer hat sie gefunden, Tom?«
Dass Kilfeather mal frische Luft schnappte, war schon eine Meldung wert, und ich sollte herausfinden, welche Sorte Dynamit sie benutzt hatten, um ihn von seinem Schreibtisch wegzubomben. Er war knapp eins neunzig groß, rotgesichtig, hatte kaum Hals und musterte mich mit bornierter Dienstbeflissenheit.
»Vergessen Sie es, Rigby.«
»Hat er sie gefunden?«
»Wer?«
»Tony natürlich. Stellen Sie sich doch nicht so an.«
Er hob seine riesigen Hände und tat so, als wollte er mich zurückschieben. »Zurück hinter die Absperrung, Rigby. Sie kennen doch die Vorschriften.«
»Dürfen Sie mir etwa nicht sagen, wer sie gefunden hat?«
»Es ist eine laufende Ermittlung. Ich darf Ihnen gar nichts sagen.«
»Sie sind doch sonst nicht so schüchtern, Tom.«
Er biss nicht an. Ich versuchte es noch mal.
»Was für eine Art von Ermittlung ist es denn?«
»Eine ganz normale Routineermittlung. Und bis die abgeschlossen ist, darf ich Ihnen nichts sagen.«
»Wenn Sie mir nicht sagen, was los ist, muss ich wohl das Schlimmste annehmen. Bei meiner Vorstellungskraft könnte das ziemlich riskant für Sie werden.«
Er tat weiterhin unerbittlich.
»Ich sagte doch, es ist alles nur Routine.«
Ich setzte alles auf eine Karte.
»Weil es kein Selbstmord ist?«
»Wer sagt denn, dass es kein Selbstmord ist?«
»Niemand. Ist es Selbstmord?«
Seine Wangen flammten rot auf.
»Verarschen Sie mich nicht, Rigby. Gehen Sie mir aus den Augen, verdammt.«
Ich schüttelte geduldig den Kopf.
»In Wahrheit wollen Sie doch, dass ich bleibe, Tom. Damit Sie mich im Auge behalten können, damit Sie hören können, was ich sage. Tun wir so, als wäre dies ein hübsches kleines Stelldichein mit Kerzen und Wein, und im Hintergrund spielt ein Zigeuner auf der Geige.«
Er murmelte irgendwas, das keine Vokale hatte. Ich blieb sachlich.
»Es ist nur ein Job, Tom. Sie tun Ihren, ich tue meinen. Ich brauch bloß ein paar Antworten und fertig, dann ist meine Arbeit getan und ich bin weg.«
Er gab keine Antwort, sondern starrte über die Rennbahn hinweg zum anderen Ufer des Sees, dorthin, wo die Schneegrenze wäre, falls es mal schneien sollte. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Wenn die Sonne schien, war die Aussicht zusätzliche zwanzig Riesen wert, die das Haus so nötig hatte wie einen zweiten Swimmingpool.
»Wie wäre es hiermit, Tom? Ich erzähle Ihnen, was Sie schon wissen, und wenn ich was auslasse, dann helfen Sie mir auf die Sprünge.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Ich bekomme ja so einiges mit. Vielleicht weiß ich was, das Sie nicht wissen.«
»Das ist ziemlich riskant, Rigby. Ich könnte Sie drankriegen, weil sie wichtige Informationen zurückgehalten und damit den Gang der Ermittlungen behindert haben.«
»Nicht behindert, umgeleitet, würde ich eher sagen, Tom.«
Er warf einen Blick hinter sich zu dem zivilen Streifenwagen, einem blauen Mondeo, der neben dem Haus geparkt war, und sagte mit rauer Stimme: »Also, was weiß ich?«
»Sie wurde vor einigen Stunden tot aufgefunden – von jemandem, den wir noch nicht kennen. Die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten, der Schnitt ging so tief, dass die Wirbelsäule beinahe durchtrennt wurde. Ihre Unterwäsche war noch intakt. Koks auf dem Couchtisch, was bedeutsam sein könnte oder auch nicht. Die Fingerabdrücke auf dem Messer – einem Steakmesser mit gezackter Klinge – stammen von ihr. Na, wie mache ich das?«
Er machte wieder ein miesepetriges Gesicht.
»Sie haben den Toaster und das Kuscheltier vergessen.«
»Hier in dieser Luxusgegend begeht doch niemand Selbstmord. Und wer bitte durchtrennt sich fast die Wirbelsäule, während er sich den eigenen Hals aufschlitzt?«
»Imelda Sheridan.«
»Blödsinn. Wer ist der Hauptverdächtige?«
»Jetzt Sie, weil Sie so viel darüber wissen.«
»Ich und die halbe Stadt, Tom. Hat sich alles schon herumgesprochen. Wie geht’s denn ihrem Ehemann?«
Diese Andeutung gefiel ihm gar nicht.
