Was würde Jesus tun

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Daniela Feichtinger

Markus Schlagnitweit

Was würde Jesus tun

Anregungen für politisches Handeln heute


Inhalts

Cover

Titel

Zum Beginn: Das christliche Kreuz verträgt keine Privatreligion

Salz der Erde oder Ist Christsein überflüssig?

Feinde lieben oder Wie man sich mit Wasser abtrocknet

Wir und die Anderen oder Angst verrät Schwäche

Feuer, nicht Frieden! oder Mut zum Konflikt

Wer von euch ohne Sünde ist … oder Hat Jesus Asyl gewährt?

Was ist gerecht? oder Die Ungerechtigkeit der Liebe

War Jesus Marxist? oder Ein Loblied auf die Freunderlwirtschaft

Besitzen oder besessen sein oder Die Ohnmacht der Reichen

Staatsräson und Widerstand oder Auch Mehrheiten können irren

Wer wagt, gewinnt oder Alles ist besser als Nichtstun

Ostern muss gelebt werden

Zum Schluss: Das Wichtigste in Kürze

Impressum

Anmerkungen



Zum Beginn: Das christliche Kreuz verträgt keine Privatreligion

Jesus starb am Kreuz. Es ist zum weltweit verbreiteten Symbol und Erkennungszeichen für das Christentum geworden – gleich welcher konfessionellen Prägung. Das Problem mit dem Kreuz ist, dass es – außer vielleicht in Klassenzimmern und sonstigen öffentlichen Räumen – kein Problem mehr ist. Stattdessen ein beliebtes Schmuck-Accessoire und Tattoo-Motiv, eine Landmarke zur Kennzeichnung von Berggipfeln, ein gefälliger Wandschmuck im trauten Heim oder ein mitunter sogar kunsthistorisch wertvolles Schauobjekt. Selbst im liturgischen Kontext vieler christlicher Kirchen findet es sich degradiert zum dekorativen Ornament: in zigfacher Ausfertigung auf Priesterstolen und Messgewändern, als Bortenstickerei auf Altartüchern und anderer liturgischer Wäsche. Die schiere Allgegenwart dieses Bildnisses bringt es mit sich, dass die eigentliche Realität und ursprüngliche Bedeutung des Dargestellten zur Nebensache verdampft. Bloßer Gewöhnungseffekt? Oder gar Verdrängungsstrategie?

Die letztgenannte Vermutung ist so unbegründet nicht, denn der Sache nach stellt das christliche Kreuz alles andere denn eine Harmlosigkeit und seine Verehrung als religiöses Symbol eigentlich eine Verrücktheit und Zumutung dar. Was da millionenfach an Wände und um Hälse gehängt, auf Stoffe gestickt und kunsthandwerklich geschönt wird, ist und bleibt zunächst: ein Schand- und Marterpfahl – ein Galgen! Das haben frühere christliche Generationen offenbar deutlicher empfunden.

Das Kreuz mit dem Kreuz

Beinahe das gesamte erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung über war nicht das Kreuz das gemeinsame Erkennungsmal der Christenheit, sondern etwa der Fisch, zuweilen auch der Weinstock oder der gute Hirte. Jahrhundertelang scheute man sich, das Kreuz überhaupt abzubilden, und die erste kunsthistorisch bekannte Darstellung des christlichen Kreuzes stammt dementsprechend nicht aus christlicher Hand – im Gegenteil: Es ist eine Karikatur aus der Zeit der Christenverfolgung zur Verspottung des christlichen Glaubens. Sie zeigt – in Stein geritzt – einen gekreuzigten Menschenkörper mit dem Kopf eines Esels! Davor stehen ein Mann und die Worte: „Alexamenos betet seinen Gott an.“ Der Christus-Glaube, verunglimpft als glatte Eselei!

Die ersten christlichen Kreuzesdarstellungen datieren erst aus dem 6. Jahrhundert; aber auch sie zeigen vorerst nur die beiden überkreuzten Balken – noch ohne „Crucifixus“, also ohne den Körper des Gekreuzigten. Oft sind diese frühen christlichen Kreuze auch reich verziert mit Edelsteinen und wertvollen Kunstschmiede-, Schnitz- oder Steinmetzarbeiten, sind also eher österliche Siegeszeichen ohne Erinnerung an das damit in Zusammenhang stehende Leid. Die ersten christlichen Darstellungen des gekreuzigten Christus finden sich lediglich auf den Rückseiten der damaligen Prunk-Kreuze und blieben das ganze Jahr über verdeckt. Nur am Karfreitag wurden diese Kreuze umgedreht und zeigten so den darauf Gekreuzigten – aber nicht zur Verehrung, sondern eher zur Emotionalisierung, vielleicht auch zur Provokation. Hoffentlich aber auch zu dem Zweck, dem zu dienen das christliche Kreuz bis heute nicht aufhören darf: zur – politisch! – gefährlichen Erinnerung.

