Seewölfe - Piraten der Weltmeere 271

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 271
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-668-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

26. Juni 1592, nachts, westlich der Straße von Gibraltar.

Es war, als habe sich der Atlantik gegen die Seewölfe verschworen, gegen jene Männer und die beiden Jungen, die unter Philip Hasard Killigrew quer durchs Mittelmeer gesegelt waren, nur ein Ziel vor Augen: die Hafenstadt Plymouth im Südwesten Englands.

Gegen den Atlantik war das Mittelmeer eine Pfütze. Abends, gegen zehn Uhr, hatte er begonnen, seine grimmigen Zähne zu zeigen. Der ganze Sektor im Westen war eine schwarze Wand gewesen. Sie hatte Vorreiter losgejagt – Böen, die ostwärts jaulten und die See aufrissen, so daß es aussah, als fletsche der Atlantik die Zähne.

Es schien, als hole der Atlantik tief Luft, um die Seewölfe mit ihrer lächerlichen Tartane wieder ins Mittelmeer zurückzuspucken.

Da hatten sie also vor wenigen Stunden den Durchbruch in den Atlantik geschafft und in einem letzten wilden Gefecht die einzige Feluke, die sie noch verfolgt hatte, zu den Fischen geschickt, und jetzt schlug der Atlantik zu.

Big Old Shane, der Riese von Arwenack-Castle, der nach dem Gefecht das Ruder übernommen hatte, hämmerte die Rechte vor Wut auf die Pinne.

„Hol’s der Henker!“ brüllte er zu Hasard hinüber, der mit schmalen Augen und zusammengepreßten Lippen zu dem dreieckigen Großsegel hochstarrte, dessen lange Gaffelrute jetzt wie ein riesiger Bogen gespannt war. „Das verdammte Ding muß runter, sonst fliegt uns bei der nächsten Bö alles um die Ohren!“

Hasard knurrte wie eine gereizte Dogge und wandte den Kopf dem Riesen zu. „Und wie willst du dann Höhe laufen, du Waldschrat? Irgendwo an Steuerbord ist die spanische Küste. Wenn wir das Groß wegnehmen und nur mit der Fock segeln, drücken uns die Böen auf Legerwall. Ich hab verdammt keine Lust, bei den Dons an die Haustür zu klopfen. Geht das in dein Hirn?“

Big Old Shane fluchte wild und stemmte sich mit der ganzen Wucht seiner Hünengestalt gegen die Pinne. Sie segelten über Steuerbordbug hart am Wind, und diese einmastige Tartane hatte einen gewaltigen Drang, anzuluven und in den Wind zu schießen. Im Mittelmeer hatte sie gut und ausgetrimmt auf dem Ruder gelegen, aber das Mittelmeer war eben eine Pfütze. Da war der Atlantik ein anderer Bursche, hart, hackig und wild. Und der Seegang wurde immer ruppiger.

Klar, nahezu drei Viertel der Fläche des Großsegels lagen etwas zu weit achtern. Da war es kein Wunder, wenn die Tartane bei hartem Wind und noch härteren Böen anluvte und den Bugspriet in den Wind drehte.

Um das zu verhindern, mußte Big Old Shane Gegenruder geben, was wiederum bewirkte, daß die Tartane nicht volle Fahrt laufen konnte. Da arbeitete das Ruderblatt wie eine Bremse.

„Scheißsegelei!“ brüllte Big Old Shane.

Ja, wenn sie ihre alte „Isabella“ noch gehabt hätten! Aber die wurde vom Wüstensand mumifiziert. Und wie hatten sie sich alle nach der freien See gesehnt, als ihnen der Nil zum Halse heraushing. Jetzt hatten sie die freie See erreicht, und sie zeigte sofort, wie sie zuschlagen konnte, daß ihnen die Gischtfetzen nur so um die Ohren flogen.

„Scheißkahn!“ brüllte Big Old Shane.

Na ja, er war eben nicht so einfallsreich wie der alte Carberry mit seinen Sprüchen.

„Sonst noch was?“ schrie Hasard zurück.

„Ja, das Groß muß runter!“

„Das sagtest du bereits. Wollen wir nach England oder nach Spanien?“

„Doch nicht mit dieser Gurke von Schiff!“ fauchte Big Old Shane erbost.

