Absolute Zero Cool

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Absolute Zero Cool
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Declan Burke ist einer der innovativsten Krimiautoren Irlands und betreibt die Krimi-Website Crime Always Pays. Absolute Zero Cool wurde mit dem Goldsboro Crime Fest Last Laugh Award 2012 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Irish Book Award 2011.

Declan Burke

ABSO

LUTE

ZERO

COOL

Kriminalroman

Aus dem Englischen übersetzt von Robert Brack



Der Verlag dankt für die

finanzielle Unterstützung

der Übersetzung dieses Buches durch:

Ireland Literature Exchange

(Übersetzungsfonds), Dublin, Ireland

www.irelandliterature.com info@irelandliterature.com

Die Originalausgabe des vorliegenden

Buches erschien unter gleichlautendem

Titel bei Liberties Press, Dublin 2011

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg www.edition-nautilus.de Alle Rechte vorbehalten © Edition Nautilus 2014 Deutsche Erstausgabe August 2014 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg www.majabechert.de 1. Auflage Print ISBN 978-3-89401-793-4 E-Book ePub ISBN 978-3-86438-159-1

Inhalt

PROLOG

I WINTER

II FRÜHLING

III SOMMER

IV HERBST

DANKSAGUNGEN

Graphomanie (die Besessenheit, Bücher zu schreiben) wird zwangsläufig zur Massenepidemie, wenn die gesellschaftliche Entwicklung drei grundlegende Voraussetzungen erfüllt:

1) hoher Grad allgemeinen Wohlstands, der es den Leuten ermöglicht, sich unnützen Tätigkeiten zu widmen;

2) hohes Maß an Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und daraus hervorgehend allgemeine Vereinsamung der Individuen;

3) radikaler Mangel bedeutender gesellschaftlicher Veränderungen im inneren Leben eines Volkes. (…)

Allerdings beeinflusst das Ergebnis rückwirkend die Ursache. Die allgemeine Vereinsamung verursacht Graphomanie, die massenweise Graphomanie wiederum verstärkt und steigert die allgemeine Vereinsamung. Die Erfindung des Buchdrucks hat es der Menschheit ermöglicht, sich untereinander zu verständigen. Im Zeitalter der allgemeinen Graphomanie erhält das Bücherschreiben einen umgekehrten Sinn: jeder ist von seinen Buchstaben umzingelt wie von Spiegelwänden, durch die von außen keine Stimme mehr dringt.

Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen

Die Zeiten sind schlecht. Die Kinder gehorchen ihren Eltern nicht mehr und jeder schreibt ein Buch.

Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.)

PROLOG

Der Mann am Fuß meines Betts ist zu gut angezogen, um etwas anderes zu sein als ein Anwalt oder ein Zuhälter. Er liest sehr aufmerksam, also ist er wohl eher ein Zuhälter, denn Anwälte sind heutzutage eher damit beschäftigt, Romane zu schreiben anstatt sie zu lesen.

Über seinem Kopf, dicht unter der Decke, hängt ein moosgrüner Gecko als einziger Farbtupfer in diesem ansonsten völlig weißen Raum. Weiße Wände, weiße Fliesen. Die Jalousien, das Nachtschränkchen, die Laken, die Kacheln, die Tür – alles weiß.

Da es sich bei seiner Lektüre um ein Romanmanuskript handelt, ist die mir zugewandte Seite ebenfalls weiß.

Er schaut mich an.

»Du hast es echt drauf«, sagt er. Er legt das Manuskript zur Seite und hält eine Zeitung hoch. »Die sind einen Tag hinterher, aber man bekommt einen Eindruck.«

Die Titelseite der Zeitung wird beherrscht von einem verkohlten Krankenhausgebäude, das sich zur Seite neigt.

Ich greife mir Stift und Notizblock, die auf dem Nachttisch bereit liegen, und schreibe ein Wort darauf.

Rosie?

Er steht auf, geht ums Bett herum und nimmt mir den Block ab.