Das Kreuz als politisches Fanal

Denn genau das gehört unauslöschlich zur Gründungsgeschichte des Christentums, und das Kreuz ist gleichsam sein Brandmal: Die Kreuzigung war im römischen Justizsystem zur Zeit Jesu die für politische Aufrührer vorgesehene Hinrichtungsart. Ans Kreuz geschlagen wurden Personen, die als politisch gefährlich eingestuft und genau deshalb zum Tod verurteilt worden waren. Dafür spricht auch ein wiederkehrendes Motiv in den biblischen Überlieferungen der Leidensgeschichte Jesu: Jesus, der König. Schon am Beginn seines Leidensweges spielt dieses Thema eine zentrale Rolle: Der Einzug Jesu in Jerusalem wird geschildert wie ein königlicher Huldigungszug. Einige Tage später, bei der Einvernahme des verhafteten Jesus durch den römischen Statthalter Pilatus, fragt ihn dieser: „Bist Du ein König?“ Und ganz am Ende der Passion Jesu taucht das Thema erneut auf: Pilatus ließ am Kreuz über Jesu Kopf eine Tafel anbringen mit der Aufschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Ob das nun als Verhöhnung Jesu bzw. der jüdischen Bevölkerung gedacht war oder einfach als Begründung des am Kreuz vollstreckten Todesurteils – es bestätigt nur einmal mehr: Die Titulierung als „König“ macht Jesus eindeutig zu einer politisch relevanten Persönlichkeit – sowohl für seine Anhänger, die vielfach sehr handfeste Erwartungen in sein messianisches Königtum setzten, als auch für seine Widersacher in den Reihen des religiösen, sozialen und politischen Establishments jener Zeit. Sie sahen sich bzw. ihre Machtpositionen durch Jesu Auftreten und seine Botschaft gefährdet und infrage gestellt. Vermutlich wurden auch viele seiner ursprünglichen Anhänger nur wenig später zu erbitterten Gegnern, da er die hochgesteckten Erwartungen in seine unmittelbare politische Wirkung enttäuschte. Sie forderten dann ebenfalls seinen Tod.

Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die damalige Supermacht Rom den Sandalen-bewehrten Wanderprediger aus Galiläa tatsächlich als ernste Gefahr fürchtete; aber sie verurteilte Jesus schließlich dennoch als politischen Verbrecher. Das zeigt: Jesu ganzes Wirken und Predigen wurde offenbar keineswegs als politisch harmlos bewertet, sondern als hochbrisante Botschaft, als Kritik an den herrschenden sozialen, religiösen und politischen Verhältnissen und zumindest dazu angetan, Unruhe zu stiften in der Bevölkerung bzw. den gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und im eingespielten Machtgefüge der herrschenden Eliten. Selbst in Diktaturen ohne rechtsstaatliche Standards würde man sonst ja kaum riskieren, ans Kreuz geschlagen zu werden, nur weil man erbaulich predigt, Kranke heilt und liebevoll mit seiner Mitwelt umgeht.

Wenn sich in der Christenheit nun aber – und das ist die Grundthese dieses Buches – das Symbol des Kreuzes so unumstritten durchgesetzt hat (nach außen als eindeutiges Erkennungsmal, nach innen als ständige Erinnerung), dann darf die besondere politische Bedeutung dieses ursprünglichen Hinrichtungswerkzeugs nicht einfach ausgeblendet werden. Dann müssen doch auch das überlieferte Reden und Handeln des gekreuzigten Jesus von seinen Anhängern und Anhängerinnen unter diesem Vorzeichen gelesen und gedeutet werden. Ja, ist dann seine Jüngerschaft bzw. Nachfolge um ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht selbst verpflichtet, politisch zu sein und zu wirken: also unbequem und kritisch gegen bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse und parteiisch für jene, denen diese Strukturen eine freie, ungehinderte Lebensentfaltung erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen?