Himmel, ja, dachte Hasard. Das war auch so ein Problem. Diese Tartane war durchaus seetüchtig, aber sie war fürs Mittelmeer, nicht für den Atlantik gebaut. Sicher, man konnte mit ihr an der Küste entlang nordwärts schleichen. Aber das brachte nichts. Und brausten die Windsbräute aus westlichen Richtungen, dann wurde es gefährlich – wie jetzt! Es war zum Knochenkotzen. Und Big Old Shane hatte völlig recht, wenn er sich die Seele aus dem Leib fluchte.

Die Gestalten der Männer waren in dieser wilden, von Böen gepeitschten Nacht wie Schemen. Hasard spürte, daß sie zu ihm hinstarrten und auf eine Entscheidung warteten. Die Zwillinge lagen gottlob in einer der Kojen im Vordeck und schliefen. Und wenn sie einmal schliefen, dann konnte es junge Hunde stürmen, sie wachten nicht auf.

Hasard tastete über die rechte Schulter. Da war die Schnittwunde von dem Messer, das einer dieser üblen Kerle vor zwei Tagen nach ihm geworfen hatte. Schiffbrüchige! Der Teufel sollte sie holen. Verludertes Pack war das gewesen, scharf darauf, die Tartane zu entern. Und dann hatte die Wunde geeitert, und Big Old Shane hatte es ihm besorgt – mit seiner eisenharten Faust. Ins Reich der Träume hatte er ihn geschickt, weil er den Eiterherd aufschneiden mußte.

Die Schulter tat verdammt weh, aber er war fieberfrei. Das Kinn und der Kopf taten auch weh. Dreimal hatte ihn Big Old Shanes Faust narkotisiert.

Hasard riß sich aus seinen Gedanken, als eine Bö in die Segel hieb und die Tartane nach Lee legte. Das Wasser gurgelte über das niedrige Schanzkleid und schwemmte über das Deck.

Old Shane war wieder am Fluchen.

Ein Schatten hangelte sich auf Hasard zu. Ein Glück, daß sie bereits die Manntaue gespannt hatten. Vor Hasard tauchte Dan O’Flynns Gesicht auf, schmal und hart und verbissen. In seinen Augen flammte ein wilder Trotz. Da wußte Hasard, daß zumindest Dan entschlossen war, auf Biegen oder Brechen weiterzusegeln – mit dem Groß.

Allerdings gab es eine Alternative, und genau das war die Entscheidung, vor der Hasard stand.

„Laß das Groß oben!“ schrie ihm Dan ins Gesicht. „Entweder schaffen wir es, oder wir segeln den Mast ab!“

„Und was hältst du von der dritten Möglichkeit?“ schrie Hasard durch das Jaulen und Pfeifen des Windes.

„Bist du wahnsinnig?“

„Kaum, ich bin nämlich nicht lebensmüde.“

Die dritte Möglichkeit!

Die Entscheidung!

Diese Entscheidung bedeutete nichts anderes, als das Großsegel – unter Umständen auch die Fock – wegzunehmen und vor Topp und Takel zu lenzen, das heißt, vor dem Wind herzulaufen – zurück in die Straße von Gibraltar, denn dort war keine Küste, an der sie zerschmettert werden konnten, sondern die Weite des Mittelmeers – Leeraum, den ein Schiff braucht, wenn es sich dem Wind beugt und treiben läßt.

Diese Entscheidung bedeutete aber auch – und das war der Punkt, der Dan O’Flynn so rabiat werden ließ –, daß ihr so hart und mühsam erkämpfter Durchbruch durch die Straße von Gibraltar umsonst gewesen war – eine Überlegung, die auch Hasards Trotz herausforderte. Wahrscheinlich erging es auch seinen Männern so – bis auf Big Old Shane, der bereits gefordert hatte, das Groß wegzunehmen.

Wenn er das forderte, dann wußte er auch, welche Konsequenz sich daraus ergab, nämlich den Seeraum, den sie gewonnen hatten, wieder zu verlassen und vor dem Sturm her in das verdammte Mittelmeer zurückzusegeln oder vor Topp und Takel zu lenzen, was auf das gleiche hinauslief.

Darum fluchte er auch so erbittert.

Das war, als habe man eine Festung erstürmt – und dann kapitulierte man. Der Vergleich hinkte gar nicht mal, denn es war Uluch Alis Piratenbande gewesen, die den Durchbruch der Seewölfe hatten verhindern wollen. Seit Sizilien hatten sie sich mit den Kerlen herumgeschlagen und das Unwahrscheinliche geschafft, die freie See zu erreichen.

Sollte das alles umsonst gewesen sein?