»Der Kleinen geht es gut«, sagt er. »Hat anscheinend ein bisschen Rauch in die Lunge bekommen, ist aber nichts Ernstes. Das wird wieder.«

Er faltet die Zeitung auseinander und blättert sie durch. »Zwischen den Zeilen lesen. Ihrer Ansicht nach wäre eine Anklage wegen Sachbeschädigung für dich am glimpflichsten. Das bedeutet, du musst auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Wenn du mit ›total durchgeknallt‹ anfängst und dann bei ›zeitweilig geistesgestört‹ endest, kommst du vielleicht in fünf Jahren wieder raus. Aber das wäre das bestmögliche Szenario.«

Ein Mensch kann sich nicht vor der Welt verstecken. Das lässt die Welt nicht zu. Die Schwerkraft ist unerbittlich. Entweder aufrechter Gang, mit erhobenem Kopf, oder gar nicht.

»Im schlimmsten Fall«, sagt er, »holen sie die ganz großen Knüppel aus der Kiste: Angriff auf staatliche Institutionen, Terrorismus, das ganze Programm. Es gibt zwar kein spezielles Gesetz gegen das Sprengen von Krankenhäusern, aber ich gehe mal davon aus, dass sie einigen Spielraum haben.«

Er hält inne. Die Klimaanlage summt vor sich hin. Durch das abgedunkelte Fenster dringt das leise Zirpen der Zikaden.

»Soweit die gute Nachricht. Die schlechte ist…« Er hält die Kommentarseite hoch und tippt auf das Editorial. »… dass sie der Meinung sind, du könntest unmöglich allein gehandelt haben. Sie gehen davon aus, dass du Helfer gehabt hast, vielleicht eine ganze Gruppe.«

Dem ist nichts hinzuzufügen. Dann wäre alle Mühe umsonst gewesen.

Er faltet die Zeitung zusammen und schiebt sie unter mein Kopfkissen. Greift nach dem Manuskript und legt es auf die blitzsaubere Bettdecke neben meine Hand.

Oben drauf platziert er einen roten Stift, so dass er den Titel »Die Babykiller« unterstreicht.

»Da du in den nächsten Tagen kaum hier wegkommst, dachte ich mir, du möchtest es vielleicht noch mal durchgehen. Und überlegen, ob wir nicht noch mehr Babys umbringen können.«

Mein Zitat für den heutigen Tag stammt von Samuel Beckett: Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.


Er taucht einfach auf, als hätte man ihn herbeigewünscht.

Ich sitze draußen auf der Terrasse neben dem Goldfischteich an einem milden Frühlingsmorgen, die Knospen sprießen, die Sonne geht auf, es wird ein warmer Tag. Die Bienen summen, der Springbrunnen gurgelt vor sich hin wie ein zufriedenes Baby. Eine Tasse guten Kaffee in der Hand. Gerade denke ich noch, dass alles so ist, wie es sein soll, da fällt ein Schatten auf die vor mir liegenden Blätter. Als ich aufschaue und meine Augen gegen die Helligkeit abschirme, steht er da, schüchtern und mit einem leicht blöden Grinsen im Gesicht.

»Du erinnerst dich nicht mehr an mich«, sagt er.

Bestimmt verwechselt er mich mit einem anderen. Wir haben uns in den letzten Tagen zugenickt, wenn wir einander begegneten, in der Kantine oben im Großen Haus oder wenn wir auf dem Gelände unterwegs waren. Jedes Mal hatte ich den Eindruck, er warte darauf, dass ich ihn wiedererkenne, ihn freundlich anlächle und ihn auffordere, sich mit mir zu unterhalten.

So läuft das aber nicht bei mir. Ich bin hier, weil ich mich zurückziehen, mich abschotten, mich auf meine Arbeit konzentrieren will. In stiller Abgeschiedenheit und auf Eingebung hoffend.