Die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Umstände sind zwar heute ganz anders als zur Zeit Jesu. Manches aus den biblischen Überlieferungen zur Person Jesu ist nicht einfach eins zu eins auf das Leben heute übertrag- bzw. anwendbar. Deshalb kann es auch keine simplen und einfach funktionierenden Antworten im Hinblick auf heutige soziale Fragen und Problemstellungen geben. Aber bedeutet konsequente christliche Jüngerschaft dann nicht trotzdem und sogar gerade deshalb, selbst unbedingt und grundsätzlich politisch zu agieren im Geist der Evangelien und in unmittelbarer Nachfolge dessen, der als politischer Aufrührer sein Leben verlor (und nach der Überzeugung seiner Anhängerschaft vielmehr gewann)? Ja, wäre umgekehrt ein entpolitisiertes Christentum, also politische Enthaltsamkeit und Neutralität, nicht geradezu ein Verrat an seiner Gründergestalt?

 

Freilich, die Geschichte des Christentums weiß auch von ungeheuren politischen Verirrungen in seinem Namen. Sie berichtet uns auch von politischem Religionsmissbrauch, also politischer Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Religion zu machtpolitischen Zwecken. Dennoch ist und bleibt gerade diese Religion es ihrem Gründer schuldig, seine Botschaft und seinen Sendungsauftrag immer wieder neu auf seine aktuelle politische Relevanz hin „abzuklopfen“ und in diesem Geist neu zu formulieren – ganz im Sinne dessen, was der von den Nazis ermordete protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer für seine Zeit so markant formulierte und forderte: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen!“

Ermutigung

Das vorliegende Buch versucht – ohne Anspruch auf Systematik und Vollständigkeit – einen Dialog über die politische Relevanz der Botschaft Jesu für heutiges Christsein, exemplarisch festgemacht an ausgewählten Bibelstellen. Es möchte mehr als zum bloßen Nach-lesen anregen und ermutigen, das je eigene Christsein zu „politisieren“.

In allen Kapiteln werden zwei Stimmen in Form von kurzen Essays zu Wort kommen und miteinander in Dialog treten: die Stimme einer Bibelwissenschaftlerin, Jahrgang 1990, die erst durch das Studium zur Kirche gefunden hat und mittlerweile mit Kindern und Jugendlichen am Thema Religion arbeitet. Und die Stimme eines Priesters, Jahrgang 1962, der aufgrund biografischer Prägung von Jugend an Christsein immer als Auftrag zur Weltgestaltung verstanden hat. Der deshalb neben der Theologie auch Sozialwissenschaften studiert und neben der Seelsorge sein zweites berufliches Standbein in der Erforschung und Vermittlung der Katholischen Soziallehre gefunden hat. Diese beiden Stimmen bilden zwar keineswegs den gesamten Chor der Meinungen ab, bieten aber hoffentlich Harmonien und Kontraste, an denen sich das eigene Handeln orientieren und entflammen kann.

Das Titelbild zeigt ein Flüchtlingsboot – eine Steilvorlage für unser Buch. Denn die Tausenden von Lebensgeschichten, die in diesem Bild anklingen, sind mehr als eine „Nagelprobe“ für den christlichen Glauben. An ihnen wird das globale Ausmaß der Fragen deutlich, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Wir sind Teil komplexer Zusammenhänge und Wechselwirkungen, die Leid verursachen, für das wir uns kaum jemals persönlich verantworten müssen oder können. Für Christinnen und Christen hängt jedoch das Gelingen des eigenen Lebens maßgeblich daran, wie sie sich den Notleidenden dieser Welt gegenüber verhalten (vgl. Mt 25,31–46). Angesichts der Komplexität und der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen wir uns daher die Frage: Was würde Jesus tun? Wohin weist die Botschaft des Mannes aus Galiläa, der als politischer Aufwiegler starb, obwohl mit ihm doch eigentlich das Reich Gottes anbrach?


Salz der Erde
oder
Ist Christsein überflüssig?

Mt 5,13

Ihr seid das Salz der Erde.

Wenn das Salz seinen Geschmack verliert,

womit kann man es wieder salzig machen?

Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen

und von den Leuten zertreten zu werden. 1

MARKUS SCHLAGNITWEIT

Christsein ist lebensnotwendig für diese Welt

Es ist Aufgabe jeder Religion, ihr spezifisches Verhältnis zu Politik und öffentlichem Leben zu bestimmen. Der moderne Versuch, Religion zur Privatsache zu erklären und damit aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, muss sich als untauglich erweisen und scheitern, weil er ein zentrales Wesensmerkmal von Religion verkennt: Da Religion letztlich darauf abzielt, das Leben ihrer Gläubigen in irgendeiner Weise zu prägen, dieses Leben sich aber immer in sozialen Kontexten vollzieht, die den Raum des rein Privaten übersteigen, beeinflussen Religionen immer auch diese weiteren sozialen Kontexte und werden damit öffentlich. Allenfalls die freie Entscheidung, ob ein Mensch sich der einen oder anderen oder gar keiner Religion anschließt, ist dessen ureigene, persönliche Angelegenheit und zugleich ein fundamentales Menschenrecht. Diese religiöse Option selbst aber setzt jeden Menschen bereits in ein spezifisches Verhältnis zu seiner Mitwelt und zu deren Öffentlichkeit – und ist insofern auch politisch, weil ein Mensch ja gar nicht nichtpolitisch sein kann.

Auf der Suche nach einer markanten Kurzformel, welche imstande ist, das politische Wesen des Christseins auszudrücken, bin ich auf das Bildwort aus der jesuanischen Bergpredigt gestoßen: „Ihr seid das Salz der Erde.“ – Dieses Wort beschreibt zunächst selbst schon ein Beziehungsverhältnis; es heißt ja nicht einfach: „Ihr seid Salz“, sondern „Salz der Erde“.

Salz ist ein Gewürz – kein besonders raffiniertes und exotisches, sondern ein alltägliches, das wichtigste Grundgewürz. Gerade hierin liegt auch seine Besonderheit: Salz macht viele Speisen erst schmackhaft oder bringt den Eigengeschmack einer Speise oft erst zur Geltung. Wer – etwa aus gesundheitlichen Gründen – salzarm leben muss, weiß, wie schwierig Salz zu ersetzen ist. Und wer beim Kochen schon einmal das Salz vergisst, darf kaum mit dem Lob der Bekochten rechnen. Sogar Süßspeisen werden durch eine Prise Salz geschmacklich gehoben und sind dann jedenfalls mehr als nur süß. Tatsächlich gibt es praktisch keine Speise, bei der Salz – und sei es nur eine feine Prise – fehl am Platz ist. Jedenfalls hält das Bibelwort daran fest: „Ihr seid das Salz der Erde.“ „Salz der Erde sein“ meint also: Es immer und überall sein.

Heißt „immer und überall“ auch „ob gelegen oder ungelegen“? Ich möchte sagen: Geradezu zwangsläufig. Salz ist eben salzig und nicht neutral. Wenn Christsein „Salzsein“ heißt in dieser Welt, dann sollte es einerseits wohl Würze sein für diejenigen, die mit der Suppe, die sie löffeln, keine rechte Freude haben können: Für viele reicht ihre „Lebenssuppe“ ja gerade zum Dahinvegetieren und oft nicht einmal das; ihre Suppe ist bitter geworden vor Sorge oder schal vor Einsamkeit oder Eingespannt-Sein in eine Tretmühle, und die Einlage besteht aus würgenden Brocken der Angst. Vielen ist die Suppe auch fade geworden, wenn sie plötzlich merken, dass die glänzenden Fettaugen an der Oberfläche nur die Blasen täuschender Glücksverheißungen sind. Das Leben bietet vielen Menschen wenig, woran sie Geschmack und Freude finden können. Dafür zu sorgen, dass solches Leben schmackhafter wird, dass es gerne gelöffelt wird, könnte also „Salz der Erde sein“ bedeuten – und hat auf der anderen Seite einen unvermeidlichen Nebeneffekt: Es gibt immer auch Menschen und Gruppen, denen die bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse gerade so, wie sie sind, hervorragend passen, denen ihre „Lebenssuppe“ also herrlich mundet. Salz der Erde sein bedeutet auf dieser Seite dann aber unvermeidlich, bereits ausreichend und hervorragend gewürzte Suppen zu versalzen – nicht mutwillig: aus Missgunst, Bosheit oder moralinsaurer Besserwisserei! Aber das Salz, das die Geschmacksverhältnisse in dieser Welt zugunsten derjenigen verändert, deren Leben nach zu wenig schmeckt, wird für die Genießer ebendieser Welt unvermeidlich ein Zuviel an Salz bedeuten. Salz ist eben nie neutral, sondern salzig und deshalb parteiisch: Zugunsten jener, denen es (noch) nicht schmeckt und zulasten jener, denen es dessen ungeachtet allzu gut geht. Und wehe, das Salz wollte geschmacksneutral sein! Es taugte dann zu nichts mehr, würde verworfen und von den Leuten zertreten – so das Bibelwort.