Das alles schoß Hasard durch den Kopf, während gleichzeitig alle seine Sinne auf das Toben der Elemente gerichtet waren. Was tat sich da? Legte der Wind noch zu? Wann brach die überlange Gaffelrute unter dem furchtbaren Druck? Die Gaffelrute, das war der neuralgische Punkt dieser Tartane, nicht der Mast, wie Dan O’Flynn meinte. Das war ein Pfahlmast – ein Stummel im Vergleich zu den Masten der alten „Isabella“, die sowieso überlang gewesen waren.

Diese Gaffelrute bestand zwar aus drei sich jeweils überlappenden Spieren, die aneinandergelascht waren, was ihre Flexibilität ungemein erhöhte, aber hier galt jetzt der alte Spruch der englischen Bogenschützen: Allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen.

In Hasards Gedanken hinein brüllte Dan O’Flynn: „Laß das Großsegel oben, Sir, sonst ist alles umsonst gewesen!“

Alles umsonst? Das war es auch, wenn ihnen die Gaffelrute davonflog und vielleicht alles mitriß. War die Tartane erst einmal ein Spielball der Wellen, hatten sie sowieso keine Chance mehr. Im Moment kletterte sie mühsam an einem Wellenhang hoch – nach Lee geneigt, das Schanzkleid schleifte durchs Wasser. Um die Männer herum tobte ein Höllenkonzert. Die See schimmerte weiß, als koche sie über. Auf dem Kamm verharrte die Tartane, als zögere sie, sich in die brodelnde Tiefe zu stürzen. Aber dann neigte sie den Bugspriet und raste in wilder Fahrt zu Tal.

 

Hasard biß die Zähne zusammen. Oben auf dem Wellenkamm hatte er es gespürt – der Wind war noch stärker geworden, der Seegang hatte zugenommen.

Die Natur nahm ihm die Entscheidung ab. Anders herum: sie zwang ihn, zu handeln. Jetzt wurde es gleichgültig, ob sie wieder ins Mittelmeer zurückgefegt wurden. Wichtiger war, zu überleben.

Sie mußten sich dem Sturm beugen.

Hasard fuhr zu Dan O’Flynn herum und schrie: „Weg mit dem Groß und der Fock, Mister O’Flynn! Das ist ein Befehl, verstanden?“ Und zu Big Old Shane hinüber brüllte er: „Shane, paß auf! Wir nehmen alles Zeug weg! Versuche, ganz hart am Wind zu bleiben – nahe am Killen, damit wir die Tücher runterkriegen. Und dann herum mit dem Ruder und Gegenkurs. Wir lenzen vor Topp und Takel, achtern werden Schleppleinen ausgebracht. Alles klar?“

„Alles klar!“ donnerte der Riese. „Wurde auch höchste Zeit!“

Sie packten alle mit an – Gary Andrews, Batuti, Matt Davies, Dan O’Flynn. Und Hasard selbst. Daß dabei die Schnittwunde wieder aufbrach, bemerkte er nur am Rande. Die lange Gaffelrute gebärdete sich wie verrückt, als sie nach unten weggefiert wurde. Sie stürzten sich über das wild schlagende Segel, begruben es unter sich, um es zu bändigen, und tuchten es auf, so gut es in der Dunkelheit und dem Tosen um sie herum ging. An der Gaffelrute wurde das Segel beigezeist.

Sofort, als das Großsegel unten war, drückte der Wind die Tartane mit dem Bug nach Lee. Da stand die Fock noch, die jetzt wie ein Hebel wirkte und dazu beitrug, die Tartane vor den Wind zu bringen.

„Gary, wirf das Fall los!“ brüllte Hasard. „Sonst kriegen wir die Fock nie runter!“

Es wurde höchste Zeit, alles mußte blitzartig geschehen. Lagen sie einmal vor dem Wind, und die Fock stand noch, dann würde die Tartane wie ein störrischer Gaul durchgehen – und sich auch so benehmen. Da bestand immer die Gefahr des Querschlagens. Wie der Einmaster darauf reagieren würde, war fraglich – entweder wurde das Luvschanzkleid zerschmettert, oder die Tartane kenterte.

Diese Fock war kein Sturmsegel, sondern ein ziemlicher Apparat. Mit so einem Ding vor dem Sturm herzulaufen und Kurs zu halten, war schier unmöglich.

Aber sie schafften es. In Sekundenschnelle warf Gary Andrews das Fall los, und bevor die Fock auf und davon fliegen konnte, rissen sie das Tuch an Deck hinunter, lösten die Schoten und stopften die Fock ohne lange Umstände in eine Luke.