Jetzt lehne ich mich zurück, schirme immer noch meine Augen ab, und stelle fest, dass er mir unbekannt ist. Ich höre, wie ich mich entschuldige, ich hätte schon immer ein schlechtes Personengedächtnis gehabt; Namen ja, ich hätte nie Schwierigkeiten, mich an die Namen von Leuten zu erinnern, aber Gesichter könne ich mir einfach nicht merken. Tatsächlich stimmt das gar nicht, das Gegenteil ist der Fall, aber selbst wenn es wahr wäre, hätte ich mich an diesen Kerl erinnert.

»Wahrscheinlich liegt es an der Augenklappe«, sagt er. »Außerdem war ich damals nicht blond.« Er hat sehr kurz geschnittenes platinblondes Haar, ein strahlend blaues Auge wie Paul Newman und breite Wangenknochen. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig. »Und ich war ungefähr acht Zentimeter kleiner.«

Er tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ein Mann sollte was hermachen.«

Ich hätte ihn für einen Dichter gehalten, wenn er nicht diese Motorradstiefel angehabt hätte. Aus irgendwelchen Gründen bevorzugen die Dichter hierzulande bequemes Schuhwerk.

»Ich nehme an, es ist kein Kaffee mehr übrig?«, fragt er.

Nur weil ich höflich sein will, und weil ich frischen Kaffee brauche, gehe ich über den Rasen in mein hübsches Häuschen und bereite zwei Tassen Kaffee vor. Während ich darauf warte, dass der Wasserkessel kocht, schaue ich durchs Fenster in den Garten, wo er sich gerade eine Zigarette stibitzt. Jede Wette, dass es nicht mehr lange dauert, bis er zu jammern anfängt, wie schwer er es im Leben hat und keiner ihn versteht.

 

Und ich denke noch, Mensch, vielleicht solltest du einfach mal etwas mehr Zeit am Schreibtisch verbringen, ein paar Sachen klären, anstatt dich herumzutreiben, von anderen was einzufordern und ihnen die Zigaretten zu klauen…

Die Wette: Wenn er innerhalb der nächsten zehn Minuten anfängt, über das Arts Council zu nörgeln, nehme ich mir den Nachmittag frei und gehe zum Angeln an den See.

Als ich zurück auf die Terrasse komme, starrt er in den Teich.

»Hören Sie mal«, sage ich. »Das wird jetzt langsam peinlich und…«

Er dreht sich um, wirft mir einen trotzigen Blick zu. »Karlsson«, sagt er.

»Und wir haben uns schon mal getroffen«, sage ich zweifelnd und puste auf meinen Kaffee.

»In gewisser Weise.«

»Da komme ich jetzt nicht ganz mit.« Gleichzeitig wird mir klar, dass er mich übers Internet kennen könnte, wegen des Blogs, den ich schreibe, in dem es um die neuesten Entwicklungen in der irischen Krimiszene geht. Der Name Karlsson kommt mir nicht bekannt vor. Vielleicht kenne ich ihn unter einem anderen Namen, als virtuelle Identität.

»Ich würde mich doch an jemanden erinnern, der Karlsson heißt«, sage ich. »Sind Sie Schriftsteller?«

»Im Moment bin ich der böse Geist.«

»Ich verstehe schon, deshalb die Augenklappe und so.

Aber was waren Sie, als wir uns kannten?«

»Aushilfskraft.«

»Eine Aushilfe?«

»So eine Art Mädchen für alles im Krankenhaus.«

Ich greife nach dem Tabak und drehe mir eine. Nehme einen Schluck Kaffee und warte auf ein Zucken oder eine winzige Andeutung, die ihn verrät. Er starrt mich einfach nur an.

»Sie sind also dieser Karlsson?«

»Genau der, ja.«

»Okay, ich will mal mitspielen. Sie sind Karlsson. Was kann ich also für Sie tun?«

»Du könntest mir erst mal erzählen, was passiert ist.«

»Mit Karlsson? Nichts.« Ich erkläre ihm, dass ich die erste Fassung immer ausdrucke und dann für sechs Monate weglege. Ohne Ausnahme.