Als Salz neutral sein zu wollen, ist aber nur die eine Gefahr, vor der das biblische Wort warnt. Der andere Graben droht dort, wo etwa christliche Fundamentalisten und Fanatiker sich nicht damit begnügen wollen, „nur“ Salz der Erde zu sein. In der Geschichte des Christentums taucht immer wieder der totalitäre Traum einer durch und durch „christlichen“ Gesellschafts- oder gar Weltordnung auf: christliche Wirtschaft und Geldordnung, christliche Gesellschaft, christliche Politik – und wie sie alle heißen mögen, diese verlockenden Visionen eines institutionalisierten Gottesreiches auf dieser Welt. Was dabei vergessen wird: Salz ist nur ein Gewürz, nicht die ganze Speise. Ein Zuviel an Salz macht alles ungenießbar und ist in letzter Konsequenz sogar mörderisch. Das Tote Meer heißt nicht zufällig so. Die christliche Wirtschafts-, Gesellschafts- und Weltordnung gibt es also nicht – allenfalls in den Köpfen von Ideologen. Aber solch totalitäre Ideologien sind immer tödlich – wie eine Handvoll reines Salz. Salz ist eben „nur“ Gewürz, kein Nahrungsmittel. Nirgends mutet Christus seiner Jüngerschaft zu, selbst Nahrung zu sein für diese Welt. Das Brot, die Nahrung und Speise für diese Welt zu sein, das kommt nach christlichem Glauben einem Anderen zu.

Dennoch: Salz ist auch lebensnotwendig. Der menschliche Organismus braucht es. Vielleicht ist dem Menschen der Moderne die Verfügbarkeit von Salz allzu selbstverständlich und sein Wert deshalb allzu gering geworden, weshalb es zuweilen auch in gesundheitsschädlichem Ausmaß Verwendung findet oder im Winter tonnenweise auf Straßen und Wege gekippt wird. In früheren Zeiten galt Salz dagegen als „weißes Gold“. Entlang der alten Salzstraßen brachte dieses wertvolle Gut den Städten, die damit Handel trieben, beträchtlichen Wohlstand. Der Handel mit Salz unterstand rigorosen gesetzlichen Regelungen und galt als besonderes Privileg. Und in den Wüstengebieten des Orients wird heute noch – uraltem, heiligem Brauch entsprechend – dem Gast zum Willkommen Brot und Salz gereicht: Ausdruck der Wertschätzung des Gastes und zugleich der Lebensnotwendigkeit des Salzes. Man muss sich diesen ursprünglichen Wert des Salzes vor Augen halten, will man das biblische Wort recht verstehen. Letztlich sagt es auch: Christsein ist lebensnotwendig für diese Welt. Sie braucht es. Ob sie sich dessen bewusst ist oder es sogar ablehnt, ist sekundär. Die entscheidende Frage, die zugleich Auftrag und Mahnung an alle Getauften ist, lautet: Wie würde diese Welt aussehen ohne Christentum – ohne das liebevolle Menschen- und Weltbild, ohne den positiven Gestaltungsauftrag und auch ohne die prophetische Kraft, das heißt ohne die kritische Würze der christlichen Botschaft?

Keine Frage: Der enorme Substanz- und Glaubwürdigkeitsverlust der christlichen Kirchen in den Gesellschaften der Moderne und Postmoderne ist nicht wegzuleugnen. Ich vermute, dass dieser Bedeutungsverlust u. a. mit der bewussten oder unbewussten Weigerung vieler Christen und Christinnen zu tun hat, wirklich Salz dieser Erde sein zu wollen. Vielen Menschen ist das christliche Glaubenszeugnis deshalb zu geschmacksneutral – also belanglos, manchen vielleicht sogar zu zuckersüß geworden. Dennoch: Das Salz der jesuanischen Botschaft und ihrer Gefolgsleute ist auch weiterhin lebensnotwendig – sofern es wirklich salzig ist und nur Gewürz.

DANIELA FEICHTINGER