Batuti und Matt Davies belegten zwei Trossen an den Heckpollern auf beiden Seiten der Tartane und ließen die Leinen ausrauschen. Sofort benahm sich die Tartane manierlicher, ihre Höllenfahrt wurde gebremst.

Sie konnten aufatmen, das um so mehr, weil sie bemerkten, daß Hasard tatsächlich im letzten Moment den Befehl zum Segelbergen gegeben hatte. Denn kaum lag die Tartane auf Ostkurs und damit vor Topp und Takel, nahm der Sturm zu. Regen setzte ein und fegte waagerecht über sie weg. Die Tartane gierte und bockte, aber die Schlepptrossen hielten sie fest.

Hasard ließ noch eine ausbringen, die sie mittschiffs um den Mast belegten.

„Jetzt wäre ein Rum fällig“, knurrte Matt Davies und fuhr sich mit der gesunden linken Hand – rechts hatte er die Hakenprothese – über das von Regen und Salzwasser triefend nasse Haar. Dabei blinzelte er Hasard an.

Der blinzelte zurück. „In Ordnung, Matt. Dann hol das Fäßchen und sechs Mucks.“

Matt verschwand grinsend im Vordeck.

Sie versammelten sich bei Big Old Shane, teils erlöst, teils grimmig.

„Na also“, sagte Big Old Shane. Er stand breitbeinig da, die Ruderpinne unter den rechten Arm geklemmt.

„Was heißt hier ‚na also‘?“ sagte Dan O’Flynn gereizt. „Hast du noch nicht kapiert, daß wir uns auf dem besten Weg zurück ins Mittelmeer befinden?“

„Na eben“, erwiderte Big Old Shane mit stoischer Ruhe. „Da sind wir lange nicht gewesen, oder? Reg dich ab, Kleiner!“

„Der Teufel ist …“

„… dein Kleiner“, unterbrach ihn Big Old Shane grinsend. „Ich weiß, ich weiß. Meinst du, ich jubele, daß wir auf einem Kurs liegen, der alles andere als auf England gerichtet ist? Aber ich hab ja schon immer gesagt, wer gegen den Wind pißt, kriegt nasse Hosen. Wenn’s mal nur die Hosen wären, ha! Wie’s jetzt pustet, hätten wir uns mehr als einen nassen Hintern geholt. Wassermann hätten wir jetzt gespielt, kapiert? Wassermann ist gleich Wasserleiche, damit auch das klar ist. Im übrigen haben wir nun ja Übung, diese verdammte Straße zwischen Spanien und Afrika zu durchsegeln, einmal in diese Richtung, einmal in die andere. Wenn’s aufhört, zu wehen, gehen wir auf Gegenkurs.“

„Mahlzeit“, knurrte Dan O’Flynn. Er war in dieser Nacht besonders verbiestert. Die Aussicht, „Wassermann“ zu spielen, wenn Hasard nicht das Manöver des letzten Augenblicks befohlen hätte, kratzte ihn nicht im geringsten.

Matt brachte das Fäßchen, verteilte die Mucks und übernahm auch gleich das Einschenken. Eine Muck bis zum Rand voll mit Rum, das war schon was. Hasard sagte nichts.

Matt setzte das Fäßchen ab, nahm seine Muck, die Batuti solange gehalten hatte, hob sie und fragte: „Und auf was trinken wir?“

„Hm.“ Hasard überlegte, aber ihm fiel nichts Passendes ein.

„Soll ich’s sagen?“ fragte Matt.

„Schieß los!“

„Auf dich“, sagte Matt.

„Auf mich? Wieso das denn?“

„Weil du im letzten Moment das Richtige tatest, darum.“

Hasard grinste schief. „Mister O’Flynn ist da gegenteiliger Meinung.“

„Der hat ja auch ’n Hai verschluckt und ’ne Rah vorm Schädel“, sagte Matt ungerührt. „Prost, Sir, mögest du uns recht lange erhalten bleiben!“

Sie tranken ihrem Kapitän zu, ganze fünf Mann der früheren 24köpfigen Crew, die ein erbarmungsloses Schicksal auseinandergerissen hatte. Ob sie je wieder zusammenfanden, das stand in den Sternen. Aber diese fünf Mann hier, die dachten nicht daran, sich kleinkriegen zu lassen, auch wenn der Sturm sie zwang, einen Kurs zu nehmen, den sie alle verfluchten.