»Meinetwegen«, sagt er. »Aber das ist jetzt fast fünf Jahre her. Ich war achtundzwanzig, als du den Text geschrieben hast. Und ich weiß doch, dass du nicht aufgehört hast zu schreiben. Ich hab dein neuestes Buch gesehen, The Big O, es kam vor einigen Jahren in den Buchhandel.«

»Es hat sich eben alles anders entwickelt. Ist nicht böse gemeint.«

»Ich hab nie geglaubt, dass du das freiwillig getan hast«, sagt er. »Damit du es weißt: Ich befinde mich hier im Fegefeuer.«

Er schiebt den Zeigefinger unter die Augenklappe und kratzt etwas weg.

»Du musst veröffentlichen, sonst bin ich verdammt.«

Karlsson war eine Aushilfskraft im Krankenhaus, er half alten Menschen, die ihn darum baten, beim Sterben. Seine Freundin Cassie fand es heraus. Dann mischten die Bullen sich ein, weil Cassie anonym mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte, bevor sie ihn zur Rede stellte. Die Bullen waren allerdings mehr daran interessiert, wo Cassie nun abgeblieben war.

»Wie geht’s Jonathan?«, frage ich.

»Jonathan?«

»Jonathan Williams. Mein Agent oder ehemaliger Agent. Soweit ich weiß, ist er der Einzige, der das Manuskript je zu Gesicht bekam. Es sei denn, er hat es an einen Außenlektor zur Beurteilung gegeben.«

Ich vermute, dass dieser Typ hier ein schräges Theaterstück aufführt, indem er die Identität von Karlsson annimmt, einer unveröffentlichten Romanfigur, die durch Raum und Zeit wabert. Nicht dass es mich besonders stört, auf der Bühne könnte es ein ziemlicher Spaß sein, aber es wäre mir lieber, Jonathan hätte mich um Erlaubnis gefragt, bevor er das Manuskript zur Bearbeitung weitergab.

»Ich kenne keinen Jonathan Williams«, sagt er. »Wie sollte ich auch? Ich befinde mich hier im Fegefeuer.«

»Stimmt ja. Und dieses Fegefeuer hält Sie davon ab, für die Rechte am Originalstoff zu zahlen?«

Etwas Dunkles flammt im hellblauen Paul-Newman-Auge auf. »Glaubst du etwa, das hier ist ein Scherz?«

»Ehrlich gesagt, kommt es mir eher wie eine Tragikomödie vor. Keine ausgereifte Tragödie, aber durchaus anrührend, ja.«

»Siehst du, genau das ist ja das Problem«, sagt er. »Es ist überhaupt nicht ausgereift.«

So langsam mag ich ihn. Nicht nur, dass er Karlsson ziemlich gut spielt, er kritisiert auch das Stück, in dem er spielt.

»Vielleicht haben Sie Recht«, lenke ich ein. »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich mir nicht sicher, ob ich jemals die Absicht hatte, es zu veröffentlichen. Es war einfach irgendwelches Zeug, das ich damals schreiben musste, um die leeren Seiten vollzukriegen. Heutzutage schreibe ich Komödien. Zum einen ist es leichter. Und außerdem macht es mehr Spaß. Das Leben ist schon beschissen genug, warum sollen die Leute ihre kostbare Zeit damit verschwenden, solche morbiden Sachen zu lesen.«

»Moment mal«, unterbricht er mich. »Willst du damit sagen, dass du es nie abgeschickt hast?«

»Immerhin hab ich es nicht weggeschmissen.« Er hat eine gewisse Ausstrahlung, das muss man ihm lassen, eine Intensität, neben der ich mir zaghaft, lächerlich und kleinmütig vorkomme. »Soll heißen, ich habe es Jonathan gegeben.«