»Sie sind ein kranker Typ, Rigby.«
»Ja, im Endstadium. Wurde er schon verhört?«
»Warum sollte er verhört werden?«
»Aus Boshaftigkeit. Um Überstunden zu machen. Weil er ein mieser Drecksack ist. Suchen Sie sich was aus.«
»Nehmen wir mal an, wir hätten ihn verhört. Welche Fragen hätten wir gestellt?«
»Wo er war, als es passiert ist. Oder wäre das zu persönlich?«
»Selbstmord ist kein Sport für Zuschauer, Rigby.«
»Sie kennen doch die Statistiken, Tom. Die Menschen bringen sich um, wenn sie jung sind. Und sie war wie alt? Anfang Fünfzig? Sie hat ein großes Haus mit einem Tennisplatz. Geht mit Prada und Louis Vuitton spazieren, um uns zu beeindrucken. Ihr Ehemann steht gut mit dem Parteivorsitzenden, und wenn er es verkackt, kann er immer noch Unfallopfer zu Zivilklagen überreden. In der Klatschspalte taucht sie nur dann nicht auf, wenn die Journalisten streiken, die Kinder sind schon groß, der Junge hat sein Medizinstudium geschafft, die Tochter rettet den Regenwald, gesegnet seien ihre Baumwollsocken.«
Ich kam wieder auf den Punkt: »Warum also sollte Imelda Sheridan Selbstmord begehen?«
»Geld ist eben nicht alles. Vielleicht war sie depressiv.«
Das gefiel mir nicht. Kilfeather war zu sachlich, das bedeutete, ich war auf dem Holzweg.
»Vielleicht fürchtete sie ja, Weihnachten würde ausfallen. Wer hat sie denn nun gefunden, Tom?«
»Darf ich nicht sagen, Rigby.«
»Meine Güte, Tom …«
Die Stimme hinter mir klang so unwirsch wie ein Zementmischer, der gerade Deutsch lernt.
»Kilfeather?«
Er schaute nicht mal auf mich herab. Aber ich schaute hoch in ein breites Gesicht, das von dünnem blonden Haar gekrönt wurde. Der Anzug saß ein bisschen zu knapp, aber sogar ein Zirkuszelt wäre noch eine Nummer zu klein gewesen. Er hatte ein Kinn wie Desperate Dan, und auf seinem Brustkorb hätte ein Hubschrauber im Sturm landen können. Der Geruch von abgestandenem Whiskey schlug mir entgegen, scharf wie Benzin. Und man konnte nur für ihn hoffen, dass er besoffen gewesen war, als er seinen Kamelhaarmantel erstanden hatte.
Kilfeather riss sich zusammen.
»Jawohl, das ist richtig. Und Sie sind Brady, richtig?«
»Wenn ich außer Dienst bin. Jetzt gerade Detective Brady. Und wer ist dieses Arschloch?«
»Ein Schreiber von der Lokalpresse. Nennt sich Rigby.«
»Und was macht er hier?«
»Schnüffelt rum.«
»Echt jetzt, Sherlock? Wieso ist er hier?«
Kilfeather zuckte mit den Schultern und streckte die Brust raus, um Brady zu verdeutlichen, dass er sich nicht gerne ausfragen ließ. »Wieso sind wir hier? Er hat davon gehört und dachte, es gibt vielleicht was Interessantes zu sehen.«
»Hat er es in der Stadt gehört?«
»Wahrscheinlich.«
»Von wem?«
Kilfeather hob die Schultern.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
»Dann finden Sie es zum Teufel heraus, oder ich zitiere Sie in meinem Bericht. Was haben Sie ihm erzählt?«
Kilfeather kochte vor Wut, seine Wangen wurden knallrot. Er spuckte ein einziges Wort aus: »Nichts.«
»Dafür haben Sie aber eine ganze Weile gebraucht.«
»Er glaubt, sie hat sich nicht umgebracht. Ich hab ihn korrigiert.«
»Korrigiert … was heißt das denn?«
»Dass es sich um eine laufende Ermittlung handelt und die Anzeichen auf Selbstmord hindeuten. Das wusste er auch schon vorher.«
Brady spuckte aus und zerrte seinen Gürtel ein Stück höher.
»Das nächste Mal schicken Sie ihn zu mir. Nein – das nächste Mal buchten Sie ihn einfach ein.«
»Jawohl, Sir. Welches Vergehen?«
Jetzt schaute Brady mich zum ersten Mal richtig an, musterte mich von oben bis unten.
»Wegen billiger Schuhe«, lachte er höhnisch. »Ach übrigens, Kilfeather?«
»Was denn?«
»Wenn Sie mir noch mal so rotzig kommen, putz ich Ihnen die Nase.«
Brady ging zurück zum Mondeo, zündete sich eine Zigarette an und merkte, wie Kilfeather ihm einen bösen Blick zuwarf. Er rieb sich langsam und demonstrativ die Nase, also warf Kilfeather mir einen wütenden Blick zu. Ich verstand den Hinweis und machte die Fliege.