„Ah“, sagte Big Old Shane und wischte sich über den Mund. „Das ist was …“ Und dann fluchte er wild und starrte auf Hasards rechte Schulter. „Du blutest ja wieder! Dan, übernimm die Pinne, ich muß den Alten verarzten.“

„Bleib ja mit deinen Fäusten von meinem Kopf weg“, drohte Hasard.

„Ich will ja nicht an dir herumschnippeln“, sagte Big Old Shane, „sondern nur das Bluten stoppen. Du brauchst einen neuen Verband, und von jetzt ab läßt du die Pfoten weg, wenn wir ein Alle-Mann-Manöver durchführen. Warum mußtest du denn auch dazwischenfummeln, als wir die Segel bargen, verflucht und geteert!“

Big Old Shane redete sich mal wieder in Wut, was bewies, wie sehr er um Philip Hasard Killigrew besorgt war, den er von klein auf damals auf der Feste Arwenack über Falmouth in Cornwall unter seine Fittiche genommen hatte – wissend, daß dieser jüngste Killigrew ein „Bastard“ war, allerdings einer, der seinen drei Stiefbrüdern, diesen verdammten Ferkeln, körperlich, geistig und charakterlich haushoch überlegen war.

Hasard lächelte nur und ließ sich von Big Old Shane zum Vordeck schieben. Er schaute kurz zu den Zwillingen hinein. Die pennten wie die Murmeltiere. Nur Arwenack, der Schimpanse, wachte und schnitt ein Gesicht zum Gotterbarmen. Von Stürmen hatte er noch nie was gehalten.

Hasard strich ihm beruhigend über den Rundschädel.

„Schon gut, Alter“, sagte er, „du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir schaffen das schon.“

Arwenack ergriff Hasards Hand und hoppelte mit. Er ließ die Hand auch nicht los, als Big Old Shane die Schnittwunde neu verband.

2.

In dieser wüsten Sturmnacht, in der die Seewölfe vor Topp und Takel lenzten und nach Süden getrieben wurden, durch die Straße von Gibraltar hindurch, wo sich Atlantikströmung und Sturm noch steigerten, weil sie wie durch einen Schlauch gepreßt wurden, in dieser Nacht also befand sich noch jemand auf der jetzt nackigen, kurzen See des Mittelmeers.

Allerdings führte er kein Schiff denn das hatten ihm die englischen Christenhunde an dem Nachmittag, bevor diese Nacht begann, buchstäblich unter den Füßen versenkt.

Nein, der Mann hatte kein Schiff mehr, obwohl er für gewöhnlich nur mit dem kleinen Finger zu winken brauchte, um zwanzig, dreißig, vierzig oder noch mehr Schiffe um sich zu versammeln.

Dieser Mann hatte nur eine lumpige Gräting, auf die er sich hatte retten können – allerdings auf die ruppige Art, weil sie bereits besetzt gewesen war.

Da er aber die Gräting für sich allein beanspruchte, hatte er die Kerle darauf – seine eigenen Kumpane – kurzerhand „abgeräumt“. Drei Männer hätten auf dem Ding, wenn auch etwas beengt, bestimmt Platz gehabt, aber hätte er, der Erhabene, die Rettungsinsel mit zwei stinkenden Schakalen teilen sollen?

Niemals! Ihm stand die Gräting zu, nur ihm und sonst niemandem.

Das Leben eines Uluch Ali war ja auch ungleich wertvoller als das eines räudigen, nichtsnutzigen Hurensohnes aus irgendeinem verlausten Hafen Nordafrikas. Sie hätten ja besser und tapferer kämpfen können, diese hündischen Mißgeburten!

Unter seinesgleichen oder bei gefangenen Giaurs bestimmte der erhabene Uluch Ali, Statthalter der Türken im nordafrikanischen Küstenraum und Gebieter über eine kaum schätzbare Zahl von Piraten und Schlagetots, ob man leben durfte oder zu Tode befördert werden sollte. Bei letzterem bestimmte er natürlich auch über die Art des Zutodebringens, was nach vorheriger Folter für die Ärmsten meist eine Gnade bedeutete, endlich davon erlöst zu werden und dieses Jammertal verlassen zu können.