»Und was hat er gesagt?«

»Er sagte, er hätte vorher noch nie so etwas gelesen. Er meinte, dass er ungefähr in der Mitte aufgehört hätte, sich Notizen zu machen. Er las es nur noch durch. Ich glaube, dieser ganze perverse Sex hat ihn ziemlich aufgewühlt.«

»Das ist doch gut, oder?«

»Nicht bei der heutigen Marktsituation. Agenten in Aufregung zu versetzen ist nicht mehr cool.«

»Und er hat es nicht noch mal gelesen?«

»Wollte er, aber ich habe ihn davon abgebracht. Weil ich ihm The Big O gab.«

Wir sitzen schweigend da. Die Sonne scheint auf die Hügel im Süden, und die Umgebung erwacht zum Leben. Die Clematis knospen, rosa Apfelblüten gehen auf, Schneeglöckchen und Narzissen wiegen sich im sanften Wind, der vom See herweht. Ab und zu schimmert es orange im Teich, wenn Weißer Hai und Moby Dick, die beiden Koi-Karpfen, dicht unter der Oberfläche schwimmen. Die Fontäne plätschert vor sich hin.

»Und wie hat sich The Big O verkauft?«, fragt er und schaut den Hügel hinauf zum Krankenhaus, dessen Glasfront das Licht der aufgehenden Sonne reflektiert.

»Es lief ganz gut, ja. Die Rechte gingen in die Staaten. Zweibuch-Vertrag mit anständigem Vorschuss.«

»In die Staaten?«

»Ja. An Harcourt. Allerdings wurde der Verlag von Houghton Mifflin aufgekauft und mein Lektor gefeuert, weshalb sie drüben nicht sehr viel dafür getan haben. Aber es gab einige wohlwollende Kritiken, die wir für den Umschlag des zweiten Buchs verwenden können.«

»Und daran schreibst du jetzt gerade.«

»Ganz genau.«

»Und was wird aus mir?«, fragt er. Die vergessene Zigarette brennt zwischen seinen Fingern ab.

»Keine Ahnung.«

»Du kannst mich doch nicht einfach hier hängenlassen.«

»Ich verstehe Sie ja. Aber ich bin jetzt erst mal damit beschäftigt.« Ich deute mit dem Kopf auf die Manuskriptseiten, die auf dem Tisch liegen. »Ich habe einen Abgabetermin. Ich kann nicht einfach aufhören und mit was Neuem anfangen.«

»Wenn es gut genug ist«, sagt er, »werden sie schon drauf warten.«

»Das bezweifle ich. Die Buchindustrie hat sich in den letzten fünf Jahren enorm verändert. Sie glauben ja nicht, wie schwierig alles geworden ist. Außerdem habe ich jetzt mehr Verantwortung. Ich bin verheiratet. Und wir haben eine Tochter. Sie heißt Rosie.«

Er gratuliert mir widerwillig.

»Worauf ich hinauswill«, sage ich, »ist Folgendes: Ich kann mir nicht leisten, mich mit etwas zu beschäftigen, dass kommerziell betrachtet keine Chancen hat. Oder, um ganz ehrlich zu sein, mit etwas, das mir keinen Spaß macht. Diese düsteren Sachen zu schreiben, ist harte Arbeit. Und wenn Sie das nicht…«

»Wer ist wohl schuld daran, dass es so düster ist?«

»Ich natürlich. Aber…«

»Nichts aber. Wenn du es düster gemacht hast, kannst du es doch auch lustig machen. Geh einfach noch mal drüber.«

»Was soll denn an Sterbehilfe lustig sein?«

»Hör mir einfach mal kurz zu«, sagt er. »Wäre das möglich? So viel bist du mir mindestens schuldig.«

»Ich höre ja zu.«

»Also«, sagt er. »Ich bin nicht so ein Mensch. So wie dieser Karlsson, meine ich. Ich habe sogar meinen Namen geändert, als ich meine Haare färben ließ. Ich heiße jetzt Billy.«

»Billy?«

»Ich versuche, alles um mich herum zu normalisieren.«

»Dann ist die Augenklappe aber zu viel des Guten.«

»Die hab ich nur aufgesetzt, um deine Aufmerksamkeit zu erregen.« Er nimmt die Klappe ab. Darunter befindet sich eine leere Augenhöhle, eine faltige violette Wunde, die mich an eine Dörrpflaume erinnert. Er sucht in den Taschen seiner Reißverschlussjacke und zieht schließlich eine getönte Brille hervor, die er aufsetzt.