Beim Kampf um die Gräting hatte Uluch Ali sein wahres Gesicht gezeigt, falls es seinen Kerlen noch unbekannt gewesen sein sollte. Aber das nutzte ihnen jetzt auch nichts mehr. Und bestimmt nicht hatte dieses letzte Erkennen vor ihrem Abgang aus dieser ihrer Welt des Mords und Totschlags dazu beigetragen, den Erhabenen in einem verklärten Licht zu sehen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie ihn in des Scheitans finsterste Hölle verdammt und ihm alle Tode gewünscht, die er über andere verfügt hatte.

Sollte das so gewesen sein, dann ging ein Teil davon in Erfüllung.

Denn über den Mann, der über Tod oder Leben anderer verfügt und bestimmt hatte, entschied jetzt, in dieser höllischen Nacht, etwas anderes, nämlich eine Macht, die stärker und mächtiger als der Erhabene war.

Der Erhabene?

Von diesem Thron hatten ihn die Elemente, sprich Luft und Wasser, bereits hinweggefegt wie ein welkes Herbstblatt. Die Windsbräute und die Wassergeister interessierte dieses kümmerliche Menschlein einen Dreck. Von Erhabensein und Bestimmen, wer leben durfte und wer nicht, war keine Rede mehr.

Uluch Ali, der Oberschnapphahn aller Schnapphähne der nordafrikanischen Küsten, der Mann, dessen Hinterlist, Rücksichtslosigkeit, Menschenverachtung und Brutalität kaum zu überbieten waren, mußte erkennen, daß ihn eine andere, stärkere Macht in den Klauen hatte und mit ihm spielte.

Ja, sie spielte mit ihm.

Sie griff mit leichten Fingern unter seine Gräting, wischte sie hoch und kippte sie um. Da hing er festgekrallt mit Füßen und Händen an dem Holzgitter unter Wasser, über sich die Gräting, um sich tobendes Wasser, aber keine Luft mehr. Nach der schnappte er in seiner Panik – aber er schluckte nichts weiter als salziges Wasser.

In ihm explodierte etwas, und als er sich unter Wasser erbrach, griffen die spielenden Finger wieder zu, warfen die Gräting herum, und er hatte das Glück, nicht mehr Fisch sein zu müssen.

Keuchend, röchelnd, pfeifend saugte er köstliche Luft ein. Gespreizt lag er auf der Gräting, fast wie ein Gekreuzigter. Seine Finger krallten sich um die Holzgitter, seine Füße verklemmten sich in den Würfeln, die das Gitterrost bildete.

Um ihn herum flog das Wasser. Die Gräting war nichts weiter als ein Spielball, der einen Irrsinnstanz aufführte.

Eine Minute brauchte er, um, wenn auch röchelnd, wieder atmen zu können. In der nächsten Minute verfluchte er Allah, Mohammed und alle Propheten, und in der dritten Minute wurde die Gräting wieder umgewischt. Was oben gewesen war, befand sich erneut unter Wasser – er auch, ein Mann unter einem Holzgitter, ein zum Tode Verurteilter, dessen Lebensspanne nur noch von Atemzug zu Atemzug reichte und rapide zusammenschrumpfte, je länger ihm der rettende Atemzug verwehrt blieb. Die Menschen waren nicht dafür eingerichtet, unter Wasser atmen zu können.

 

Der Mann Uluch Ali wußte nicht, daß ihm die Augen aus dem Kopf quollen. Er wußte auch nicht, daß sich die empfindlichen Organismen in seinem Körper dagegen wehrten, von der lebensspendenden Luft abgeschnitten zu werden. Sie zwangen ihn, nach Luft zu schnappen – und er gehorchte.

Jetzt war seine Lebensspanne nur noch knapp bemessen, eigentlich bestand sie schon gar nicht mehr, denn er saugte Wasser in seine Lungen. Wäre er noch bei Sinnen gewesen, hätte er gewußt, was die Folge sein würde – nämlich Tod durch Erstikken.

Aber er war nicht bei Sinnen, was ihn absurderweise noch einmal vor der letzten Schwelle bewahrte, die, einmal betreten, unwiderruflich war.

Sein Körper unter der Gräting bäumte sich zuckend auf, als das Wasser in seine Lungen trat, seine Hände und Füße lösten sich aus den Würfeln der Gräting, er schwamm, und eine Woge schwemmte sein Floß über ihm weg.

Er schoß an die Oberfläche, spuckte wieder Wasser und röchelte gleichzeitig nach Luft.

Die Elemente kicherten und jaulten und dröhnten um ihn herum. Er würgte und keuchte und lechzte nach Luft. Ja, sie war da und doch wieder weg, sie gönnte ihm ein kurzes Schnappen, aber Sekunden später prallte ihm klatschendes Wasser ins Gesicht und in den aufgerissenen Mund.

Luft – Luft!

Er schlug um sich, ruderte mit Armen und Beinen, raste einen Wellenberg hoch und stürzte in unendliche Tiefen, in Schlünde, die nicht aufzuhören schienen. Aber sie spien ihn auch wieder nach oben, wo die Luft sein mußte, der Himmel, die Sterne, nicht dieses mörderische, erstickende Wasser.

Seine Augen entdeckten keine Sterne und keinen Himmel. Da war nur Schwärze mit wechselnden Weißfetzen, die eigentümlich fluoreszierten und merkwürdige Gestalten zu bilden schienen. Daß dies die kochende See war, begriff er nicht.

Weiße Ungeheuer waren das, Gespenster, die einen Todesreigen um ihn tanzten, aus der Tiefe tauchten sie auf, von der Seite, von vorn, von hinten. Er schlug nach ihnen, weil er meinte, daß sie ihn verschlingen wollten. Aber sie wichen aus, und es waren auch zu viele Ungeheuer, die ihn umwirbelten.

Zu diesem Zeitpunkt war Uluch Ali, der Erhabene, der Herrscher über Leben und Tod in seinem Machtbereich, nahezu dabei, den Verstand zu verlieren.

Zuviel war in der letzten Zeit geschehen, eine Niederlage hatte sich an die andere gereiht – bis zur endgültigen Niederlage, deren letzter Fixpunkt die Gräting war, eine lächerliche, banale Holzkonstruktion, die sich nicht einmal beherrschen, steuern oder bewegen ließ.

Nein, etwas anderes steuerte und bewegte sie – die Elemente. Vielleicht auch das Kismet.

Das Kismet stieß die entschwundene Gräting zu dem halbirren Menschen, der in dem kochenden Hexenkessel herumgewirbelt wurde, zurück. Sie rammte seine rechte Schulter, und der Schmerz brachte ihn halbwegs zur Besinnung – zumindest zum Erkennen, was ihm da unerklärlicherweise dargeboten wurde.

Er griff zu und hielt sich fest.

So waren sie wieder vereint, die Gräting und der Erhabene.

Er schluchzte, weil er zu schwach war, sich hinaufzuziehen. Vielleicht schluchzte er auch, weil er das Gefühl hatte, alles hätte sich gegen ihn verschworen. Noch dazu war er halbblind, denn das Salz im Wasser zerbiß ihm die Augen. Darum wohl auch hatte er die weißen Schaumfetzen für Ungeheuer gehalten.

Aber das alles dachte er nicht. Das waren eher Schreckvisionen, Alpträume oder wirre Phantasien bis hin zu jenem Punkt, an dem seine Sinne abzustumpfen begannen, weil das Maß dessen, was sie noch bereit waren, aufzunehmen, überschritten war.

Nur seine Hände tasteten sich weiter zur Mitte der Gräting, und seine Finger verkrallten sich dort. So konnte er wenigstens den Kopf sinken lassen, daß er auf der Gräting lag und nicht ins Wasser hing, wo das Ungeheuer des Erstickens auf der Lauer lag.

Ja, in dieser Nacht starb Uluch Ali viele Tode und durchlebte noch mehr Höllen. Er erlitt alles das, was er anderen angetan hatte, und das war eine endlose Kolonne von Schandtaten, endlos deswegen, weil er sich bereits in jenem Alter befand, von dem oft behauptet wird, daß es jenseits von Gut und Böse läge. Bei ihm traf das nicht zu, denn das Diesseits des Bösen hatte er noch nie verlassen. Und gut war für ihn immer nur das gewesen, was ihm frommte.

In diesem Sinne war seine letzte Schandtat die brutale Inbesitznahme der Gräting gewesen. Die Opfer kümmerten ihn nicht. Opfer hatten ihn nie gekümmert, es sei denn als Objekte seiner Belustigung, wenn sie gevierteilt wurden oder ihre Köpfe über den Sand rollten.

Zu Einsichten würde er wohl nicht gelangen, falls er überlebte. Das Böse steckte zu tief in ihm drin. Er hatte nur das dumpfe Erkennen, daß er der erbarmungslosen See auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Obwohl er seine schlimmsten Untaten auf dieser See vollbracht hatte, war ihm ihre Gewalttätigkeit nie besonders ins Bewußtsein gerückt.

In dieser Nacht empfing er nur eine Ahnung davon.