»Was ist denn mit Ihrem Auge passiert?«, frage ich.

»Das würdest du mir sowieso nicht glauben. Aber egal – dieser Karlsson, das bin nicht ich. Nicht mehr jedenfalls. Aber ich glaube nicht, dass ich jemals so war. Ich meine, ich mochte Cassie. Sehr sogar. Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich sie nicht umgebracht, bloß um mit dieser Sterbehilfe weitermachen zu können. Eine Schwuchtel hätte ich vielleicht umgebracht. Die alten Leute, das war eine Sache, die wollten ja sterben, und ich half ihnen nur dabei. Aber Cassie? Niemals.«

»Ich habe nie behauptet, dass Sie sie getötet haben.«

»Nein, aber du hast es angedeutet.«

»Soweit ich mich erinnere, habe ich Ihnen ein Happy End beschert. Sie sind davongekommen. Der ermittelnde Bulle verfiel dem Wahnsinn und verlor sich in seinen Theorien über Geburtenkontrolle. Er war ein großer Fan der Chinesen, wenn ich das richtig erinnere.«

»Nicht mal ich hab das geglaubt«, sagt er. »Der Schluss war eine einzige Katastrophe.«

Ich muss zugeben, dass er Recht hat.

»Du kannst das wirklich besser«, sagt er.

»Nicht mit Ihnen.«

»Nicht ich bin das Problem, Mann. Die Geschichte ist das Problem.«

»Die Geschichte ist so, wie sie ist. Und sie ist zu Ende erzählt.«

»Ich hab den Schlusschor aber noch nicht gehört.«

Ich drücke meine Zigarette aus. »Hören Sie mal, äh, Karlsson. Ich muss jetzt…«

»Billy.«

»Billy, gut. Hör mal, Billy. Ich muss jetzt los. Deborah kommt heute noch vorbei, und ich muss vor dem Mittagessen ein paar Seiten schaffen. Also…«

»Die Geschichte war viel zu durchgeknallt.« Er hebt eine Hand, um mich aufzuhalten. »Viel zu überkandidelt, aber nicht groß genug. Außerdem hast du mich als Vollidioten dargestellt. Das kann man alles noch ändern.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«

»Sag mir mal eins, bitte. Wie oft hast du in den letzten fünf Jahren an mich gedacht?«

»Ich hab schon ab und zu an dich gedacht. Und ich wünschte…«

»Ich weiß, wie man die Geschichte größer aufziehen könnte. Allerdings musst du mir gegenüber ehrlicher sein. Wenn es funktionieren soll, muss ich wirklicher werden. Mehr ich sein, verstehst du?«

»Im Moment sitzt du mir gegenüber und rauchst meine Zigaretten.« Auch wenn er mich von meiner Arbeit ablenkt, muss ich zugeben, dass seine Unverschämtheit mich beeindruckt. »Ich weiß nicht, ob ich mit dir klarkäme, wenn du noch realer wärst.«

»Weil ich jetzt Billy bin. Karlsson ist ja nie in Erscheinung getreten, oder?«

»Nein, er tauchte nie auf.«

»Ja, eben. Er hätte wahrscheinlich die kleine Rosie entführt und sie gefoltert, bis du die Geschichte so umgeschrieben hättest, wie er es will.«

»Also weißt du, ich glaube, Karlsson war mit sich ganz zufrieden. Ich glaube nicht, dass er ein Problem damit hatte, was mit Cassie passiert ist.«