Nach dem Schluchzen verlegte er sich aufs Wimmern, und es war gut so, daß auch einmal ein Uluch Ali wimmerte – genauso wie viele seiner Opfer, denen der Schmerz das Rückgrat gebrochen hatte.

Einmal in dieser Nacht der Schrekken, Ängste und Panik erlitt er noch einen Schock.

Das war, als etwas Großes, Dunkles zum Greifen nahe an ihm vorbeirauschte, so daß er sogar den Sog spürte, der die Gräting und damit ihn für unbestimmbare Augenblicke mitzog, aber dann wieder zurückstieß und die Gräting zum Kreiseln brachte.

Ein Schiff! Ein Schiff mit einem Mast!

Ein Riese von Mann stand an der Pinne, aber er schaute nicht zu ihm hin. Er hörte und sah nichts, obwohl Uluch Ali tobte und brüllte und winkte.

Und wie ein Spuk verschwand das Schiff wieder in der Dunkelheit, als habe es nie existiert. Wie aus dem Nichts war das Schiff aufgetaucht und hatte sich auch wieder im Nichts verloren – eine unheimliche Erscheinung.

Ein Geisterschiff!

„Allah!“ brüllte Uluch Ali. „Allah, rette mich!“

„Hat da nicht eben jemand geschrien?“ sagte Dan O’Flynn und spähte nach Steuerbord.

„Klar“, sagte Big Old Shane und grinste breit. „Das war ’ne Meerjungfer …“

Dan O’Flynn fuhr zu ihm herum. „Quatsch!“

„… ’ne Meerjungfer“, wiederholte Big Old Shane noch einmal, „die vom Wassermann in den Popo gekniffen wurde. Dein Alter hätte das sofort erkannt, Mister O’Flynn!“

„Mister Shane“, sagte Dan O’Flynn erbittert, „mein Alter hätte das anders formuliert, und zwar etwa in dem Sinne, daß bei einer Meerjungfer dort, wo sonst bei den Ladys der Popo zu sitzen pflegt, bereits der Fischschwanz beginnt. Also kann dort kein Popo im üblichen Sinne sein. Ist das klar?“

„Dann hat der Wassermann der Lady eben in den Busen gekniffen“, erklärte Big Old Shane ungerührt.

„Ha!“ sagte Dan O’Flynn. Und noch einmal: „Ha! Wassermänner, die Meerjungfern in den Busen kneifen! Du spinnst wohl? Ich hab jemanden schreien hören, und er hat um Hilfe geschrien. Meinst du vielleicht, ich hätte Kakerlaken im Ohr?“

„Das krabbelt, und du würdest sie rauspulen. Also mein ich’s nicht“, erwiderte Big Old Shane und spähte über die Schulter nach Steuerbord, wo nichts weiter als Gischt und Dunkelheit zu erkennen war. „Was soll’s? Wir lenzen vor Topp und Takel, und ich versuche, diesen verdammten Kahn mit dem Windchen laufen zu lassen. Bildest du dir vielleicht ein, ich leg Ruder, um diesen Zossen auf den Kopf zu stellen – nur weil du was gehört hast?“

„Du hast es nicht gehört?“

„Nein“, knurrte Big Old Shane.

„Und doch war da was!“

„Rutsch mir über die Rah und küß das Kielschwein, Mister O’Flynn!“

„Ist was?“ Vor ihnen tauchte Matt Davies auf.

„Hau dich in die Koje!“ fuhr ihn Old Shane an.

„Warum brüllt ihr euch denn so an?“ blaffte Mister Davies zurück. „Hier stimmt doch was nicht.“

„Ich hab nicht gebrüllt“, sagte Dan O’Flynn. „Aber im Wasser hat jemand um Hilfe geschrien.“

„Was du nicht sagst!“ Matt Davies kriegte tellergroße Augen. „Im Wasser?“

„Ja, an Steuerbord irgendwo.“

„Irgendwo!“ Big Old Shane war drauf und dran, sich die Haare zu raufen. „Irgendwo! Wo denn, verdammt noch mal? Irgendwo achtern jetzt! In dieser Scheißsee siehst du doch nichts! Soll die ganze Mannschaft hochgepurrt werden, bei diesen irren Westpfeifern die Segel setzen und dann nach Stimmchen suchen, die nur dieser idiotische Mister O’Flynn gehört hat?“

Dan O’Flynn rammte den rechten Fuß auf die Planken. „Aber es hat jemand um Hilfe geschrien!“

„Brüll mich nicht an!“

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?