»Weil der Kerl ein Psychopath war.« Er zuckt mit den Schultern. »Wer will denn so leben?« Er beugt sich vor, nimmt die Sonnenbrille ab und starrt mich aus seinem Paul-Newman-blauen Auge an. »Glaubst du nicht, dass ich auch gern mal mit einem kleinen Mädchen wie Rosie spielen möchte?«

»Wirklich?«

»Keine Ahnung.« Er lehnt sich zurück und setzt die Brille wieder auf. »Ich spüre es nicht, falls du das damit meinst. Aber es heißt ja, dass Männer erst zu Vätern werden, wenn ihr Kind auf die Welt gekommen ist, vielleicht sogar erst ein bisschen später.«

 

»Das war bei mir der Fall, ja.«

»Sieh mal, ich will ja nichts weiter als eine zweite Chance haben, um herauszufinden, ob ich es diesmal schaffe.«

»Aus dem Fegefeuer.«

»Genau. Vielleicht, wenn ich eine schriftliche Erlaubnis von diesen alten Leuten bekomme. Dann könnte ich sie Cassie zeigen, wenn sie das mit der Sterbehilfe herausgefunden hat. Das wäre ein erster Schritt.«

»Ich würde dir und Cassie ja gern helfen. Aber das würde die grundlegende Idee der Geschichte nicht ändern.«

»Das ist wieder eine andere Sache«, sagt er. »Ich glaube, du brauchst eine ganz neue Grundidee. Also echt jetzt, ein Handlanger im Krankenhaus, der alte Leute umbringt? Über so was wird ständig in den Zeitungen berichtet. Wer will denn darüber ein Buch lesen?«

»Ich schätze, es kommt darauf an, wie interessant der Mörder ist.«

»Also jetzt mal ehrlich: Du bist keine Patricia Highsmith.«

Ich gebe zu, dass ich das nicht bin, erinnere ihn aber daran, dass ich komödiantische Kriminalgeschichten schreibe.

»Wenn du meine Meinung wissen willst«, sagt er, »dann funktionieren Geschichten am besten, wenn es eine besondere Spannung gibt zwischen dem Leser und der Hauptfigur, die er sympathisch findet, die aber Dinge tut, die er normalerweise nicht toleriert. Wie König Lear…«

Er zählt an den Fingern einer Hand ab. »… Raskolnikow, Hazel Motes, Long John Silver, Tom Ripley…«

»Ich versteh schon, was du meinst.«

»Dein Fehler war, dass du Karlsson als kranken Idioten beschrieben hast. Niemand mit einem Funken Verstand im Hirn kann so jemanden mögen.«

»Okay, nehmen wir also mal an, ich mache dich sympathischer. Was dann?«

»Wir jagen das Krankenhaus in die Luft.«

Nach dem Mittagessen strecken wir uns auf der Terrasse aus. Ich erzähle Debs, dass mir der Gedanke gekommen sei, die Karlsson-Geschichte zu überarbeiten.

»Karlsson?«

Ich klebe Rosies Windel zu und schließe die Knöpfe ihres Stramplers. »Der Kerl aus dem Krankenhaus.«

Sie muss eine Weile nachdenken. »Der Typ, der die ganzen alten Leute umgebracht hat?«

»Ich überlege, es in eine Komödie zu verwandeln. Aber mach dir keine Sorgen. Ich kann abends daran arbeiten, wenn die anderen Sachen erledigt sind.«

»Dein Vater ist ein Traumtänzer«, sagt sie zu Rosie. Die Kleine ist frisch gewickelt und gluckst wie ein verstopfter Ausguss.

»Ich muss es ja nur überarbeiten«, sage ich. »Nichts Großes.«

»Ich werde die Heiratsurkunde überarbeiten«, sagt Debs. Sie kitzelt Rosie am Bauch. »Aber keine Angst, das ist nichts Großes.«